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"Vater war von einer anderen Welt"

Clara Lowy über Widerstand in Nazideutschland, Wissenslücken in England und die neuen Kriege

Clara Lowy, emeritierte Professorin für Endokrinologie in London, mit ihren Söhnen vor dem Foto des Vaters in der Ausstellung »Weg mit Hitler – Schluss mit dem Krieg«, die derzeit im Rathaus Berlin-Lichtenberg zu sehen ist (Mo.-Fr. 8-18 Uhr).



ND: Ihr Vater war Mitglied der Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation, einer der größten Widerstandsgruppierungen in Nazideutschland. Was weiß man über diese in Großbritannien?

Lowy: Vom deutschen Widerstand weiß man bei uns so gut wie nichts. Allenfalls ist noch der Name Stauffenberg bekannt. Aber man hat keine Ahnung von der Bandbreite des Widerstandes, dass Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Orientierung in Opposition zu Hitler standen, Christen, Kommunisten, Sozialdemokraten der verzweifelte Versuch geeint hat, das Naziregime zu stürzen und, als der Krieg ausgebrochen war, ihn rasch zu beenden.

Vielleicht, weiß man es nicht, weil es letztlich doch zu wenige Deutsche waren?

Es stimmt, es war eine Minderheit unter den Deutschen, die den Widerstand wagten. Die Diktatur beherrschte die Gesellschaft total, drang bis in die Privatsphäre der Menschen. Es gehörte Mut dazu, sich aufzulehnen. Man konnte jederzeit denunziert werden.

Wie es Ihrem Vater widerfuhr.

Er ist vermutlich von einem Nachbarn verraten worden. Die Gefahr der Denunziation war allgegenwärtig in Hitlers Deutschland. Das wussten die Männer und Frauen des Widerstandes. Und das hat viele das Leben gekostet. Wir haben bis heute keine rechte Vorstellung davon, was es im damaligen Deutschland bedeutete, gegen das Regime zu arbeiten, womit man nicht nur sich selbst, sondern auch die Familie gefährdete.

Waren oder sind Sie gar noch Ihrem Vater gram, dass er sein Leben riskierte?

Nein. Ich bin stolz, dass mein Vater zu den wenigen Deutschen gehörte, die sich nicht von den Nazis verführen ließen, sich nicht an der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden beteiligten und die Eroberung und Unterwerfung anderer Völker als Verbrechen ablehnten, weil sie ihren humanistischen Werten und Idealen treu blieben.

Aber warum ist von jenen in Großbritannien so wenig bekannt?

Ich denke, das ist ein Relikt des Kalten Krieges, der einst gegen Hitler Verbündete zu Feinden machte. Der Umgang mit der Nazivergangenheit und die Erinnerung an den Widerstand unterlag politischen Doktrinen und Lagerdenken. Hinzu kam, dass für die Mehrheit der Briten alle Deutschen Nazis waren. Sie hatten doch auch ihr Land erobern wollen, haben ihre »Wunderwaffen«, V 1 und V 2, auf London abgefeuert, die Stadt in Trümmer gelegt und tausenden Menschen das Leben genommen.

Aber Ihre Mutter hätte nach ihrer Rückkehr in England Zeugnis von den anderen Deutschen ablegen können?

Brigid, meine Mutter, hat den Verlust meines Vaters nie überwunden. Sie sprach nicht über das, was geschehen ist. Und wir Kinder rührten das Thema auch nicht an. In der heutigen jungen Generation ist ein zunehmendes Interesse bemerkbar. Die Kinder wollen wissen, was geschehen ist und bemühen sich zu verstehen. Sie sind neugierig und fasziniert von den Geschichten der deutschen Widerstandskämpfer. Damit haben sie auch mich angesteckt. Ich selbst will nun mehr wissen über meinen Vater und seine Mitstreiter.

Ich freue mich, dass in Berlin ein Stolperstein an meinen Vater erinnert und er in einer Ausstellung gewürdigt wird. Ich wünschte mir, dass diese in Großbritannien gezeigt wird, damit meine Landsleute die mutigen deutschen Antinazis kennenlernen.

Sie waren neun Jahre alt, als Ihr Vater ermordet worden ist ...

Meine Schwester sogar erst fünf.

Haben Sie gewusst, wie Ihre Eltern zu den Nazis standen?

Ich weiß nur, dass sie BBC hörten, einen »Feindsender«. Sie taten dabei geheimnisvoll, das schien abenteuerlich. Meine Mutter hat mir nicht direkt verboten, etwas darüber den Spielgefährten gegenüber zu erwähnen. Ich tat es ohne Ermahnung nicht. Instinktiv.

Wie hat es Ihre Mutter, eine gebürtige Engländerin, nach Deutschland verschlagen?

Sie hat einen sehr interessanten familiären Hintergrund. Ihr Großvater war Charles Booth. Er hat Ende des 19. Jahrhunderts das Leben der Arbeiter in London erforschen lassen und diese Forschungen aus seiner eigenen Tasche finanziert. Er war Mitglied der Fabian Society. Meine Urgroßeltern und Großeltern mütterlicherseits waren wohlhabende liberale Leute. Meine Mutter war frei von Geldsorgen und konnte ihren Interessen und Neigungen nachgehen. Sie bereiste Frankreich, die Vereinigten Staaten, Polen – und Deutschland. In Berlin kreuzte sich ihr Weg mit dem meines Vaters. Sie verliebten sich und Brigid blieb in Deutschland. Sie ist in seine Partei, die KPD, eingetreten. Sie hasste die Nazis, fühlte und dachte wie Vater.

Was war sein Beitrag konkret für den Wderstand?

Nach Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 ist mein Vater arbeitslos geworden. Er hatte am Bauhaus Fotografie studiert und war für kommunistische Blätter wie die »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« tätig, die von den Nazis ja sofort verboten wurden. Er hat sich mit Gelegenheitsjobs rumgeschlagen, bis er bei der Bamag-Meguin eingestellt wurde, einem Betrieb, der als kriegswichtig galt. Deshalb wurde mein Vater auch nicht zur Wehrmacht eingezogen. Für den Widerstand war ein solcher Betrieb sehr attraktiv, da konnte man Rückschlüsse auf die Rüstungsproduktion und die materielle Lage ziehen. Außerdem hat mein Vater in unserer Wohnung Bernhard Bästlein versteckt, ein führender Kopf des Widerstandes, der schon mehrfach verhaftet und sogar schon zum Tode verurteilt war, der aber fliehen konnte. Das habe ich jedoch erst jetzt in Berlin erfahren.

Ihr Vater wurde Pfingsten 1944 verhaftet, am 7. September zum Tode verurteilt ...

... und am 20. November 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet. Meine Großmutter väterlicherseits, die auch Clara hieß, war eine sehr couragierte Frau; sie war vor 1933 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. Clara Jungmittag hat bei den Nazibehörden um die Urne ihres Sohnes gebeten, um ihn anständig beerdigen zu können. Es wurde ihr frech geantwortet: In dieser Angelegenheit müsse sie sich persönlich an Roland Freisler, den Vorsitzenden des »Volksgerichtshofes«, wenden. Generell werde Angehörigen von »Landesverrätern« deren Asche nicht ausgehändigt. Und man teilte ihr mit, sie müsse die Verbrennung des Sohnes selbst bezahlen. Sie sagte: »Das ist unser Sohn wert.«

Ihre Mutter ist nach dem Krieg nach London zurückgekehrt – weil sie nicht länger im Land der Mörder ihres Mannes leben wollte?

Vielleicht auch. Wir haben, wie gesagt, das Thema nicht angerührt. Sie wollte sicher, dass wir unbeschwert aufwachsen, nicht immer wieder mit der Vergangenheit konfrontiert werden und frei sind von dem, was geschehen ist. Wir konzentrierten uns auf die Schule, lernten neue Freunde kennen. Vater war von einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit.

Ihre Mutter trat aber der KP Großbritanniens bei ...

Sie war Mitglied bis 1956, bis zu den Ereignissen in Ungarn, der Niederschlagung des Aufstandes durch Sowjetpanzer – das hat sie emotional nicht mehr verkraftet.

Wie »verkraftet« es die Tochter eines strikten Kriegsgegners, dass heute sowohl ihr Vater- wie auch Mutterland Kriege führen?

Ich bin empört. Hunderttausende haben bei uns gegen den Irakkrieg protestiert, doch Tony Blair hat das einfach ignoriert. Er behauptete, Irak habe Massenvernichtsungswaffen. Die Kriege in Irak und Afghanistan haben schon fast genauso viele britische Soldaten das Leben gekostet, wie unser »kleiner Krieg« um die Falklandinseln 1982. Damals sind 500 Briten und 500 Argentinier getötet worden. Hinzu zählen muss man die vielen jungen Soldaten, die in diesem Krieg waren und danach Selbstmord begingen. Das Gleiche erleben wir jetzt: Junge Leute werden in einen verrückten Krieg geschickt und durchleiden ein Trauma, das ihr Leben zerstört.

Manchmal denke ich, die Menschheit hat nichts gelernt. Wir sind verdammt, von Generation zu Generation die gleichen Leiderfahrungen zu machen.

Sind Sie eine Pessimistin?

Nein, ich bin Realistin.

Interview: Karlen Vesper

* Aus: Neues Deutschland, 30. Januar 2010


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