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Noch vier Jahre Merkel in Deutschland

Die Bundestagswahlen 2009 - aus russischer Sicht

Von Andrej Fedjaschin *

Anscheinend wollen die Deutschen jetzt erfahren, wer Kanzlerin Angela Merkel in Wirklichkeit ist.

Am Tag nach ihrem Wahlsieg vom Sonntag gingen die Kanzlerin und ihre bayerischen Partner von der CSU an die Bildung einer Koalition mit der FDP.

Die Liberalen sind überzeugte Anhänger des Markts, der freien Wirtschaft und des Unternehmertums. Laut Vorschätzungen werden die CDU/CSU und die FDP im Bundestag mit seinen 598 Sitzen eine komfortable Mehrheit mit 324 Sitzen haben (229 entfallen auf die CDU/CSU und 95 auf die FDP).

Die Sozialdemokraten (die SPD ist übrigens die älteste und größte europäische sozialistische Partei) waren noch niemals so abgestürzt, dass selbst ihre Erholung bis zur nächsten Bundestagswahl in vier Jahren Zweifel auslöst.

Es müsste eigentlich für Verwunderung sorgen, warum die Deutschen in Krisenzeiten Parteien vorgezogen haben, die sich für den freien Kapitalismus einsetzen, der zur jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise geführt hat. Es lohnt sich aber, sich genauer anzusehen, was Merkel in Deutschland machte.

Sie regierte das Land wie hinter einer spanischen Wand, wo sie sozialistische Rezepte mit konservativen vermischte, so dass sie im Ergebnis sowohl den Sozialdemokraten als auch den Marktanhängern passten. In der Wirtschaft stand Merkel viel weiter links als ihr Vorgänger im Bundeskanzleramt, der Sozialdemokrat Gerhard Schröder.

Sie hat die Christdemokraten soweit nach links verschoben, dass sich die Partei in ein Bollwerk des liberalen Konservatismus (beziehungsweise eines konservativen Sozialismus) umwandelt hat und in die Mitte des politischen Spektrums gerückt ist. In Reihen der CSU wurde Merkel allerdings wegen dieser "Verzerrung der Grenzen" kritisiert. Das beunruhigte sie jedoch nicht allzusehr.

Wenn es (wie in der jetzigen Krise) um die Geschicke sowohl des Landes als auch - vielleicht ist das sogar die Hauptsache - um die eigene politische Zukunft geht, haben alle Politiker die Gewohnheit, ihr "ideologisches Gewissen" fallen zu lassen.

Merkel ist da keine Ausnahme. Sie bremste immer das ab, was Schröder hatte tun wollen: Anstatt die Sozialausgaben zu verringern, erhöhte sie die Renten, subventionierte die Unternehmer, um Massenentlassungen vorzubeugen, und verkündete protektionistische Maßnahmen zur Rettung des Autoindustrie in Deutschland.

Und siehe da: Merkel, die (noch in der DDR) in Ost- und nach der Vereinigung in Westdeutschland gelebt hat, versteht besser als ihre Mitstreiter und Gegner, dass zumindest in dieser Phase der Durchschnittsdeutsche in einem liberalen oder einem sozialdemokratischen Konservatismus gefangen ist und kein Risiko wagt. Er fühlt, dass es ihm gar nicht so schlecht geht, wie es hätte sein können, und möchte dieses "nicht schlecht" bewahren. Es gelang ihr, die Neigung der Bürger zum Status quo einzufangen.

Merkel führte eine jedes Radikalismus bare Politik durch. Wie der deutsche Politologe Gerd Langguth treffend sagte, besteht Merkels Philosophie aus der langsamen Zunahme und den kleinen Schritten. Im Grunde ließ sie die Deutschen unpopuläre Maßnahmen häppchenweise schlucken. Erst später wurden diese kleinen Stücke etwas Großes und Radikales. Doch dabei schienen alle zufrieden zu sein.

Die vergangenen Wahlen waren im Grunde keine. Der gesamte Wahlkampf war dermaßen fade und langweilig, dass die Wahlen eher wie ein Volksentscheid, eine Abstimmung über das Vertrauensvotum für die Amtsinhaberin wirkten. Sie bekam erneut das Vertrauen: Die CDU/CSU sammelte 34 Prozent der Stimmen. Das ist etwas weniger als bei den Wahlen von 2005, doch schließlich befindet sich Deutschland mitten in der Krise, da kann von Rekorden überhaupt keine Rede sein.

Die SPD bekam nur etwa 23 Prozent: Schlechter stand es um der Partei in ihrer 60-jährigen Geschichte nicht. In Hochstimmung sind die Freien Demokraten, die einen Rekord mit beinahe 15 Prozent der Stimmen erzielt haben. Jetzt könnte ihr Vorsitzender Guido Westerwelle, der nicht verhehlt, dass er homosexuell ist, Außenminister werden.

Die außenpolitischen Positionen Deutschlands werden sich mit der Rechts-Mitte-Regierungskoalition unter Merkel sicherlich festigen. Dies sowohl in Europa als auch in den USA. Immerhin gibt es in der Alten Welt heute keine Spitzenpolitiker, die sich daheim einer solchen Popularität rühmen könnten wie Merkel.

Sie ist jetzt die populärste Bewohnerin des Kanzleramts seit den Zeiten des sehr beliebten Konrad Adenauer von Anfang der 1960er Jahre. Und das will etwas sagen. Diese Popularität verleiht Merkel Sicherheit im Umgang mit jedem europäischen Partner und mit Washington.

Gegenüber Moskau wird Berlin seine "neue Ostpolitik" weiter verfolgen, die in zwei wirtschaftliche Richtungen geht. Deutschland hofft, in den nächsten Jahren China den Titel des Exportweltmeisters streitig zu machen. Das soll vor allem durch die Nutzung des großen russischen Absatzmarktes geschehen. Die andere Richtung der neuen Ostpolitik ist mit Öl und Gas verbunden.

Die Deutschen sind bereit, unsere gegenseitige Energieabhängigkeit zu festigen. Sie verstehen sehr wohl, dass Gasverkauf und -kauf schließlich zwei Seiten einer Medaille sind und dass der Lieferant genauso vom Abnehmer abhängt wie auch umgekehrt. Das bedeutet, dass es unmöglich sein wird, Berlin aus unerforschbaren politischen Gründen oder wegen der Kränkungen der "kleinen Ostnachbarn" gegenüber Moskau vom Nord-Stream-Projekt abzubringen.

Vor den Wahlen vom 27. September herrschte die Meinung vor, dass die Sozialdemokraten als ehemalige Partner von Merkels Christdemokraten aus der Großen Koalition viele ihrer Reformen gebremst hätten: die Steuerkürzung, einen freieren Arbeitsmarkt, die Eindämmung des auswuchernden Systems der Sozial- und Rentenversorgung, schließlich die Kontrolle über die Staatsausgaben.

Doch waren das eher Ausflüchte während der Krise. Jetzt wird Merkel das tun müssen, was sie bislang aufgeschoben hat. Darauf werden auch ihre neuen Koalitionspartner aus den liberalen Reihen bestehen. Vielleicht werden die Deutschen erst jetzt erfahren, wer ihre "Angie" ist.

Auf die Kanzlerin warten zahlreiche Probleme. Das erste befindet sich natürlich in der Wirtschaft. Nach Ansicht deutscher Wirtschaftsexperten könnte ganz Deutschland schon Anfang des kommenden Jahres ein Wirtschaftsdesaster erwarten. Bis zum Frühjahr werden die Gelder aus dem milliardenschweren Paket für die Wirtschaftsstimulierung, mit denen die Schließung von hunderten Industriebetrieben und die Entlassung von hunderttausenden Arbeitern und Angestellten vermieden werden konnten, aufgebraucht sein. Es gibt jedoch die Hoffnung, dass eine gewisse Steuerkürzung (die Freien Demokraten wollen die Obergrenze der Einkommensteuer von 50 auf 35 Prozent senken) sowohl die Nachfrage als auch die Wirtschaft stimulieren helfen wird.

Sehr viel wird natürlich von der politischen Kunst Angela Merkels abhängen, auf Kompromisse einzugehen und zwischen den "Flügeln der eigenen Partei" zu lavieren. Darin hat sich Merkel als wahre Meisterin gezeigt. Immerhin ist es in Deutschland nicht gerade einfach, so eine Karriere hinzulegen: Eine in der DDR aufgewachsene Deutsche wird in der Geschichte Deutschlands die erste Kanzlerin. Zuvor war die geschiedene Tochter eines protestantischen Pfarrers an die Spitze der überwiegend katholischen CDU/CSU-Koalition getreten.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. September 2009; http://de.rian.ru



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