Steinbach bekommt ihren Gedenktag
5. August soll künftig an Vertreibung erinnern
Von Velten Schäfer *
Noch vor einem halben Jahr war Vertriebenen-Chefin Steinbach nach revanchistischen Ausfällen in der Defensive – doch nun scheint sie wieder obenauf in der Union.
Im Sommer 2010 lag die CDU im Streit über die Frage, ob Deutschland einen Vertreibungsgedenktag brauche. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) etwa war dagegen. Inzwischen haben sich die Rechten durchgesetzt: Erika Steinbach wird ihren Gedenktag wohl bekommen.
Gestern verabschiedete der Bundestag einen schwarz-gelben
Antrag, nach dem die Regierung den 5. August – an dem 1950 die sogenannte Charta der Heimatvertriebenen beschlossen wurde – als künftigen Gedenktag »prüfen« soll. Laut CDU-General Hermann Gröhe »die angemessene Würdigung des millionenfachen unsäglichen Leids der Vertriebenen«.
Aus der Opposition kam dagegen scharfe Kritik: Bundestags-Vize Wolfgang Thierse (SPD) merkte an, die Charta – die auf Rache und Vergeltung »verzichtet« – lese sich, als habe es Krieg und Holocaust nie gegeben. Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland sprach von einem »falschen Signal«. Generalsekretär Stephan Kramer warnte vor der »katastrophalen Außenwirkung« eines solchen Gedenktages: »Man könnte auf die Idee kommen, das revanchistisch zu nennen.« Grünen-Chefin Claudia Roth forderte die Koalition auf, sich so schnell wie möglich von dem »unsinnigen Vorhaben« wieder zu verabschieden. »Die Charta, mit verfasst und unterzeichnet von SS- und SA-Funktionären sowie einem Beteiligten an dem Holocaust der ungarischen Juden, kann niemals – wie im Antrag der Koalition – als Gründungsdokument der Bundesrepublik bezeichnet werden«, so für die Linksfraktion Lucretia Jochimsen.
BdV-Chefin Erika Steinbach kann den Beschluss als Erfolg verbuchen. Die Defensive, in die die Rechtsauslegerin vergangenes Jahr kurzeitig geraten war, nachdem sie Polen eine Mitschuld am 2. Weltkrieg gegeben hatte – »Polen hat zuerst mobilisiert« – scheint überwunden. Auch die Auseinandersetzung über die beiden Hobbyhistoriker mit rechtsradikalen Ansichten, die künftig herausgehoben im »Zentrum gegen Vertreibungen« mitwirken dürfen, scheint aus ihrer Sicht erst einmal ausgestanden.
Wenn sich Steinbach nach der jetzigen Entscheidung des Bundestags in ihren Ansichten nicht sogar noch bestätigt sieht.
* Aus: Neues Deutschland, 11. Februar 2011
Dokumentiert: Zwei Reden in der Debatte
Aus der Debatte über den Antrag der Regierungskoalition am 10. Februar 2011 im Deutschen Bundestag dokumentieren wir im Folgenden die reden von Luc Jochimsen (Die Linke) und von Wolfgang Thierse (SPD).
Dr. Lukrezia Jochimsen (Die LINKE):
Der Antrag der Koalitionsfraktionen „60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden“ relativiert auf unglaubliche und empörende Art und Weise deutsche Schuld und verkehrt Ursachen und Folgen. Damit wird das Ansehen dieses Hohen Hauses beschädigt.
Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblendung von historischen Tatsachen und so viel Verdrehung wie in diesem Antrag zur Charta der Heimatvertriebenen kommt aus meiner Sicht selten zusammen.
(Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Und das von Ihnen! Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Sagt die Linke!)
Das habe ich am 16. Dezember vorigen Jahres hier an dieser Stelle gesagt. Dem habe ich heute nichts hinzuzufügen,
(Beifall bei der LINKEN)
außer dem Bedauern, dass es der gesamten Opposition seitdem nicht gelungen ist, die Koalitionsfraktionen davon zu überzeugen, diesen Antrag zurückzunehmen. Keine Analyse, kein Appell, keine Kritik von Fachleuten hat irgendetwas genutzt. Das ist sehr zu bedauern.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Eine ordentliche Diskussion kann doch geführt werden!)
So entsteht mit der heutigen Abstimmung über den Antrag, den Sie mit Ihrer Mehrheit kalt durchsetzen werden, großer Schaden für unser Parlament und seine Wirkung nach innen wie nach außen. Ja, Sie schädigen mit diesem Antrag das Ansehen dieses Hohen Hauses. Davon bin ich fest überzeugt.
(Beifall bei der LINKEN)
Allein mit Ihrem Ansinnen das vertreten Sie in Ihrem Antrag , dass sich anlässlich des 60. Jahrestages der Verabschiedung der Charta der Heimatvertriebenen der Deutsche Bundestag zu eigen machen soll, diese Charta als Gründungsdokument der Bundesrepublik zu betrachten, schädigen Sie das Ansehen des Parlaments. Die Fraktion Die Linke wird nie und nimmer in diesem Dokument ein Gründungsdokument der Bundesrepublik sehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie schädigen das Ansehen des Parlaments auch mit Ihrem Ansinnen, den 5. August zum bundesweiten Gedenktag zu erheben, den Tag also, an dem die Charta vor 60 Jahren veröffentlicht wurde. Mitverfasser und Unterzeichner dieses Dokuments waren Rudolf Wagner, SS-Obersturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Paris, Belgrad und der besetzten Sowjetunion, SS-Sturmbannführer von Witzleben, Franz Hamm, Fraktionsführer des Blocks der deutschen NS-Reichstagsmitglieder Ungarns, Angehöriger der deutschen Volksgruppenführung, die im Sommer 1944 die Vernichtungsaktion an über 400 000 ungarischen Juden unterstützte und deren Eigentum mit verteilte, Alfred Gille, SA-Scharführer, Gebietskommissar in der Ukraine, SS-Hauptsturmführer Waldemar Kraft, Rudolf Lodgman von Auen, Mitbegründer der radikal antisemitischen Deutschen Nationalpartei in der CSR, der 1960 einen flammenden Protest gegen den Menschenraub an Adolf Eichmann auf argentinischem Boden und den Prozess in Israel veröffentlichte,
(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Unglaublich! Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Tolle Vorbilder!)
Axel de Fries, Umsiedlerfunktionär in Westpolen, Kreislandwirt und Sonderführer bei der Partisanenbekämpfung in Weißrussland.
Wissen Sie das nicht, oder lässt Sie das tatsächlich völlig gleichgültig, dass das die Mitverfasser und Unterzeichner dieses Dokuments sind, zu dem Sie von uns im Jahr 2011 die Zustimmung dieses demokratischen Parlaments verlangen? Lässt Sie das völlig gleichgültig, oder sind Sie einfach unwissend?
In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieses Parlament der Charta und ihren Verfassern Zustimmung im Namen der Aussöhnung ausspricht. Das nenne ich einen Skandal.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
„Es kann keine Aussöhnung geben, die auf einem ‚Verzicht auf Rache‘ beruht. Das ist völlig undenkbar.“ Dies schrieb gestern Professor Krzysztof Ruchniewicz von der Universität Wroclaw Vizepräsident Thierse hat ihn vorhin schon zitiert in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau.
Am Ende der Charta heißt es:
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.
Auch das ist schon zitiert worden. Hier wird die ganze Verkehrung der Geschichte und der Beginn einer gigantischen deutschen Opferzählung nach 1945 deutlich: Nicht mehr die 25 Millionen toten Sowjetbürger, nicht die 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, nein, die Heimatvertriebenen sind die vom „Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“.
(Patrick Döring (FDP): Verzerrte Darstellung!)
Eine solche Form der Verkehrung von historischer Dimension, der Relativierung deutscher Schuld und der Verkehrung von Ursachen und Folgen war und ist typisch für die Geschichte der Vertriebenenverbände. Dass Union und FDP eine solche Geschichtssicht noch heute als verbindlich vom Bundestag preisen lassen wollen, ist ungeheuerlich.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Eltern, 1900 und 1901 geboren, haben Hitler nicht gewählt, waren nie Parteimitglieder, waren nicht dabei, als die deutschen Massenverbrechen an Juden, Polen, Tschechen, Slowaken und Russen verübt wurden. Aber in einer Bombennacht 1943 in Düsseldorf verloren sie ihr ganzes Hab und Gut. Meine Mutter und wir Kinder erlitten schwere Phosphorverbrennungen. Den Rest des Krieges erlebten wir in einer Notwohnung in Frankfurt: frierend, hungernd, in Todesangst. Nie wäre meinen Eltern in den Sinn gekommen, sie hätten ein Recht auf Rache und Vergeltung, auf das sie großmütig verzichten könnten 1945 nicht, 1950 nicht, zu keiner Zeit.
Wenn Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, an Aussöhnung wirklich gelegen ist, an Aussöhnung der Deutschen mit den Deutschen, an Aussöhnung mit all den Nachbarvölkern, dann ziehen Sie diesen Antrag zurück. Es ist noch nicht zu spät.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht sicher, wie Günter Grass auf seine Inanspruchnahme durch Sie reagieren würde. Ich fürchte, eher entsetzt.
(Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Aber
sachlich ist es richtig! - Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Das können Sie alles nachlesen!)
Kollege Strobl, darum geht es auch gar nicht.
(Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Doch!)
Es geht nicht darum, ob die Geschichte von Flucht und Vertreibung
geschrieben werden muss und wir uns immer wieder neu mit ihr zu
beschäftigen haben. Das ist unbestritten. Es geht um die Art und Weise, wie man das tut.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
Es bleibt mir nach wie vor absolut unverständlich, weshalb Sie sich
ausgerechnet auf die Charta der deutschen Heimatvertriebenen berufen,
wenn Sie doch - so steht es in Ihrem Antrag - Aussöhnung wollen. Die
Charta ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein zeitgenössisches
Dokument, eine Stimme aus dem Jahr 1950. Vertriebene hatten viel Leid
erfahren, große Not erduldet und konnten nach alldem noch nicht in ihrer
neuen, kalten Heimat angekommen sein.
(Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Das sieht
Ihr Bundesvorsitzender anders! Als Ministerpräsident
hat er das anders gesehen!)
So kann man diesen Text lesen. Das ist die Emotion, die ihn trägt. Die
Charta mag zur Integration von Vertriebenen beigetragen haben, auch durch die Absage an Rachegefühle und Vergeltungsverlangen.
Gleichwohl, Kollege Strobl, haben Historiker mehrfach darauf
hingewiesen - ich finde: sehr treffend -, dass man nur auf etwas wirklich verzichten kann, worauf man einen Anspruch hat.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
Die Deutschen hatten aber nach dem von ihnen begonnenen Krieg und den
von ihnen begangenen Verbrechen keinerlei Anspruch, keinerlei Recht auf
Rache.
(Dr. Daniel Volk (FDP): Das ist doch unbestritten!)
Darin sind wir uns doch hoffentlich einig.
(Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Ja! Hoffentlich! -
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Fragen Sie mal
Ihren Bundesvorsitzenden!)
Es finden sich zahlreiche Aussagen in der Charta, die heute, denke
ich, als falsch erkannt sind und die niemand mehr ernsthaft vertreten kann, so zum Beispiel diese - ich zitiere -:
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am
Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid
dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.
(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Unglaublich!)
Welch fatale moralische Anmaßung - als hätte es den Holocaust und zig
Millionen Tote des Krieges nicht gegeben.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lars Lindemann (FDP): Das hat niemand gesagt!)
Heute haben wir die Charta mit dem Wissen und dem Abstand von
60 Jahren zu beurteilen. Sich heute mit vollem Ernst auf diese Charta zu
berufen, sie gewissermaßen zu kanonisieren, anstatt sie historisch
einzuordnen und sie vielmehr wie eine Monstranz vor sich herzutragen, wie Sie es tun,
(Klaus Brähmig (CDU/CSU): Das macht doch gar
keiner, Herr Thierse!)
das ist weder moralisch noch politisch legitim.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzt einen ehrlichen
Dialog mit denjenigen voraus, mit denen man sich versöhnen will.
(Dr. Daniel Volk (FDP): Ja!)
Wir Deutschen können dabei unseren Nachbarn, insbesondere unseren
östlichen Nachbarn, nichts weniger als zutiefst dankbar sein, dass sie sich einem Dialog nicht verschlossen haben, mit allen Schwierigkeiten, die das bedeutete.
Wir müssen uns vor Augen halten: Noch vor 70 Jahren wurden
Polen - nur als ein Beispiel - als rassisch minderwertig kategorisiert; sie sollten versklavt und entrechtet werden. Die Polen hatten einen längeren Weg auf uns zuzugehen als wir auf sie. Da erscheint es wie ein Hohn, wenn Sie in Ihrem Antrag von einer heute noch herrschenden Stigmatisierung der Opfer von Flucht und Vertreibung sowie deren Nachkommen in Deutschland sprechen. Ich sage Ihnen: Das Problem ist vielmehr die heutige Selbststigmatisierung mancher Vertriebenenpolitiker durch zwiespältige Äußerungen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
Um Ihrem Antrag den Charakter von Klientelpolitik zu nehmen, geben
Sie sich europäisch. Sie wollen sich, so heißt es, im Geiste der Charta weiter für ein geeintes Europa einsetzen. Gleichzeitig treffen Sie aber unhaltbare Aussagen wie diese - ich zitiere wieder aus Ihrem Antrag -:
Die Deutschen nehmen Vertreibungen ... mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren.
Dieser Satz verkürzt und entstellt das historische Geschehen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
Richtig ist, dass die Deutschen selbst in ihrer jüngeren Geschichte
massiv andere Völker vertrieben und unendliches Leid über sie gebracht
haben und danach auch selbst von Vertreibung betroffen waren. Geschichte
ist immer konkret. Ohne die Ursachen von Vertreibung für jeden Fall zu
benennen und korrekt einzuordnen, kann es auch kein Verständnis für die
Umstände und Folgen geben, und es kann ohne diese Einsicht auch keine
Versöhnung geben. Dies nicht formuliert zu haben, ist das Grundproblem
Ihres Antrags.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Genauso wie Sie historische Entwicklungen ignorieren, versäumen
Sie es, das schon Erreichte zu würdigen. Also werde ich dies nachholen. Zu nennen sind da zunächst die enormen Integrationsleistungen der
Bundesrepublik Deutschland - sie gehören zu ihrer Erfolgsgeschichte - und die großen Anstrengungen der Vertriebenen selbst, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden. Ihre Verbundenheit mit den Orten und Regionen ihrer Herkunft bestand weiter.
Unvergessen ist - ich nenne nur ein Beispiel -: Als 1981 in Polen der
Kriegszustand verhängt wurde, unterstützten viele, auch Vertriebene, aktiv die Gewerkschaft Solidarność.
(Arnold Vaatz (CDU/CSU): Im Gegensatz zur SPD! - Klaus Brähmig (CDU/CSU): Genau! Die haben das damals nicht gemacht!)
Dass die Realität in der DDR anders aussah, weiß ich aus eigener
Erfahrung. Offiziell gab es gar keine Vertriebenen und Flüchtlinge, sondern nur Umsiedler. Trauernde Erinnerung war nur im Familienkreis und in der Kirchengemeinde möglich. Öffentlich hatten wir zu schweigen. Umso größer ist heute meine Freude über die Möglichkeiten des Austausches und der Begegnung, die uns die Einigung Europas eröffnet hat.
Unschätzbar wertvoll ist der Beitrag der vielen Einzelnen und der
vielen Initiativen ehemals Vertriebener, die persönlich und praktisch, ohne Erwartung einer öffentlichen Anerkennung freundschaftliche Kontakte in die Nachbarländer pflegen: Wie viele Besuche hat es gegeben? Wie viel auch finanzielle Unterstützung? Wie viele Partnerschaften und Freundschaften sind entstanden? Wie viele Spenden zur Förderung von Restaurierungen und Renovierungen von Kirchen und Denkmälern sind geflossen? Das alles sind wichtige Beiträge zur Verständigung und zur Versöhnung. Sie sind Anlass für ein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit.
Gegenüber diesen wirklichen Fortschritten in der Begegnung, die in
den letzten Jahrzehnten eine großartige Entwicklung genommen haben,
erweist sich Ihr Antrag schlicht als Rückschritt. Das gilt auch für einige der Forderungen in Ihrem Antrag; Kollege Strobl, ich wiederhole mich. So muss die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht, wie es in Ihrem Antrag heißt, vorangebracht werden. Sie existiert bereits. Es gibt konzeptionelle Eckpunkte für die Dauerausstellung, und die Stiftung erhält jährlich 2,5 Millionen Euro. Sie arbeitet jetzt.
Von einem Nachholbedarf bei der Forschung - Sie haben davon
gesprochen - kann ebenfalls nicht die Rede sein. Die Bundesregierung hat
ein akademisches Förderprogramm zur Erhaltung und Auswertung deutscher
Kultur und Geschichte im östlichen Europa aufgelegt. Bis 2014 sollen für die Forschungsarbeit 3,2 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Wollen Sie Ihrem eigenen Programm nicht erst einmal eine Chance geben? Trauen Sie Herrn Staatsminister Neumann die Umsetzung dieses Programms nicht zu?
Dass sich der 5. August, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht als
bundesweiter Gedenktag für die Opfer von Vertreibung eignet, ist, wenn ich es richtig gehört habe, selbst in den Reihen der Koalition kein Geheimnis. Sowohl Minister Thomas de Maizière als auch Bundestagspräsident Norbert Lammert haben sich gegen diesen Gedenktag ausgesprochen. Die beiden haben recht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wie das Echo, meine Damen und Herren von der Koalition, aus Polen
ist, will ich Ihnen mit ein paar Zitaten aus einem gestern erschienenen
Kommentar von Professor Dr. Krzysztof Ruchniewicz - er ist Mitglied des
Wissenschaftlichen Beraterkreises unserer Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ - belegen:
Für Polen, Tschechen, Slowaken, Russen und
Angehörige anderer Nationen, die von den Deutschen
im Zweiten Weltkrieg überfallen, vertrieben und
ermordet wurden, stellt das Dokument - die Charta - keine Grundlage für eine Versöhnung dar.
Weiter:
Es überrascht, dass Abgeordnete des Deutschen
Bundestages die Charta noch 60 Jahre nach ihrer
Verkündung so einseitig und reflexionslos betrachten
können.
Weiter:
Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ... ist
kein Versöhnungsdokument wie beispielsweise die
1965 erschienene Ostdenkschrift der Evangelischen
Kirche in Deutschland und der im gleichen Jahr
erschienene polnische Bischofsbrief an ihre deutschen
Amtsbrüder mit dem berühmten Satz: „Wir gewähren
Vergebung und bitten um Vergebung.“
Dann schließt er: Dieser Antrag sei geschichtspolitisch das völlig falsche Signal.
Sie sollten das ernst nehmen und nicht beiseite schieben. Professor
Ruchniewicz ist ernst zu nehmen. Er ist ein Verbündeter in der gemeinsamen europäischen Anstrengung der Erinnerungen an Flucht und Vertreibung und die Leiden und Opfer dieses Unrechts.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Die Raison d'Être
der Bundesrepublik Deutschland war und bleibt es, den demokratischen
Staat, unseren demokratischen Staat, seine politische Praxis und seine
politische Kultur als Konsequenz aus der Nazivergangenheit zu begreifen.
Das ist unser gemeinsames politisches Fundament, unser gemeinsames
moralisches Fundament. Auch deshalb haben wir den 27. Januar als Tag
des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gewählt.
Dies ernst zu nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt: Unsere,
der Deutschen Sensibilität für die Leiden und Opfer von Vertreibung und
Flucht resultiert nicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche selbst Opfer gewesen sind, sondern daraus, dass Deutsche andere zu Opfern gemacht haben. Daraus, aus dieser doppelten bitteren Erfahrung, resultiert unsere dauerhafte moralische Verpflichtung. Genau diesen, den
entscheidenden Punkt verfehlt Ihr Antrag. Deshalb ist er falsch und
überflüssig, und deshalb lehnen wir ihn ab.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN
Quelle: Vorläufiges Protokoll des Stenografischen Deinstes des Bundestags; 90. Sitzung, Donnerstag, 10.02.2011
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