Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Im Dunst von Nebelkerzen

Kurt Finker über das erste westdeutsche Nachkriegsjahrzehnt

Von Manfred Weißbecker *

Wer pausenlos sich selbst feiert und Jubeljahre begeht, wer lediglich das eigene Geschichtsbild erinnert und nichts anderes als satte Selbsbestätigung sucht, der muss wohl oder übel ausklammern, was dazu nicht passt. Besonders krass gerät die Diskrepanz, wenn von den ersten zehn Jahren Bundesrepublik gesprochen wird und diese unbesehen einer angeblich rundum demokratischen Erfolgsgeschichte zugeordnet werden. Hingegen lässt sich nach der Lektüre des Bandes, den der bekannte Potsdamer Historiker Kurt Finker vorgelegt hat, die schwierige Suche nach neuen Pfaden deutscher Existenz in der Nachkriegsgeschichte und der Frühgeschichte der Bundesrepublik besser erkennen.

Die Lage sei - wie der Herausgeber Friedrich-Martin Balzer gewiss nicht ohne einen Bezug zur gegenwärtigen Krisensituation feststellt - damals für die Herrschenden so heikel gewesen, dass »nur ein gigantisches Ablenkungs- und Verfälschungsmanöver das Ansehen der bürgerlichen Machteliten in Wirtschaft, Militär, Bürokratie, Justiz und den Kirchen in Westdeutschland zu retten und wiederherzustellen vermochte«. Dazu hat Finker eine Fülle von Material zusammengetragen und umfangreich-dokumentarisch belegte Aussagen ehemaliger Militärs, Publizisten oder Historiker mit erläuternden und wertenden Kommentaren versehen. Dass diese teilweise bissig und zugespitzt geraten sind, muss nicht verwundern angesichts der Verbohrtheit und Unbelehrbarkeit in der Beschäfti-gung mit der Geschichte der faschistischen Diktatur und des Zweiten Weltkrieges, angesichts des zweifelhaften Umgangs mit der entscheidende Frage nach den Ursachen des Geschehens.

Kaum ein Werk der westdeutschen Geschichtsschreibung und -publizistik des Jahrzehnts 1945 bis 1955 ist von Finker unbeachtet geblieben. Über weite Strecken gleicht der Band einem Kompendium, einem leicht erfassbaren Handbuch, das durch seinen Überblickscharakter und nicht zuletzt auch durch einen 935 Fußnoten umfassenden Anhang besticht.

Der Autor stellt fest, dass unmittelbar nach dem Krieg zunächst eine Mehrheit von Publizisten, Historikern, Politikern u, a. den Versuch unternahm, kritisch Bilanz zu ziehen und die faschistischen Verbrechen zu enthüllen, was den Bemühungen deutscher Antifaschisten entsprach und auch von den westlichen Besatzungsmächten im Rahmen ihrer »Re-education« verlangt war. Dies habe jedoch wenig zu einer Erhellung vor allem der sozialökonomischen Basis der faschistischen Verbrechen beigetragen. Dominierend sei die These von der Alleinschuld Hitlers gewesen, von der historischen Verantwortung eines »Dämons«, dessen rätselhaftes Wesen unergründbar gewesen wäre und immer noch sei. Zu solcher Mystifizierung des Faschismus trug das 1950 erschienene Buch des ersten Gestapo-Chefs bei, von dessen Titel »Luzifer ante portas« Finker sich bei der Wahl seines Buchtitels inspirieren ließ.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen sei die Existenz eines deutschen Widerstandes gegen Diktatur und Krieg ignoriert worden. Im Zusammenhang mit der Gründung der BRD und deren Einbeziehung in das westliche Lager des Kalten Krieges wurde auch das Geschichtsbild den neuen Bedingungen angepasst. Es sei um eine Art »Absolution« gegangen, um das Wecken eines »wohlwollend-kritisch-verzeihenden Verständnisses« für das Verhalten der Deutschen. Von Anfang wurde hingegen behauptet, in Ostdeutschland würde keine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erfolgen.

Ausführlich befasst sich Finker mit der aufdringlichen Art und Weise, in der ab 1948/49 die Nazi-wehrmacht regelrecht glorifiziert worden ist, wobei grundsätzlich das »Soldatische« und »Militärische« vom »Politischen« und »Ideologischen« getrennt wurde. Stets sei versucht worden, einer-seits die Oppositionellen und Widerständler unter den Soldaten und Offizieren, die ihren Eid auf Hitler gebrochen hatten, zu würdigen und zugleich alle zu ehren, die eidgetreu im militärischen Kampf bis zur letzten Patrone Nation und Reich retten wollten.

Alle geschichtlichen Überlegungen und Wertungen führt der Autor bewusst in die Gegenwart hinein, deren Geschichtsbild sich seit den 50er Jahren zwar um einiges verändert zeigt, sich dennoch von einigen generellen Positionen, die unmittelbar nach dem Krieg vertreten wurden, nicht getrennt hat.

Finkers Buch besticht nicht allein durch seine Interpretation der Publikationen im ersten Nachkriegsdezennium - da lässt sich einiges auch bei anderen Autoren finden, u. a. bei Norbert Frei, Ludwig Elm oder jüngst in der Arbeit von Jan Korte über die Besonderheiten des Antikommunismus in der Bundesrepublik. Was den vorliegenden Band so wertvoll macht, sind die nachlesbaren, vielfach erschütternden Aussagen damals agierender Politiker, Publizisten, Historiker usw. Schließlich bewegt den Leser auch die Tatsache, dass jene so detailliert zitierten geschichtsfälschenden Nebelkerzen außerordentlich wir-kungsvoll gewesen sind und es wohl immer noch sind.

Kurt Finker: Der Dämon kam über uns. Faschismus und Antifaschismus im Geschichtsbild und in der Geschichtsschreibung Westdeutschlands (1945-1955). Hg. v. Friedrich-Martin Balzer. Mit einem Geleitwort von Otto Köhler. Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2008; 385 S., br., 24,90 €; ISBN-10: 3891444036; ISBN-13: 978-3891444030

* Aus: Neues Deutschland, 20. August 2009


Alter Essig

Ein Quellenband Kurt Finkers über Faschismus und Antifaschismus im Geschichtsbild Westdeutschlands kurz nach 1945

Von Arnold Schölzel **


Das Frappierende an Kurt Finkers »Der Dämon kam über uns. Faschismus und Antifaschismus im Geschichtsbild und in der Geschichtsschreibung Westdeutschlands (1945–1955)« ist die Aktualität der hier in Auszügen wiedergegebenen Bücher aus vermeintlich längst vergangenen Zeiten. Der Autor, der in der DDR 1967 die erste, auch im Ausland vielgelesene Biographie des Hitler-Attentäters Claus Graf Schenck von Stauffenberg veröffentlichte, hat fast ausschließlich gedruckte Quellen aus den ersten Nachkriegsjahren in den Westzonen, der Schweiz und der frühen Bundesrepublik zusammengestellt, aus denen vor allem eins hervorgeht: Talleyrands Kommentar zur Rückkehr der Bourbonen plus Adel nach dem Sieg über Napoleon galt und gilt bis heute für die Trägerschicht des Nazireiches – »Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen«. Die Weiterführung des Kampfes gegen den Bolschewismus im allgemeinen und gegen Rußland im besonderen prägen Selbstverständnis von Staat und Armee so sehr, daß z.B. das Bundesverteidigungsministerium noch 2003 auf eine entsprechende Anfrage des »Verbandes Deutscher in der Résistance, in den Streikräften der Antihilterkoalition und der Bewegung ›Freies Deutschland‹« (DRAFD) mitteilte, das in der Sowjetunion von Kommunisten und deutschen Soldaten gegründete »Nationalkomitee Freies Deutschland« sei nicht Teil der Bundeswehrtradition. Denn – das wird auch am heutigen 65. Jahrestag des Aufstands vom 20. Juli 1944 deutlich werden – es gab aus westdeutscher Sicht stets einen »guten« und einzigen sowie einen »schlechten«, nämlich hoch- bzw. landesverräterischen Widerstand gegen den deutschen Faschismus.

Noch vor der offiziellen Verkündung des Kalten Krieges lagen die Komponenten für die reaktionäre Interpretation von Faschismus und Krieg bereit. Aus ihnen, auch das machen die Quellen dieses Bandes deutlich, unter direkter Mithilfe des US-Geheimdienstes und von CIA-Chef Allen Dulles persönlich, fügte die bundesdeutsche Geschichtsschreibung ein Bild des Naziregimes aus Verzerrungen, Halbwahrheiten und Klitterungen. Es hat längst den Rang einer Staatsdoktrin und es ist – das bringt Finker an den Tag – als Ganzes ein Machwerk, das sich noch bei jeder Debatte im Bundestag über den Zweiten Weltkrieg – Stichwort Rehabilitierung der »Kriegsverräter« – als unverrückbare Grundlage für die Argumentation der etablierten Parteien erweist. Ein Beispiel für die Anfänge vor 64 Jahren sind die Äußerungen des »Widerstandskämpfers« und langjährigen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier (1906–1969), die sich in Finkers Buch finden. Der Herr war seit 1936 Mitarbeiter des Kirchlichen Außenamts der Deutschen Evangelischen Kirche, »dessen Leiter Bischof Theodor Heckel ein umtriebiger Helfer des Berliner Auswärtigen Amtes war« (Finker). Gerstenmaier befand sich am 20. Juli 1944 im Bendlerblock in Berlin, wurde verhaftet und erhielt von Freislers »Volksgerichtshof« im Januar 1945 sieben Jahre Zuchthaus, während alle anderen Beteiligten zum Tode verurteilt wurden. Er veröffentlichte am 23. und 24. Juli 1945 in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel zur »Geschichte des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944«, den Finker hier auszugsweise wiedergibt. Gerstenmaier stellte darin »die beiden christlichen Kirchen in ihrer Gesamtheit sowie die oppositionellen Militärs und den ›Kreisauer Kreis‹ um Helmuth Graf von Moltke als die hauptsächlichen und führenden Kräfte des deutschen Widerstandes« (Finker) vor und sich selbst als bedeutende Figur.

Damals fand diese Darstellung Widerspruch von kompetenter Seite. Der Theologe Karl Barth wandte sich in einer Erklärung gegen Gerstenmaier: »Die deutsche evangelische Kirche ist jetzt in eine merkwürdige Zeit eingetreten. Der grobe (und dumme) Teufel ist mit Gestank abgegangen. Die Stunde des feinen (und klugen) Teufels schein angebrochen: die Stunde der großen verkannten Antinazis, Bekenner, Helden und Beinahe-Märtyrer, die Stunde der glänzenden Alibis – die Stunde, wo der alte theologisch-kirchlich-politische Essig (…) eilig, geschickt und fromm, statt weggeschüttet, aus der dritten in die vierte Flasche umgegossen werden soll. Wer das gutheißt, der bewundere, propagiere, fördere und pflege – in Deutschland selbst oder von der Schweiz aus – den Typus Eugen Gerstenmaier.«

Bei dieser Konstellation ist es im Westen des Landes nicht nur geblieben, seit dem Untergang der DDR erhielt die spezifisch westdeutsche Klitterungsgeschichte einen neuen Schub, wie Finker im Schlußkapitel belegt. Der Publizist Otto Köhler unterstreicht das in seinem Geleitwort, indem er jüngste Äußerungen zum »Dämon« Hitler, darunter ein Buch des Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio von 2005, mit Zitaten aus Publikationen der frühen Bundesrepublik konfrontiert. Ein Unterschied in der Beurteilung des Nazismus läßt sich nicht erkennen. In den Worten di Fabios: »Hitler war kein Deutscher, nicht etwa, weil er österreichischer Herkunft war, sondern weil er kein Jota vom Anstand des preußischen Staatsdieners, weder Heimatgefühl noch Lebensfreude des bayerischen Katholizismus besaß, keinerlei Neigung für Fleiß und harte Arbeit, keinen Sinn für deutsche Lebensart, bürgerliche Vorlieben und christliche Traditionen. Er war nur ein verkleideter Deutscher (…) Der Nationalsozialismus war eine heimtückische Krankheit (…) Es erwies sich insofern als Vorteil, daß die Hitlerdiktatur etwas Dämonenhaftes, Rausch- und Wahnhaftes gewesen war, sie hatte keine wirklich bleibenden Verformungen erzeugt, die den Weg in eine freie Gesellschaft politisch und wirtschaftlich ernstlich verbaut hätten. Der Rausch verflog mit dem Tod des Dämons.«

Gegen dieses ans Wilhelminische erinnernde »Es ist vollbracht«-Auftrumpfen steht Finkers Buch. Es handelt sich, wie Herausgeber Friedrich-Martin Balzer einleitend schreibt, »um eine lesenswerte Einführung in die verdrängte Geschichte der postfaschistischen Gesellschaft Westdeutschlands«, ein Kompendium, das auch als Übersichts- und Nachschlagewerk wie als Fundus für Quellen und Zitate nützlich ist. Ein Buch, das vor allem in Schulen eine aufklärende Wirkung entfalten könnte.

Kurt Finker: Der Dämon kam über uns. Faschismus und Antifaschismus im Geschichtsbild und in der Geschichtsschreibung Westdeutschlands (1945-1955). Hg. v. Friedrich-Martin Balzer. Mit einem Geleitwort von Otto Köhler. Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2008; 385 S., br., 24,90 €; ISBN-10: 3891444036; ISBN-13: 978-3891444030

** Aus: junge Welt, 20. Juli 2009


Zurück zur Deutschland-Seite

Zur Seite "Rassismus, Neofaschismus, Antifaschismus"

Zurück zur Homepage