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Nikita Sergejewitsch war's

Von Wien bis zur Krim: Wie, wo und warum die Entscheidung zur Schließung der Grenzen erfolgte

Von Siegfried Prokop *

Ohne Zweifel sind die vorherrschenden Darstellungen zum Thema »Mauer« hierzulande tendenziös. Die offiziellen Geschichtspublikationen stehen in voller Absicht mit der historischen Wahrheit auf Kriegsfuß. Das wird auch im Ausland registriert. So schrieb der australische Deutschlandexperte Andrew H. Beattie, die Geschichtsaufarbeitung in der heutigen Bundesrepublik sei geprägt durch »oversimplified western success stories« (vereinfachte westliche Erfolgsgeschichten) auf der einen und durch »eastern horror stories« (ostdeutsche Horrorgeschichten) auf der anderen Seite. Geschichtsbetrachtung werde von aktuellen Westnormen bestimmt, ostdeutsche Erfahrungen würden marginalisiert. Der Einigungsprozess werde dadurch stark belastet. So der Befund des Australiers in seiner Studie »Learning from the Germans?«

Thomas Großbölting, Historiker an der Universität Münster, erklärt, warum dem so ist: »Die geschichtspolitische Auseinandersetzung ist zuvörderst eine Funktion des Verhältnisses, in dem sich die Deutschen zur Berliner Republik befinden. Ihr Ansinnen oder ihr ›Code‹ ist nicht die Suche nach ›wahr‹ oder ›falsch‹, sondern die Nutzung des Vergangenheitsbezugs für das Heute.«

Chruschtschows Memorandum

Wider den historischen Fakten wird vor allem nachzuweisen versucht, dass Walter Ulbricht derjenige war, der den Bau der Mauer durchgesetzt habe. Suggeriert wird dies beispielsweise schon im Titel eines soeben auf den Markt gelangten Buches: »Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach«. Selten sind Bekundungen westlicher Zeitzeugen zu finden, die dem Mainstream entgegenstehen. Dabei haben frühere Veröffentlichungen westlicher Provenienz durchaus den konkreten historischen Bedingungen, Gesprächen und Entscheidungen in den damals sich konträr gegenüberstehenden Blöcken, insbesondere in Moskau und Washington, Aufmerksamkeit geschenkt.

Der ehemalige bundesdeutsche Botschafter in Moskau, Hans Kroll, schrieb in seinen Erinnerungen (1967), Nikita S. Chruschtschow habe ihm anvertraut, dass es zwei Möglichkeiten zur Lösung der Berlin-Krise gegeben hätte: die Lufttransportsperre oder die Mauer. Offensichtlich hat nach dem ergebnislosen Treffen zwischen dem sowjetischen Partei- und Staatschef und dem US-Präsidenten John F. Kennedy am 3./4. Juni 1961 in Wien die Sowjetunion Kurs auf einen separaten Friedensvertrag mit der DDR genommen. Chruschtschow überreichte Kennedy noch am 4. Juni ein Memorandum, in dem er diesen ankündigte. Im Ergebnis eines separaten Friedensvertrages sollten die Besatzungsrechte in Berlin erlöschen: »Insbesondere werden die Fragen der Benutzung der Verbindungswege auf dem Lande, zu Wasser und in der Luft, die über das Territorium der DDR führen, nicht anders zu lösen sein als auf der Grundlage entsprechender Übereinkommen mit der DDR.«

Auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 erklärte Ulbricht auf eine Anfrage von Annemarie Doherr von der »Frankfurter Rundschau«, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. Von einer Mauer mitten durch Berlin war seit 1948 in West und Ost in unterschiedlichen Zusammenhängen die Rede gewesen. Auf die Frage des »Spiegel«, ob die Kontrolle über die Luftsicherheit auch die Kontrolle der Passagiere einschließe, erklärte Ulbricht: »Ob die Menschen zu Lande, zu Wasser oder in der Luft in die DDR kommen, sie unterliegen unserer Kontrolle... Wir machen es genauso, wie man es in London macht. Damit ist die Sache in Ordnung.«

Am 28. Juni 1961 veröffentlichte das Post- und Verkehrsministerium der DDR eine Anordnung, dass alle Flugzeuge, die in die DDR einfliegen oder ausfliegen, ab 1. August des Jahres die Radiosicherungsbehörden der DDR zu informieren und nur deren Frequenzen zu nutzen hätten.

Kennedy unter Druck der Falken

Es besteht kein Zweifel, im Juni 1961 ging es auch Ulbricht nicht um den Mauerbau. Luftkontrolle war angesagt; es ging um die letzten fünf Prozent der noch nicht kontrollierten Verbindungen zu und von Westberlin. Es war bestimmt kein Zufall, dass zu dieser Zeit ein Zentrales Jugendobjekt der FDJ in einer Hauruck-Aktion den Flughafen in Berlin-Schönefeld für Düsenpassagierflugzeuge ausbauen sollte. Ein Lied aus jenem Jahr, getextet von Roger Reinsch, zeugt davon. Der Refrain verkündete stolz: » Nach Nikita werden landen/ hier aus England die Gesandten,/ auch für die aus USA/ ist der Flugplatz da./ Staatsbesuch aus Bonn am Rhein/ wird uns auch willkommen sein./ Doch wir haben uns verbeten:/ Für den Platz Atomraketen!«

Sowohl die Sowjetunion als auch die DDR wollten also mit Hilfe des separaten Friedensvertrages die Kontrolle über die Verbindungswege in die Hand der DDR legen. Dadurch wären sowohl der Westberliner Senat als auch die Westmächte zu Verhandlungen mit der DDR gezwungen gewesen, was die De-facto-Anerkennung der DDR eingeschlossen hätte.

Welche Überlegungen gab es nun auf der anderen Seite? Kennedy war ein knappes halbes Jahr nach Beginn seiner Amtszeit in einer schwierigen Lage. Das Treffen in Wien wurde ihm als »Desaster« angelastet. An seinen Führungsqualitäten wurde gezweifelt. Die »Falken« kritisierten die Niederlage der amerikanischen Kuba-Politik. Zur negativen Bilanz Kennedys wurde auch die Niederlage im Wettlauf um den ersten bemannten Flug in den Weltraum gezählt. In diese Zeit der Irritationen und Wirrnisse fiel die Kritik Mike Mansfields, Führer der demokratischen Mehrheit im Senat, dass sich die USA an Berlin festklammerten. Er schlug am 14. Juni 1961 vor, ganz Berlin in eine entmilitarisierte »Freie Stadt« unter dem Schutz und der Aufsicht der Vereinten Nationen umzuwandeln. Warschauer Vertrag und NATO sollten gemeinsam den Interimstatus der »Freien Stadt« bis zur Herstellung der deutschen Einheit garantieren.

Kennedy war bestrebt, seine Berlin-Politik auf eine feste Basis zu stellen, um seinen Kritikern im Lande offensiv begegnen zu können. Am 27. Juni 1961 berief er den früheren Stadtkommandanten General Maxwell Taylor zu seinem Militärbeauftragten. Er wies ihn an, die amerikanische Planung für den Fall einer ernsthaften Krise in Berlin zu überprüfen. Auf seiner Pressekonferenz am 28. Juni 1961 lehnte es der Präsident noch ab, sich zu konkreten Maßnahmen in Verbindung mit der Berlin-Frage zu äußern, solange ihm nicht der Bericht der »task force« unter dem Vorsitz von Dean Acheson sowie weitere Vorschläge vorlägen. »Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass wir hier über Angelegenheiten von äußerstem Ernst sprechen«, erklärte Kennedy.

In die Ernstfall-Planung zur Berliner Krise (contingency planning), die bisher in den Händen der drei Westmächte lag, wurde ab Juli 1961 auch die Bundesregierung einbezogen. Am 14. Juli 1961 weilte Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß auf Einladung Robert S. McNamaras zur Beratung des strategischen Konzepts der neuen Administration, vor allem der militärischen Aktionen zur Sicherung des freien Zugangs nach Berlin, in Washington. Strauß stimmte dem Konzept der »flexible response« (flexible Antwort) zu. Die Durchbruch-Pläne des Hardliners Dean Acheson fanden keine Berücksichtigung. Der frühere Radford-Plan, der sich ausschließlich auf Nuklearwaffen gestützt hatte, war schon vorher bei Strauß auf Vorbehalte gestoßen. Das schließlich beschlossene Szenario für die Eventual- und Verteidigungsplanungen der Organisation »Live Oak« (LO) wird bis heute unter Verschluss gehalten. Strauß aber ließ in seinen »Erinnerungen« trotz noch geltender Geheimhaltung wissen, dass im Falle einer Luftsperre zum Zwecke des Erzwingens der Kontrolle über die Zugänge zu Berlin der Abwurf einer Atombombe auf einen sowjetischen Truppenübungsplatz in der DDR vorgesehen war.

Während noch diese riskanten Konzepte ausgeformt wurden, trafen sich am 5. Juli 1961 in Washington der US-amerikanische Präsidentenberater Arthur Schlesinger und der sowjetische Botschaftsrat Georgij Kornijenko. Der Gedankenaustausch endete mit dem sowjetischen Appell, die USA möchten doch ihre eigenen Garantien für Westberlin formulieren. Kennedy ließ Moskau nicht lange warten. In Erklärungen vom 19. und 25. Juli 1961 verkündete er sein Berlin-Programm, das »den Westen aus der fatalen Lage« befreien sollte, »auf Verwaltungsschikanen und Verkehrsbehinderungen nur mit der Drohung des thermo-nuklearen Krieges antworten zu können«.

Der Präsident ließ wissen, dass die USA nicht daran dächten, sich von der Verpflichtung gegenüber der Menschheit, eine friedliche Lösung zu suchen, zurückzutreten. Er charakterisierte Art und Grenzen der amerikanischen Verhandlungsbereitschaft. Kennedy erkannte die begründete Besorgnis der Sowjetunion bezüglich ihrer Sicherheit in Mittel- und Osteuropa nach einer Reihe räuberischer Invasionen in der Geschichte ausdrücklich an. Erst in diesem Zusammenhang machten die »Three Essentials« Kennedys überhaupt Sinn. Diese lauteten: Anwesenheit der drei Westmächte in Berlin, ungestörtes Zugangsrecht für diese sowie Sicherheit und Freiheit der West-Berliner. Das war das Angebot für eine Kompromiss-Lösung.

Kennedy beschränkte sich hier auf westliche Minimalforderungen. Andere »essentials«, die im Notenaustausch des Jahres 1961 und in Wien noch eine Rolle gespielt hatten, wie die Gewährleistung der bestehenden Bande zwischen Berlin und der Bundesrepublik, die Freiheit des Zivilverkehrs für Personen und Güter von und nach Berlin sowie die Freiheit des Inner-Berliner Verkehrs über die Sektorengrenzen hinweg, wurden nicht mehr erwähnt.

Aufmerksamkeit verdienen auch folgende Sätze Kennedys: »Heute verläuft die gefährdete Grenze der Freiheit quer durch das geteilte Berlin. Wir wollen, dass sie eine Friedensgrenze bleibt.« William Fulbright, Sprecher des außenpolitischen Senatsausschusses, wurde am 30. Juli 1961 in einem Fernsehinterview noch deutlicher: »Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen nicht ihre Grenzen schließen, denn ich glaube, dass sie ein Recht haben, sie zu schließen.«

»Rasch und unerwartet«

Der Wechsel vom Konzept der Luftkontrolle zur Grenzschließung auf dem Lande erfolgte in Moskau erst Ende Juli 1961 und hing vermutlich mit den Gesprächen zwischen Chruschtschow und Kennedys Sonderbotschafter John J. McCloy Ende Juli auf der Krim zusammen, über deren Details bis heute ebenfalls noch nichts verlautbart wurde. Chruschtschow hat dann allein, wie er dem deutschen Botschafter Kroll gestand, die Entscheidung für den Mauerbau getroffen. Dies bestätigt auch Julij A. Kwizinski, 1961 Dolmetscher von Botschafter Michail Perwuchin in Berlin, in seinen Memoiren: »Dieser (Chruschtschow, S.P.) gab seine Einwilligung, die Grenze zu Westberlin zu schließen und mit der praktischen Vorbereitung dieser Maßnahme unter größter Geheimhaltung zu beginnen. Die Aktion sollte rasch und für den Westen unerwartet durchgeführt werden.«

Mit der in der Tat dann raschen und überraschenden Schließung der Grenzen in Berlin am 13. August 1961, vorerst provisorisch mit Stacheldraht bzw. vermauerten Steinplatten, wurde das Ausbluten der DDR gestoppt. Eine viel versprechende Wirtschaftsreform leitete 1963 das erfolgreichste Jahrzehnt der DDR ein, an dessen Ende die weltweite völkerrechtliche Anerkennung stand.

»Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen nicht ihre Grenzen schließen, denn ich glaube, dass sie ein Recht haben, sie zu schließen.«
William Fulbright

* Prof. Dr. Siegfried Prokop (Jg. 1940), veröffentlichte zum Thema die Bücher »Unternehmen ›Chinese Wall‹, Die DDR im Zwielicht der Mauer« (1992/93) und »Die Berliner Mauer. Fakten, Hintergründe, Probleme« (2009).

Aus: Neues Deutschland, 21. Mai 2011


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