Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Es ist die Wirtschaft, ihr Knalltüten!

Nach Oslo, Utøya, Tottenham und Hackney: eine überfällige Abrechnung mit dem Kulturalismus

Von Velten Schäfer *

Während die Gesellschaften ökonomisch zerfallen, blenden die Intellektuellen weiterhin die Klassenverhältnisse aus. Spätestens nach dem Attentat von Norwegen und den Krawallen von London muss die große Autosuggestion von der klassenlosen »Erlebnisgesellschaft« auf den Prüfstand. Sonst ist für wenig zu garantieren in der Rezession, die sich nun auch hierzulande ankündigt.

Wer denkt schon noch an Utøya? Vor lauter Katastrophen und Bedrohungen hat heuer nicht einmal ein politischer Massenmord im turnusgemäßen Sommerloch eine Chance, die Nachrichten mehr als ein paar Tage zu bestimmen. Insofern darf man wohl eine Bilanz der »Debatte« über den Anschlag ziehen – und diese Bilanz fällt mager aus. Das am weitesten reichende Revisionsprogramm formulierte noch die »Zeit« in der vorvergangenen Woche: »In Deutschland dürfen Muslime kritisiert werden. Islamkritiker aber auch«, heißt es bei den Liberalen, korrekterweise unter einem türkischen Autorennamen: »Ein Grundsatz, auf den wir uns einigen sollten: Jeder darf alles gegen Islamkritiker sagen. Und jeder alles gegen Muslime«. Als sei das jemals anders gewesen.

Und dann nennt die »Zeit« ein paar »Fakten«, die belegen sollen, dass es da eben auch ein Problem gibt mit – ja wem eigentlich: »Türkische Jugendliche« brechen die Schule öfter ab, machen seltener das Abitur, »Türken sind hierzulande häufiger kriminell«, »Türken beziehen häufiger Hartz IV als Deutsche.« Das seien »keine Meinungen, sondern Tatsachen«.

Die Frage ist freilich immer, wie man solche »Tatsachen« rationalisiert. Und dabei zeigt die wohlmeinende »Zeit« eine bezeichnende Hilflosigkeit. Mal ist von »Mentalitäten« die Rede, dann geht es um Muslime und im nächsten Satz um »Türken«: Ethos, Nation, Religion – worum geht es hier eigentlich? Wenn, was man vielleicht sogar wünschen mag, die Post-Utøya-»Debatte« von der »Zeit« bestimmt werden sollte und nicht weiterhin von denen, die derzeit ein wenig ruhiger geworden sind, darf man immerhin erwarten, dass nun die gutartigen Südländer- und Islamversteher wieder größere Artikel eingeräumt bekommen als die bösartigen. Und doch sind sie alle auf dem Holzweg, die Islamfreunde, die Islamkritiker und die »Zeit« gleich mit.

Vor »Holzwegen« hütet sich, wer gelegentlich in den Alpen unterwegs ist. Im unwegsamsten Gelände tut sich zuweilen plötzlich breites, bestens angelegtes, sogar fahrtaugliches Geläuf auf – doch man darf sich nicht zum Abbiegen verleiten lassen. Denn diese Wege führen ins Nichts. Immer um den Gipfel herum, aber nie hinauf – und meistens nicht einmal zum nächsten Dorf, sondern nur zu einer Sammelstelle. In einer ähnlichen Leerspirale dreht sich auch jene »Debatte«, die mal »Integration« heißt und mal »Religionskritik« – dabei liegen die Fakten doch auf dem Tisch. Das Schulabbrechen, die jugendliche Delinquenz, der Bezug von Sozialleistungen: All diese Standardbeispiele, die immer wieder als nebulöse »Integrationsdefizite« herangezogen werden, sind klassische Merkmale sozialökonomischer Unterschichten. Stellt man aber fest, dass eine bestimmte Gruppe in dieser Hinsicht auffällig ist, ergeben sich daraus zwei mögliche Folgerungen: die kulturalistisch-rassistische, die zuerst davon ausgeht, dass »die halt so sind« – ob nun durch Geburt oder Gewöhnung –, steht dabei einer humanistischen Deutung gegenüber, die in solchen Auffälligkeiten Symptome einer offensichtlich systematischen Benachteiligung sieht.

Das Paradebeispiel einer humanistischen Reaktion auf ein vergleichbares Phänomen lieferten die USA der späten 1970er Jahre. Nach langem Ringen setzte sich dort zu dieser Zeit die »Affirmative Action« als Lösungsansatz durch: Auf die auffallenden Bildungsdefizite, Drop-Out-Lebensläufe und hohen Kriminalitätsraten unter jungen Afroamerikanern reagierte man vielerorts in den Vereinigten Staaten mit einer systematischen sozialen Bevorzugung eben dieser Gruppe. Im Breivik-Broder-Sarrazin-Europa traut sich längst niemand mehr, etwas in der Art auch nur vorzuschlagen. Es sähe ja ao aus, als würde man den dreisten Muselmanen auch noch päppeln. Stattdessen muss, wer überhaupt mitdiskutieren will, erst einmal die vermeintlich realen »Probleme mit dem Islam« anerkennen.

Jüngst hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnet, dass im vergangenen Jahrzehnt in einer beispiellosen Umverteilung nach oben gerade die Beschäftigten in jenen Niedriglohnjobs, die überdurchschnittlich oft von Einwanderern ausgeübt werden, um ein sagenhaftes Fünftel ihres Einkommens gebracht worden sind. Im gleichen Zeitraum ist die intellektuelle Szene der Republik einer ähnlich exzessiven gedanklichen Rezession anheimgefallen, die heute zur Folge hat, dass Wirtschafts- und Politikteil einer Zeitung für die meisten bundesdeutschen Sinnproduzenten zwei getrennte Welten darzustellen scheinen. Bis vor vielleicht 15 Jahren hat es noch öffentlich erhörte Stimmen gegeben, die vor der »Ethnisierung des Sozialen« warnten. Wann aber hat man solche Bedenken zuletzt gehört?

Heute scheint der »kulturalistische« Denkstil zum Allgemeingut geworden zu sein, der dort, wo Probleme sind, stets etwas Fremdes sieht, weil es »bei uns« ja keine Schwierigkeiten geben kann. Wie tief sich das schreibende und sendende Deutschland mittlerweile diese Scheuklappe ins Gesicht gezogen hat, zeigt längst auch das populäre Reden über die autochtonen deutschen Unterschichten. Auch sie werden inzwischen als »Fremde« beschrieben, in mitunter ganz ähnlichen Kategorien wie die tatsächlichen Einwanderer: verstockt und verschlagen, beängstigend kinderreich, mit primitiven Gelüsten und archaischen Reflexen – ein fremder, exotischer Stamm, vorgeführt in Fernsehsendungen, die an die Menschenschauen des 19. Jahrhunderts erinnern.

Besonders drastisch fiel dieses Ausblenden des Sozialen nach den Londoner Krawallen auf. Die Plünderer versammelten sich offenbar oft unter der Parole, die das mit Milliarden zu ihren Lasten gerettete coole Börsen-Britannien täglich vorlebt: »Lasst uns alle reich werden!« Und das politische System, von Labour bis zu den Tories tief diskreditiert durch ihr illegitimes Kuscheln mit dem Schmier-und-Hetz-Mogul Rupert Murdoch, sieht nichts als pure, gesellschaftlich isolierte Kriminalität, das unpolitische Böse, letztlich den Überfall eines fremden Stammes.

Im Fall von Tottenham, Hackney und den Vororten von Manchester hat sich die deutsche Publizistik als hellsichtiger erwiesen als die britische Politik – doch wäre die Reaktion auf im Prinzip auch nur irgendwie vergleichbare Vorkommnisse im eigenen Land ähnlich weise ausgefallen? Es gibt gute Gründe, das zu bezweifeln. Wenn also etwas gelernt werden soll aus London und Utøya, dann muss die Parole in Anlehnung an den früheren US-Präsidenten Bill Clinton lauten: »It's the Economy, stupid!« Es ist die Wirtschaft, ihr Knalltüten, ist etwa dem Chor derer entgegenzurufen, die das rituelle »Gangstertum« von abgehängten Migrantenkids in Berlin-Wedding mit paternalistischen »Islamkonferenzen« lösen zu können glauben, während zugleich den Nachbarschaftszentren das Geld gestrichen wird. Will das intellektuelle Deutschland eine Folgerung aus Utøya ziehen, sind in Zukunft diese Meldungen aus dem Politikteil der Zeitung mit denen aus dem Wirtschaftsteil zusammenzubringen.

Dass dies gerade auch den Deutschen so schwerfällt, hat Geschichte. Einerseits fiel der Klassenkompromiss in Westdeutschland im Angesicht des Kalten Krieges und einer direkten Herausforderung besonders günstig für die Arbeiter aus. Zum zweiten ist in der Politik- und Sozialwissenschaft keines anderen Landes so gründlich an der Zurückdrängung des zeitgenössisch so genannten »Klassenkampfdenkens« gearbeitet worden wie in der Bundesrepublik. Spätestens seit den 1960er Jahren erliegt dieses Land der Autosuggestion, einen quasi klassenlosen Zustand erreicht zu haben. Doch in Wirklichkeit war die »nivellierte Mittelschichtsgesellschaft« des konservativen Soziologen Helmut Schelsky eben auch nur eine Theorie – und der vielzitierte »Fahrstuhl«, nach dem zwar soziale Unterschiede bleiben, aber letztlich doch alle mit nach oben fahren dürfen, wirkt inzwischen wie eine nostalgische Reminiszenz. Und können wir, wie der große Kultursoziologe Gerhard Schulze 1992 in seinem epochemachenden Buch von der »Erlebnisgesellschaft« schrieb, tatsächlich noch davon ausgehen, dass sich die gesellschaftliche Position der Menschen vornehmlich durch selbstgewählte Vorlieben für bestimmte »Erlebnisklassen« bestimmt – und die Zugehörigkeit zu sozioökonomisch determinierten »Großgruppen« keine Rolle mehr spielt?

All diese großen Erzählungen müssen auf den Prüfstand, wenn Deutschland im Gedenken an Utøya seine »Integrationsprobleme« verstehen oder gar lösen will. Und es spricht viel dafür, dass einiges davon auf dem Diskursfriedhof landen wird, auf dem vor einiger Zeit in aller Stille die Thesen des 2007 verstorbenen Grünen-Leibtheoretikers André Gorz beerdigt wurden. Nach Gorz war man davon ausgegangen, dass Vollbeschäftigung aus ökonomischen Gründen unmöglich und aus ökologischen auch gar nicht wünschenswert sei. Im Zeichen des aktuellen »Fachkräftemangels« scheint es nun eher darum zu gehen, das Kapital zur Finanzierung der Ausbildung heimischer Jugendlicher mit und ohne Einwanderungshintergrund zu zwingen – was es freiwillig nicht tut –, da »Importe« natürlich billiger sind.

Gerade in Deutschland mit seinem Hang zu einer furchtbaren intellektuellen Gründlichkeit ist es wichtig, dass sich die humanistische neben der kultur-rassistischen Perspektive auf die zerfallende Gesellschaft behauptet. Wer deren Auseinanderdriften aufhalten will, sollte es nach dem Scheitern der »Integrationskonferenzen« mal mit einem anständigen Lohnvertrag für Reinigungskräfte versuchen. Und wer nun sagt, das sei »Ökonomismus«, hat es zumindest nicht ausprobiert.

Eine solche neue Nachdenkbewegung tut dringend Not. Sonst droht in der Fremdendiskussion der gleiche Effekt wie in der volkswirtschaftlichen »Debatte«, wo nun am Ende das helfen soll, was in die Katastrophe geführt hat: noch mehr Sparen, Streichen, Kürzen und Verkaufen. Und das möchte man in diesem Lande doch lieber nicht erleben – was eigentlich sogar für Henryk M. Broder gelten müsste.

* Velten Schäfer, 1973 in Konstanz geboren, ist ND-Mitarbeiter im Ressort Innenpolitik.

Aus: Neues Deutschland, 20. August 2011



Zurück zur Deutschland-Seite

Zur Seite "Islam, Islamophobie"

Zur Rassismus-Seite

Zur Seite "Politische Theorie"

Zurück zur Homepage