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Streitfrage: Warum profitieren die Linken nicht von der Krise?

Es debattieren: Bernd Riexinger, ver.di, Prof. Dr. Georg Fülberth und Alexis Passadakis, Politikwissenschaftler


Gegensätze verdeutlichen

Von Bernd Riexinger *

Die einfachste und sicherlich falscheste Antwort wäre, weil die Krise bei den meisten Menschen noch nicht angekommen ist. 40 Prozent beantworten die Frage, ob sie von der Krise betroffen sind, mit Ja. Im Hauptland der Kurzarbeit, in Baden-Württemberg, bangen viele um ihren Arbeitsplatz, wenn die Kurzarbeit ausläuft. Außerdem löst direkte Betroffenheit noch lange keinen Trend nach links aus. Viele hoffen und mögen gerne den Merkels, Steinbrücks und von Guttenbergs glauben, dass die Krise schnell wieder in einen Aufschwung übergehen und Deutschland daraus gestärkt hervorgehen werde. Kassandrarufe der Linken, nach denen wir es mit einer Jahrhundertkrise zu tun haben, die nicht so schnell vorübergehen wird, werden schnell als ewige Schwarzmalerei abgetan.

Dazu kommt, dass DIE LINKE als Partei der sozialen Gerechtigkeit gilt, die in erster Linie für die Beseitigung der Verteilungsungerechtigkeit zuständig ist. Wirtschaftliche Kompetenz wird ihr nicht oder nur wenig zugesprochen. Das ist sicherlich grotesk, hat doch gerade DIE LINKE als einzige Partei vor den Gefahren des finanzgesteuerten Kapitalismus gewarnt und die Krise vorausgesagt. Die Große Koalition hat sich dabei nicht geniert, vorher belächelte Vorschläge der Linken aufzugreifen und als ihre eigenen anzugeben. Dabei erweckt sie den trügerischen Eindruck, sie hätte die Lage im Griff. Schließlich habe die Bundesregierung durch beherztes Eingreifen den völligen Zusammenbruch des Finanzsystems verhindert. Ideologisch verfänglich, aber durchaus beabsichtigt, bauen sie die Legende auf, dass es jetzt darauf ankommen würde, gemeinsam aus der Krise herauszukommen. Alle müssten ihren Anteil dazu beitragen. Hier wird gezielt der Eindruck erweckt, Kapital und Arbeit hätten gemeinsame Interessen, die Krise zu bewältigen. Für diese Positionen sind durchaus erhebliche Teile der Gewerkschaften empfänglich, von der SPD ganz zu schweigen.

Hier muss DIE LINKE ansetzen. Sie muss deutlich machen, dass sich ihre Konzepte zur Krisenlösung diametral von denen der etablierten Parteien und der Kapitalverbände unterscheiden, die Interessen von Kapital und Arbeit an der Lösung der Krise gänzlich verschieden sind. Dabei kann DIE LINKE daran anknüpfen, dass von fast allen nicht neoliberalen Ökonomen die gigantische Umverteilung der letzten 25 Jahre von Unten nach Oben und die Konzentration wachsender Teile des gesellschaftlichen Reichtums in wenigen Händen als wesentliche Ursachen der Krise bezeichnet werden. Die Rückumverteilung von Reichtum und Vermögen, durch Millionärssteuer und dauerhaft höherer Belastung großer Vermögen ist ein wesentlicher Schutzwall gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Mehrheit der Bevölkerung. Auf der anderen Seite der Verteilungsfrage, den Löhnen, kann die LINKE klar punkten, indem sie verdeutlicht, warum in der Krise die Senkung der Löhne krisenverschärfend wirkt und gesetzliche Mindestlöhne den Fall nach unten begrenzen.

Die bürgerlichen Parteien, wie auch die SPD, erwecken den Eindruck, nach »Bewältigung« der Krise könne es einfach so weitergehen wie vorher. Das kommt sicherlich dem Wunsch großer Teile der Bevölkerung entgegen, doch dämmert es mehr und mehr Menschen, dass das nicht so einfach möglich und vor allem nicht wünschenswert ist. Es ist schade, aber nicht ganz unverschuldet, dass DIE LINKE häufig eher als Partei der noch höheren Konjunkturprogramme erscheint und weniger als progressive Kraft, die für ein neues Entwicklungs- und Zukunftsmodell steht. Im Wahlprogramm sind gute Ansätze vorhanden, die zumindest Tendenzen der Transformation in eine soziale und solidarische Gesellschaft aufzeigen. Beispiele wie Opel, Karstadt oder auch die Banken machen deutlich, dass die marktwirtschaftliche »Lösung« der Krise und ein »Weiter so« die sozialen und ökologischen Kosten dramatisch in die Höhe treiben würden. Hier Ansätze eines Zukunftsentwurfes zu entwickeln, der für die Menschen nicht bedrohlich sondern glaubwürdig und attraktiv wirkt, könnte der Linken den dringend notwendigen Aufschwung verschaffen.

* Bernd Riexinger, 1955 geboren, ist ver.di-Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart und Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands der Linkspartei in Baden-Württemberg. 2003 gehörte er zu den Initiatoren der Protestbewegung gegen die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder.


Vielleicht nächstes Mal

Von Georg Fülberth **

Die Erkundigung, weshalb die Linke (im engeren und weiteren Sinn) in der gegenwärtigen Rezession nicht erstarke, verdankt sich einem Fehler, den Karl Marx zunächst beging und den er später korrigierte. »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.« Dies schrieb er 1850, und er meinte Folgendes: Die schwere Wirtschaftskrise 1847 habe die europäische Revolution von 1848 nach sich gezogen. Ein neuer Aufschwung beendete beide, und beim nächsten Wirtschaftskrach sei auch wieder ein Umsturz fällig.

1857 brach eine weltweite Wirtschaftskrise aus, und Friedrich Engels übte sich in Manchester verschärft im Reiten: Er bereitete sich darauf vor, im deutschen Bürgerkrieg an der Spitze einer revolutionären Kavallerie zu kämpfen. Aber die Rezession ging ohne Aufruhr vorüber. Marx hat daraus gelernt: Wirtschaftskrise bedeutet nicht automatisch gesellschaftliche Umwälzung.

Ihre Kombination 1848 war eine optische Täuschung gewesen. Die Krise war nur der Anlass, nicht die Ursache der Revolution. Im »tollen Jahr« hatte eine Klasse nach der politischen Macht gegriffen, die bis dahin entweder gar nicht (in Deutschland, Italien, Österreich, Ungarn) oder nur teilweise (Frankreich) daran beteiligt war: die Bourgeoisie mit ihren verschiedenen Untergliederungen, da und dort zeitweilig verbündet mit dem jungen Proletariat. Bezeichnenderweise fing die Revolution in Großbritannien gar nicht erst an: Da herrschte das Bürgertum bereits seit 1688.

Auf dem Kontinent scheiterte die Bourgeoisie zwar politisch, aber 1857 hatten sich andere Arrangements zu ihren Gunsten angebahnt. Es blieb ruhig. Der Gründerkrach 1873 führte zunächst nicht nach links, sondern nach rechts: Im Laufe der siebziger Jahre brach Bismarck mit den Liberalen und konnte 1878 sogar die Sozialdemokratie verbieten. Es dauerte einige Zeit, bis sie (noch in der Illegalität) ihren Aufschwung nahm.

Die revolutionäre Nachkriegskrise 1917 bis 1923 hatte keine ökonomischen Ursachen: Der Krieg erschütterte in Kontinentaleuropa die alten Ordnungen, in Russland ergriffen die Bauern und die Arbeiterklasse ihre Chance, ebenso die Sozialdemokratie in Österreich und Deutschland. In den beiden letzteren Ländern kam es letztlich nur zur Reform auf dem Hintergrund einer Revolution, die selbst scheiterte (wie auch in Ungarn). Die Große Depression 1929 bis 1933 ging in Deutschland nach rechts (Hitler), in den USA nach halblinks (Roosevelt).

Dieser Überblick mag zeigen, dass in der bisherigen Geschichte ökonomische Crashs gewöhnlich nicht zur politischen Umwälzung führen. Es muss schon eine Klasse bereit stehen, in deren Interesse eine scharfe Veränderung der bisherigen Verhältnisse liegt. Das müssen nicht unbedingt die Armen sein. Auch die Reichen können Anlass zur Revolution haben.

So war es in der Weltwirtschaftskrise von 1974/75. Merkwürdigerweise ist sie nahezu vergessen, obwohl sie einen tiefen Einschnitt brachte: Damals begann die Massenarbeitslosigkeit, die bis heute nicht abgebaut ist. Gleichzeitig wurde die stille, aber tief greifende »neoliberale Konterrevolution« vorbereitet: der Abbau des Sozialstaats im Interesse der Geldvermögensbesitzer und ihrer Institutionen: der Finanzdienstleister. Die politische Exekution besorgten in Großbritannien erst Margaret Thatcher und Anthony Blair, in den USA Ronald Reagan. In Deutschland gab und gibt es gleich mehrere Akteure: zögernd Helmut Kohl, entschlossen Gerhard Schröder, lavierend Angela Merkel. Wie auch immer man die Wende von 1989/1991 bewerten mag - ob Revolution, ob Konterrevolution: ihr sozioökonomischer Inhalt ist unzweifelhaft: Wiederherstellung des Kapitalismus. So hat das Bürgertum seit 1975 sich noch einmal als eine revolutionäre Klasse bewährt, die ihre Interessen tatkräftig wahrnimmt.

2007 ff. fehlt vorläufig ein solches Subjekt. Menschen, die unter der gesellschaftlichen Situation leiden, gibt es massenhaft: in den Unterklassen. Es muss aber etwas hinzukommen: die realistische Chance für eine tatsächliche Änderung.

Vielleicht beim nächsten Mal.

** Prof. Dr. Georg Fülberth, Jahrgang 1939, ist Historiker und Politikwissenschaftler. Von 1972 bis zu seiner Emeritierung 2004 war er Professor für Politikwissenschaft in Marburg. In den sechziger Jahren gehörte Fülberth der SPD an, seit 1974 ist er Mitglied der DKP. Zuletzt veröffentlichte er »'Doch wenn sich die Dinge ändern.' DIE LINKE« im Kölner PapyRossa-Verlag.


Recht haben reicht eben nicht

Von Alexis Passadakis ***

Mit dem Ausbruch der Krise gab es bei vielen die - nur kurz währende - Hoffnung, dass mit den Erschütterungen der Weltwirtschaft zügig das Ende der neoliberalen Nacht dämmern würde. Sicher: Die Krise hat den politischen Möglichkeitsraum geweitet, die emanzipatorische Morgenröte aber bleibt bisher aus. Kein Wunder. Schon für Antonio Gramsci, den unter Benito Mussolini ermordeten Theoretiker und Chef der KP Italien, war ausgeschlossen, dass »die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen«, dass sie stattdessen »nur einen günstigeren Boden für die Verbreitung bestimmter Weisen bereiten, die für die ganze weitere Entwicklung des staatlichen Lebens entscheidenden Fragen zu denken, zu stellen und zu lösen.«

Letztlich braucht es für diese »Ereignisse«, die soziale Fortschritte auslösen, Akteure, die gesellschaftlichen Druck entfalten können. Zwar haben die beiden Demonstrationen am 28. März in Berlin und Frankfurt am Main für einige Wochen ins öffentliche Bewusstsein gerückt, dass es ein antagonistisches Potenzial gibt, das mit dem Slogan »Wir zahlen nicht für eure Krise!« einen grundsätzlich Politikwechsel einfordert. Bisher gibt es jedoch keine breit wahrgenommene offene Ausein-andersetzung zwischen dem herrschenden Block und einem ausreichend starken Kräfteensemble, welches sich die Perspektive einer solidarischen Transformation auf die Fahnen schreibt und damit den vom Neoliberalismus gesteckten Rahmen verlassen könnte.

Für das neoliberalen Projekt - als Ideologie, Politik und Produktionsweise - ist es ein entscheidender Erfolg, sozial widerständige Milieus und Akteure derart bis auf die Knochen abgenagt oder zum Verschwinden gebracht zu haben, dass kollektive Verständigungsprozesse über soziale Interessenslagen nur sehr schwierig oder zum Teil gar nicht mehr möglich sind. Den Neoliberalen gelang es, ihre Spielart von Asozialismus als Individualismus zu verkaufen. Die gesellschaftlichen Solidaritätsreserven, die notwendig sind, um sich für kollektive Ziele einzusetzen, wurden damit erschöpft. Insbesondere sind davon die Strukturen betroffen, die sich im Zuge der Arbeiterbewegung herausgebildet haben - wie Gewerkschaften, Arbeitervereine, aber auch die Sozialdemokratischen Parteien. Aber nicht zuletzt auch die Milieus der Neuen Sozialen Bewegungen, wie radikale Umwelt- und Frauenbewegungen.

Letztlich steht die Linke zudem weiterhin unter dem Schock der Epochenwende von 1989. Denn mit dem notwendigen Zusammenbruch des realexistierenden Staatssozialismus ging gleichzeitig ein Verlust der großen emanzipatorischen Erzählungen einher, die auch für andere soziale Bewegungen lebenswichtig waren. Sie waren eine der Quellen sozialer Energie, die das Wagnis sozialen Widerstands ermöglichten. Es ist daher schmerzlich, dass auf der einen Seite große geschichtsoptimistische Entwürfe keinen Widerhall mehr finden, aber andererseits eine linke Realpolitik, die mit kleinen Schritten Verbesserungen erzielen möchte, irreal ist, weil sie nicht auf der Höhe der tatsächlichen gravierenden sozialen Verwerfungen und ökonomischen Risiken agiert, diesen in keinster Weise gewachsen ist.

Mit der globalisierungskritischen Bewegung und den (Welt-)Sozialforen begann zwar ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine Rekonstituierung sozialer Bewegung. Diesen gelang es jedoch nicht, über eine anti-neoliberale Strömung hinauszuwachsen. Ein neues historisches Projekt, das die vielfältigen globalen Konfliktlagen gebündelt hätte, konnte nicht geschmiedet werden.

Ihre geringen soziale Verankerung und das Fehlen großer verbindender Narrative sind also wesentliche Ursachen für die marginale Rolle, die linke Kräfte bisher in der Krise spielen konnten. Den Strategien der Regierungen und der weiterhin hermetisch neoliberalen Leitmedienmaschine konnte deshalb wenig entgegengesetzt werden. Inhaltlich Recht haben reicht eben nicht. Deshalb ist es notwendig, neue kapillare soziale Geflechte zu knüpfen, in denen Solidarität statt Angst den Humus für gesellschaftlichen Widerstand bildet. Zudem wird die Krise zu Konflikten auf betrieblichem und sozialpolitischem Terrain führen, die, wenn es gelingt, diese symbolisch zuspitzen, Ausgangspunkte für die Vorstellung einer umfassenden solidarischen Transformation sein könnten.

*** Alexis Passadakis, 1976 geboren, ist Politikwissenschaftler und Mitglied im Koordinierungskreis des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac. Beruflich arbeitet er u. a. in der politischen Bildungsarbeit. 2008 hat Passadakis das Klimaaktionscamp gegen das Kohlekraftwerk in Hamburg-Moorburg mitorganisiert und gehörte zur Vorbereitungsgruppe der Demonstrationen »Wir zahlen nicht für eure Krise!« in Frankfurt am Main und Berlin .

Alle drei Beiträge aus: Neues Deutschland, 8. August 2009 ("Debatte")


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