Die zentralen Elemente des Friedensgebotes des Grundgesetzes [1]
Von Dieter Deiseroth *
Seit Jahren macht uns Helmut Simon, der
langjährige Bundesverfassungsrichter, immer
wieder mit großer Überzeugungskraft auf ein
Defizit aufmerksam, das offenbar werden lässt,
dass es in den nunmehr über 60 Jahren seit
Inkrafttreten des Grundgesetzes weithin versäumt
worden ist, das Friedensgebot des
Grundgesetzes „ähnlich konkret herauszuarbeiten
wie etwa das Sozialstaatsgebot oder
das Rechtstaatsgebot.“[2] Vernachlässigt worden
seien vor allem „die Folgerungen für die
zivile Konfliktbearbeitung und deren Vorrang
vor militärischer Gewaltanwendung.“ Simon
hält es u. a. „für unerträglich, dass für diese
Aufgabe lediglich ein verschwindend geringer
Teil der Mittel zur Verfügung steht, wie wir sie
für das Militär aufwenden.“[3] Und in der Tat:
Gerade auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
wird zwar das „Friedensgebot“
u. a. des Art. 26 GG gelegentlich
als verfassungsrechtliche Grenze für Einsätze
der bewaffneten Macht nach außen erwähnt.
Auf eine hinreichende Konkretisierung und eine
Herausarbeitung der praktischen Folgerungen
ist jedoch durchweg verzichtet worden.
Wenn man das „Friedensgebot“ oder, wie
es gelegentlich auch heißt, die „Friedensstaatlichkeit“
des Grundgesetzes in den Blick nimmt,
muss man sich vor allem mit den folgenden
neun Regelungskomplexen befassen.
(...)[4]
9. Art. 24 Abs. 2 GG
Während Absatz 1 des Art. 24 GG die Möglichkeit
eröffnet, Hoheitsrechte durch einfaches
Gesetz auf zwischenstaatliche Einrichtungen
zu übertragen, sieht Absatz 2 die Option einer
Einordnung „in ein System gegenseitiger kollektiver
Sicherheit“ vor.
9.1 Das BVerfG hat in seiner Out-of-Area-Entscheidung
vom 12.7.1994 [5] – anders als in
seiner früheren Rechtsprechung – argumentiert,
besser gesagt: behauptet, es sei
„unerheblich“, ob das von Art. 24 Abs. 2
GG adressierte „System gegenseitiger kollektiver
Sicherheit“ „ausschließlich oder
vornehmlich unter den Mitgliedsstaaten
Frieden garantieren oder bei Angriffen von
außen zum kollektiven Beistand verpflichten
soll“.[6] Entscheidend sei, dass das
System „durch ein friedenssicherndes
Regelwerk und den Aufbau einer eigenen
Organisation für jedes Mitglied einen Status
völkerrechtlicher Gebundenheit
(begründet), und dieser Status der völkerrechtlichen
Gebundenheit „wechselseitig
zur Wahrung des Friedens verpflichtet“
und „Sicherheit gewährt“. Auf dieser
Grundlage hat das BVerfG dann die NATO
als ein „System gegenseitiger kollektiver
Sicherheit“ i.S. von Art. 24 Abs. 2 GG qualifiziert.
Meine These ist: Diese Argumentation
des BVerfG geht an Normstruktur und
Norminhalt des Art. 24 Abs. 2 GG vorbei
und implantiert so in diese Verfassungsnorm
in ungerechtfertigter Weise eine
abweichende, ja konträre sicherheitspolitische
Grundkonzeption.
9.2 Im Völkerrecht ist seit Jahrzehnten klar:
„Kollektive Sicherheit und Bündnisse
widersprechen sich fundamental.“[7] Was
sind diese fundamentalen Unterschiede,
worin bestehen sie? Es lassen sich vier
zentrale Kriterien festhalten:
(1) Verteidigungsbündnisse und „Systeme
kollektiver Sicherheit“ reflektieren zwei
entgegen gesetzte Grundkonzeptionen
von Sicherheitspolitik.
Das Grundkonzept von Verteidigungsbündnissen
basiert auf Sicherheit durch
eigene Stärke und die Stärke der eigenen
Verbündeten. Es ist „partikuläregoistisch“.
Denn es verankert die eigene
Sicherheit nicht zugleich in der
Sicherheit des potenziellen Gegners,
also gerade nicht in der gemeinsamen
Sicherheit, sondern im Gegenteil in der
relativen Schwäche und Unterlegenheit
des potenziellen Gegners.
Die Grundkonzeption kollektiver Sicherheit,
die in der Periode zwischen den
beiden Weltkriegen als bewusste Alternative
zu den tradierten sog. Verteidigungsbündnis-
Systemen entwickelt
wurde, basiert dagegen auf der Sicherheit
aller potenziellen Gegner durch die
Reziprozität innerhalb einer internationalen
Rechtsordnung. Sie gründet auf
dem Konzept der gemeinsamen Sicherheit.
(2) Zweitens: Anders als ein System kollektiver
Sicherheit ist ein Verteidigungsbündnis
– so auch die NATO – nicht auf
Universalität im Sinne des Einschlusses
potenzieller Aggressoren angelegt.
So steht die NATO – bezeichnenderweise
anders als das System „kollektiver
Sicherheit“ der UNO – nicht jedem Beitrittswilligen
offen, der die im NATOVertrag
verankerten Ziele anerkennt.
Dementsprechend haben die NATO und
ihre Mitgliedsstaaten sowohl in den
Jahren 1954/55 als auch im Zusammenhang
mit den NATO-Osterweiterungen
der letzten Jahre Begehren der früheren
Sowjetunion und Russlands auf Einbeziehung
in das NATO-Bündnis ausdrücklich
abgelehnt.
(3) Drittens – und dies ist ein weiterer gravierender
Unterschied eines Verteidigungsbündnisses
zu einem kollektiven
Sicherheitssystem – enthält der NATO-Vertrag
für den Fall eines von einem eigenen
Mitgliedsstaat begangenen Aggressionsaktes
keine verbindlichen internen
Konfliktregelungsmechanismen.
Eine NATO-interne Verpflichtung der
übrigen NATO-Partner, dem einen Aggressionsakt
begehenden NATO-Verbündeten
mit kollektiven NATO-Zwangsmaßnahmen
entgegen zu treten, sieht
der NATO-Vertrag gerade nicht vor.
Dieses Defizit ist typisch für ein Bündnis
zur kollektiven Verteidigung, das ja
gerade zur Verteidigung gegen einen
potenziellen externen Aggressor geschlossen
wird.
(4) Die NATO etabliert auch – dies ist der
vierte wesentliche Unterschied zu
einem System kollektiver Sicherheit –
keine den Mitgliedsstaaten übergeordnete
zwischenstaatliche oder supranationale
Gewalt einer organisierten und
rechtlich geordneten Macht nach dem
Modell der Vereinten Nationen.
9.3 Art. 24 Abs. 2 GG knüpft an diese vierfach
typisierte völkerrechtliche Begrifflichkeit
und fundamentale Unterscheidung zwischen
einem „kollektiven Sicherheitssystem“
und einem „kollektiven Verteidigungsbündnis“
an und inkorporiert diese
Unterscheidung in das deutsche Verfassungsrecht.
Diese Unterscheidung ist für
die konzeptionelle Orientierung der deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik äußerst
bedeutsam – rechtlich und verfassungspolitisch.
(1) Rechtlich bedeutsam ist der Unterschied
zwischen einem kollektiven Verteidigungsbündnis
und einem System
kollektiver Sicherheit vor allem im Hinblick
auf die in Betracht kommende
Rechtsgrundlage für Einsätze der Bundeswehr.
Für militärische Einsätze „zur
Verteidigung“ auf der Grundlage von
Art. 51 UN-Charta, also zur individuellen
oder kollektiven Selbstverteidigung,
ist Rechtsgrundlage allein Art.
87a GG („nur zur Verteidigung“). Denn
diese Bestimmung ist insoweit lex specialis.
Art. 24 Abs. 2 GG scheidet dafür
auch deshalb aus, weil diese Regelung
auf Verteidigungsbündnisse keine
Anwendung findet. Art. 24 Abs. 2 GG
kommt als Rechtsgrundlage nur für
Einsätze im Rahmen eines kollektiven
Sicherheitssystems wie der UNO oder
vielleicht einmal bei entsprechender
Ausgestaltung der OSZE und nur dann
in Betracht, wenn dabei die deutschen
Streitkräfte tatsächlich im Rahmen und
nach den Regeln dieses kollektiven
Sicherheitssystems eingesetzt werden.
Militärische Einsätze außerhalb der UN
oder gar unter Bruch der UN-Charta
können keinesfalls auf Art. 24 Abs. 2 GG
gestützt werden.
(2) Das in Art. 24 Abs. 2 GG verankerte
Konzept der „kollektiven Sicherheit“
hat darüber hinaus noch eine wichtige
Leitfunktion für die verfassungsrechtliche
Orientierung deutscher Außenund
Sicherheitspolitik.
Die sog. Palme-Kommission, an der
neunzehn bedeutende Politiker und
Fachleute aus Ost und West, Nord und
Süd, darunter der frühere deutsche
Bundesminister und Abrüstungsexperte
Egon Bahr, mitgewirkt haben, hat in
der Hochphase des Kalten Krieges die
lebensbedrohlichen Konsequenzen der
nuklearen Abschreckungsdoktrin eingehend
analysiert und daraus bemerkenswerte
Schlussfolgerungen gezogen,
die sie in einem Alternativ-Konzept
„gemeinsamer Sicherheit“ zusammen
gefasst hat:
„In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren ökonomische, politische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen in zunehmendem Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen.“
Im nuklearen Zeitalter der gegenseitig
gesicherten Zerstörung ist Sicherheit nicht
mehr vor dem potenziellen Gegner, sondern
nur noch mit ihm, d.h. als gemeinsame Sicherheit
zu erreichen. Das knüpft unmittelbar an
die Vorstellungen einer „kollektiven Sicherheit“
an, wie sie in Art. 24 Abs. 2 GG ihren Niederschlag
gefunden haben.
Art. 24 Abs. 2 GG inhibiert zwar seit der im
Jahre 1956 erfolgten Einfügung der sog. Wehrverfassung
in das Grundgesetz, die u.a. in Art.
87a GG die verfassungsrechtliche Grundlage für
die Aufstellung der Bundeswehr (nur) „zur Verteidigung“
geschaffen hat, nicht die Möglichkeit,
sich einem Verteidigungsbündnis wie der
NATO anzuschließen und dafür eigene Streitkräfte
vorzuhalten. Die Vorschrift bleibt jedoch
unabhängig davon mit ihrem spezifischen
Regelungsgehalt weiterhin – parallel dazu –
auf ein anderes Sicherheitskonzept orientiert,
nämlich das der Eingliederung in ein System
gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Daraus
kann allerdings mit Mitteln der Verfassungsinterpretation
nicht geschlossen werden, dass
die staatlichen Organe allein von der Option
des Art. 24 Abs. 2 GG, nicht aber von Art. 87a
GG Gebrauch machen dürften. Das Grundgesetz
hat vielmehr in seinem Text parallel nebeneinander
zwei unterschiedliche sicherheitspolitische
Grundkonzepte verankert, das der
„kollektiven Sicherheit“ und das der „individuellen
und kollektiven Verteidigung“.
Die Unterschiede zwischen beiden dürfen
nicht verwischt werden, was aber durch die
zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
geschehen ist und bislang seit
Jahren weiterhin geschieht. Es ist deshalb,
zurückhaltend formuliert, hohe Zeit, sich
endlich wieder der fundamentalen Differenz
zu vergewissern, die gerade auch den Vätern
und Müttern des Grundgesetzes bei der Formulierung
des Art. 24 Abs. 2 GG bewusst war:
Es geht um die fundamentale Differenz zwischen
einem „System kollektiver Sicherheit“,
das auf „gemeinsamer Sicherheit“ der potenziellen
Konfliktparteien aufbaut, und einem
Verteidigungsbündnis, das bis heute auf Konzepte
der nuklearen (und nicht-nuklearen)
Abschreckung setzt. Hieraus müssen die notwendigen
praktischen Konsequenzen gezogen
werden. Die bisherige einschlägige Rechtsprechung
des BVerfG zu Art. 24 Abs. 2 GG trägt
leider in starkem Maße dazu bei, diese fundamentale
Differenz zu verdunkeln.
Fußnoten
-
Auszüge aus einem Vortrag, den der Verfasser auf der Konferenz
„Frieden durch Recht?“ am 26./27.6.2009 in der Humboldt-
Universität in Berlin gehalten hat. Der vollständige
Text erscheint im Septemberheft 2009 der Zeitschrift
Betrifft Justiz.
- Helmut Simon, Frankfurter Rundschau v. 06.01.2004
- Helmut Simon, Frankfurter Rundschau v. 06.01.2004
- Deiseroth nennt hier Präambel und Art. 1 GG, Art. 26 GG mit
vier Subregelungen, Art. 9 Abs. 2 GG, Art. 25 GG sowie Art.
20 Abs. 3 GG, Art. 24 Abs. 1 GG, Art. 24 Abs. 3 GG, Art. 23 GG,
Art. 24 Abs. 2 GG, Art. 20 Abs. 1 GG („Demokratiegebot“)
und schließlich Art. 24 Abs. 2 GG
- BVerfGE 90, 286 (347 - 351)
- BVerfGE 90, 349
- Vgl. dazu dazu meine Untersuchungen in: Die Friedenswarte
2000, 101 ff sowie in Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz
(Mitarbeiterkommentar) 2002, Art. 24 Abs. 2 GG Rn.
194 ff; ferner in: Wissenschaft und Frieden, 2009, S. 12 ff
jeweils m.w.N.
* Dr. Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) Leipzig.
Aus: verdikt, 1/2009, S. 8-9; im Internet: pdf-Datei (externer Link)
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