Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Streitfrage: Das Grundgesetz - Grundlage für eine emanzipatorische Gesellschaft?

Es debattieren: Prof. Dr. Andreas Fisahn, Halina Wawzyniak und Dr. Marcus Hawel

Anlässlich des 60. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichte die Tageszeitung "Neues Deutschland" drei Beiträge, die sich aus unterschiedlichen Blickrichtungen mit der deutschen Verfassung auseinandersetzen. Wir dokumentieren im Folgenden die Beiträge von:

  • Prof. Dr. Andreas Fisahn, Jahrgang 1960, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt er die LINKE bei ihrer Klage gegen den »Vertrag von Lissabon«;
  • Halina Wawzyniak, Jahrgang 1973, stellvertretende Bundesvorsitzende der Linkspartei, Bezirksvorsitzende im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, und
  • Dr. Marcus Hawel, Jahrgang 1973, Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaften der Leibniz Universität Hannover.


Partizipation der Eliten

Von Andreas Fisahn

Taugt das Grundgesetz für eine emanzipatorische Gesellschaft? Die Antwort kann nach Radio Eriwan nur lauten: »Im Prinzip ja, wenn da diese Gesellschaft nicht wäre.« Das Grundgesetz (GG) ist im Prinzip die Verfassung Deutschlands, die mit 60 Jahren die längste Geltungsdauer für sich verbuchen kann. Aber das hätte sie eigentlich nicht sein dürfen, wenn sich diese Gesellschaft an den Wortlaut des GG gehalten hätte. Das Grundgesetz sollte außer Kraft treten, wenn sich das Volk mit der Einheit Deutschlands eine neue Verfassung gibt. Das wäre vor zwanzig Jahren gewesen.

Beschlossen werden sollte eine Verfassung vom Volk. Nun hält Art. 146 GG fest, dass das GG »nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk« gilt. Das ist gut, denn es beinhaltet einen Verzicht auf weitere deutsche Gebietsansprüche. Aber wenn die Einheit vollendet ist, hätte das Volk abstimmen müssen. Die regierende Elite misstraut dem Volk - die demokratischen Exilanten misstrauten 1949 dem nazistisch verseuchten Volk und die bürgerliche Elite misstraute 1989 einem Volk im demokratischen Aufbruch. Man verzichtet auf einen Gesellschaftsvertrag, dem jedermann seine Zustimmung geben muss.

Der Makel der Entstehung wirkt fort: Das Grundgesetz enthält - anders als alle Landesverfassungen - keine Vorschriften für eine Volksgesetzgebung. Demokratie ist nach dem Grundgesetz nur repräsentative Demokratie. Die Juristen machen daraus: die Legitimation von Herrschaft durch Wahlen. Das Volk glaubt, Demokratie sei der Versuch, Herrschaft aufzuheben. Diese Meinung ist aber bisweilen stärker als die Dogmatik der Juristerei: Denn natürlich gibt es gesellschaftliche Partizipation z. B. durch Mitbestimmung, Rundfunkräte oder »konzertierte Aktionen«. Korporative Demokratie gibt es neben dem Grundgesetz - dieses verbietet sie ja nicht. Es regelt sie aber auch nicht; so kann sie zurechtgestutzt werden zur Partizipation der Eliten.

Das Grundgesetz enthält - anders als alle Landesverfassungen - keine sozialen Grundrechte, etwa das Recht auf Arbeit, Wohnen oder Bildung. Aber es enthält das Sozialstaatsprinzip. Das wurde erst klein geredet zum Staatsziel. Aber auch als Staatsziel gab es einen Anspruch auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum her, das die Obergerichte in den goldenen Jahren des Sozialstaates großzügig auslegten. Aber die Rechtsprechung wandelt sich: Urteile gegen sozialen Kahlschlag bleiben vereinzelt. Mit der Rechtsprechung wandelt sich die Verfassung.

Das Grundgesetz von 1949 war eine Friedensverfassung. Das hallt wider in Art. 139: »Die zur 'Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus' erlassenen Rechtsvorschriften« sollten in Kraft bleiben. Deutschland war entmilitarisiert. Das änderte sich mit der Wiederbewaffnung. Die Verfassung ließ durch neue Artikel eine Armee zu - aber eine Verteidigungsarmee. »Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf« steht in Art. 87a GG. Aus der Verteidigungsarmee wurde eine Parlamentsarmee, die in Jugoslawien oder jetzt am Hindukusch schießt - angeblich jenseits von Kampfhandlungen.

Umgekehrt steht auch dies seit Langem im Grundgesetz: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Deshalb blieb der Mann doch nach bürgerlichem Recht Jahrzehnte das Familienoberhaupt mit Letztentscheidungsrechten. Der Pater familias muss sich jetzt mit der Quotenregelung in den Gleichstellungsgesetzen herumschlagen - auch ein Wandel im Verfassungsverständnis. Das GG lässt es zu.

Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral. Die kapitalistische Marktwirtschaft ist nur eine mögliche Wirtschaftsform. Zulässig sind nach dem Grundgesetz auch Vergesellschaftungen wichtiger Industrien und eine demokratische, solidarische Marktwirtschaft - jedenfalls im Prinzip, aber wenn Banken verstaatlicht werden sollen, werden die Verfassungsjuristen und die herrschende Politik zickig. Ein weiterer Wandel ist wahrscheinlich - es kommt darauf an, die Richtung zu bestimmen!

Prof. Dr. Andreas Fisahn, Jahrgang 1960, studierte Rechts- und Sozialwissenschaften u. a. an den Universitäten Köln, Marburg und Göttingen und ist heute Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt er die LINKE bei ihrer Klage gegen den »Vertrag von Lissabon«. Im März 2008 erschien Fisahns Buch »Herrschaft im Wandel - Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates«.


Verlockender Gedanke

Von Halina Wawzyniak

Das Grundgesetz von heute unterscheidet sich erheblich von dem im Jahr 1949 verabschiedeten. Es wurde seit seiner Entstehung fast ausschließlich verschlechtert. Erinnert sei an die Notstandsgesetze, die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Schaffung der Bundeswehr 1956. Das Grundgesetz wurde noch von jeder Bundesregierung zurechtgestutzt oder mittelbar angegriffen. Auch Bündnis 90/Die Grünen haben kräftig mitgemacht, wie das von Hans-Christian Ströbele begründete und nur durch das Bundesverfassungsgericht gestoppte Luftsicherheitsgesetz zeigt. Das Grundgesetz wurde nicht in einer Volksabstimmung angenommen, 1990 wurde aus bornierter Arroganz westdeutscher Parteien die Entstehung einer gemeinsamen neuen Verfassung verhindert. Das alles ist ein Makel, den das Grundgesetz mit sich herumträgt. Trotz alledem - das Grundgesetz ist eine zivilisatorische Errungenschaft, und aus linker Sicht kann man sagen: Mit dem Grundgesetz ist heute demokratischer Sozialismus eher zu verwirklichen als mit Rückgriffen auf die historisch überholten und im Kern widerlegten DDR-Verfassungen.

Keine DDR-Verfassung - auch nicht die nach einer Volksabstimmung im Jahr 1968 angenommene - war die Verfassung eines Rechtsstaates. In der DDR-Verfassung war die Führung durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistischen Partei (Artikel 1) festgeschrieben und das Gesetzgebungsorgan Volkskammer entschied über die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften (Art. 89). Die Formulierung, man könne seine Meinung frei und öffentlich »den Grundsätzen dieser Verfassung nach« (Artikel 27) äußern, lief faktisch ins Leere, weil gleichzeitig die führende Rolle der Partei festgeschrieben war. Dies widerspricht demokratischem Sozialismus.

Bei der Betrachtung des Grundgesetz in heutiger Zeit fällt eines auf: Das Erreichte ist noch nicht das Erreichbare - soweit hat auch die SPD dies vermeintlich erkannt und durch ihren Vorsitzenden als Wahlgeschenk für Ostdeutsche verpackt eine Verfassung gefordert. Aber: Das Erreichbare ist nicht nur eine Frage einer neuen Verfassung! Nehmen wir für eine Sekunde an, die SPD-Überlegungen seien ernst gemeint. Wäre das ein gangbarer Weg? Dieser Weg wäre zumindest gefährlich. Er kommt nämlich emanzipatorisch daher ohne über das Desaster zu reden, in dem er enden könnte.

So verlockend der Gedanke an eine neue Verfassung ist, so bedrohlich ist das zu erwartende Ergebnis. Artikel 14 und 15 würden wohl nicht noch einmal in eine Verfassung kommen, wie die Angriffe auf diese Artikel immer wieder zeigen. Artikel 16 würde nicht wiederhergestellt, sondern die Grenzen gleich ganz dicht gemacht werden. Das Sozialstaatsgebot würde nicht untersetzt, sondern noch mehr verwässert werden. Nicht das Grundgesetz ersetzen steht deshalb auf der Tagesordnung, sondern es ergänzen und präzisieren.

Das Grundgesetz - seinerzeit als bürgerlich-westlicher Gegenentwurf zum »Sozialismus« und als Provisorium formuliert - lässt heute paradoxerweise die Möglichkeit einer demokratisch sozialistischen Gesellschaftsordnung zu. Im Mittelpunkt steht - auf dem Papier - die Würde des Menschen, und nach Artikel 14 soll der Gebrauch des Eigentums auch dem Allgemeinwohl dienen. Unter bestimmten Bedingungen sind gar Enteignungen erlaubt. Das ist eine Schlüsselbestimmung des Grundgesetzes, die verteidigt werden muss. Der Artikel 15 regelt die Vergesellschaftung. Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral - das ist gut so und muss immer wieder betont werden. Das Grundgesetz schreibt den sozialen Bundesstaat fest. Das ist ein verheißungsvoller Anfang, mehr aber nicht. Was unter Sozialstaat verstanden wird, muss genauer definiert und kann nicht der Rechtsprechung überlassen werden. Auch dazu hat die Fraktion DIE LINKE im Bundestag einen Antrag eingebracht. Wenn das Grundgesetz Realität wäre und nicht die Realität sich das Grundgesetz anpassen würde, wären wir deutlich weiter.

DIE LINKE ist für die Möglichkeit eines früheren Renteneintritts, das Grundgesetz ist trotz seiner 60 Jahre noch lange nicht reif für die Rente.

Halina Wawzyniak, 1973 in Königs Wusterhausen geboren, ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Linkspartei. 1990 trat die Juristin in die PDS ein, war von 1995 bis 1999 im Parteivorstand und stellvertretende Landesvorsitzende in Berlin. Halina Wawzyniak ist Bezirksvorsitzende im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg und Mitglied im parteiinternen Zusammenschluss »Forum demokratischer Sozialismus«.


Die alte Stadtmauer verteidigen

Von Marcus Hawel

Wenn Jubiläen gefeiert werden, steigt stets viel Trockennebel auf. Festtagsredner sind zuweilen wie Magier, die auf der Showbühne mit viel ablenkendem Spektakel aus der hohlen Hand weiße Tauben hervorzaubern. Das Jahr 2009 bietet zu solch feierlichem und starke Aufmerksamkeit erzeugendem Tamtam gleich mehrfachen Anlass: Vor 60 Jahren wurde in der alten Bundesrepublik das Grundgesetz verkündet, das heute als eine gesamtdeutsche »demokratische Erfolgsgeschichte« gepriesen wird. In dasselbe zeitgeschichtliche Kontinuum gehört die vor 90 Jahren in Kraft getretene, aber fatal gescheiterte republikanische Verfassung von Weimar. Und vor 20 Jahren leitete der Mauerfall den Zusammenbruch der DDR ein, die wie die Bundesrepublik vor 60 Jahren gegründet worden war.

Eingerahmt von lauter Scheitern gilt also das Grundgesetz als ein »Erfolgsmodell«, das der Bundesrepublik und dann dem wiedervereinigten Deutschland zu Wohlstand und einer stabilen rechts- und sozialstaatlichen Demokratie verholfen habe. Das ist zugleich richtig und falsch. Das Tamtam lenkt davon ab, dass unser Rechts- und Sozialsystem in einer tiefen Krise steckt.

Das Grundgesetz kam 1949 als ein Kompromiss zwischen antagonistischen Kräften zustande. Wenn auch die jeweiligen Länderverfassungen, deren Verabschiedung dem Grundgesetz vorausging, in manchen Fragen wesentlich emanzipativer sind, so einigte man sich doch aufgrund der unmittelbaren Erfahrung von Faschismus und Krieg auf verfassungsrechtliche Normen, die heute von manchem gerne ausgeblendet, uminterpretiert oder verleugnet werden. Wer sich vor der derzeitigen Kapitalkrise wie Politiker der Linkspartei auf die nach Art. 14 und 15 GG mögliche Enteignung bzw. Sozialisierung von Privateigentum an Produktionsmitteln »zum Wohle der Allgemeinheit« berief, wurde schon manches Mal als Verfassungsfeind bezeichnet.

Das Grundgesetz wurde mit einer antifaschistischen Feder geschrieben. Zwei ungeschriebene, aber lange Zeit wirkmächtige Präambeln charakterisieren seinen Geist: »Nie Wieder Krieg!« und »Nie wieder Faschismus!« Diese als Provisorium erdachte Verfassung hat allerdings in all den Jahrzehnten durchaus Wandlungen durchgemacht. Ersetzungen, Ergänzungen, Streichungen, gewandelte Auslegungen innerhalb der Rechtsprechung und auch die normative Kraft praktizierter Verstöße haben doch erheblich seinen Glanz verblassen lassen. Zu erinnern wäre etwa an die Wehrverfassung von 1956, an die Notstandsgesetze von 1968 und an die faktische Abschaffung des Asylrechts aus dem Jahr 1992. Der Liberale Burkhard Hirsch bezeichnete den schlichten Satz »Politisch verfolgte genießen Asylrecht« aus Art. 16, Abs. 2 GG als die »Fackel der Freiheitsstatue«; mit der Grundgesetzänderung von 1992 - fatalerweise auch noch als eine unmittelbare Antwort auf die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen gegen Asylsuchende - sei die Fackel erloschen.

Das Grundgesetz ist auch ohne brennende Fackel immer noch die beste Verfassung, die in Deutschland je wirksam gewesen ist. Sich aber der historischen Wurzeln zu erinnern, um seinen ursprünglichen Geist wiederzubeleben, ist dringend geboten. Das Grundgesetz ist ein unverzichtbarer Ausgangspunkt für die Einrichtung einer emanzipatorischen Gesellschaft, gerade in der gegenwärtigen Zeit: Für die herrschenden Eliten erweisen sich die rechtsstaatlichen Normen zunehmend als formelle Schranke, als eine unbequeme Fessel ihrer Gewaltausübung. Dann schlägt die Stunde des Dezisionismus. Der geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus, Carl Schmitt, hatte mit seiner politischen Theologie die Legitimation geliefert, nach der die Nazis an die Stelle eines verbindlichen Rechtssystems Willkür und das Recht des Stärkeren setzten. Die Suspendierung der politischen Rechte ermöglichte es den Nazis, auf scheinbar legalem Wege die in Parteien und Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen.

Schon Marx wusste sehr genau, dass die Gewähr der politischen Rechte - Meinungsfreiheit, Koalitions- und Versammlungsfreiheit, Demonstrationsrecht usw. - der Boden ist, auf dem sich weitere Emanzipation bewegen muss. Sie kann in ihrem politischen Kampf für den Sozialismus auf die bürgerlichen Freiheiten nicht verzichten und will sie deshalb nicht liquidieren, sondern dialektisch aufheben: ihren formalen Charakter abstreifen, ihren Inhalt aber bewahren und konkretisieren. Das gilt auch heute noch. Die Verfassung ist diesbezüglich ein wichtiger Bezugspunkt. Sie muss von den Linken verteidigt werden wie eine Stadtmauer.

Dr. Marcus Hawel, Jahrgang 1973, ist Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaften der Leibniz Universität Hannover, Mitherausgeber der Onlinezeitschrift »SoPos - Sozialistische Positionen« und zur Zeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studienwerk der Rosa Luxemburg Stiftung. Seine Arbeitsgebiete sind u. a. Verfassungslehre und Staats- und Demokratietheorie.

Alles drei Beiträge dieser Seite aus: Neues Deutschland, 22. Mai 2009


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