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Ihr Mann von morgen

Oder: Was der Neuen Rechten an Joachim Gauck so gut gefällt

Von Thomas Wagner *

Bei all dem, was in den vergangenen Wochen für oder gegen den zweifellos aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorgebracht wurde, drohte ein Gesichtspunkt unter den Tisch zu fallen. Der gern als Bürgerrechtler apostrophierte Freiheitsprediger Joachim Gauck ist auch für den äußersten rechten Rand der »Präsident der Herzen«. »Wir werden mit ihm positive Überraschungen erleben!«, hieß es schon unmittelbar nach seiner Nominierung durch die faktische Allparteienkoalition aus FDP, Union, SPD und Grünen auf der Homepage der Jungen Freiheit, und die kurz darauf erschienene Printausgabe der rechtslastigen Wochenpostille titelte: »Wir sind Präsident! Die Krise macht’s möglich.« (9/2012) Die ideologische Nähe Gaucks zum wichtigsten Selbstverständigungsorgan der Ultrakonservativen, Geschichtsrevisionisten und völkischen Nationalisten wird von einem ehemaligen Beauftragten für die Stasi-Unterlagen in Sachsen beglaubigt: »Fast alles, was er bisher sagte, würde gut in Ihre Zeitung passen«, sagte Siegmar Faust im Gespräch mit der Jungen Freiheit (9/2012). Die für ihre militante Islamkritik bekannte Internetplattform Politically Incorrect wiederum zeigte sich verwundert, daß mit Gauck ein ihren Positionen nahestehender Kandidat »ausgerechnet von SPD und Grünen ins Feld geschickt« wird, und Reinhard Fiala, der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende der rechtspopulistischen Partei Die Freiheit, frohlockte, mit Gaucks Wahl »gibt es wieder eine greifbare Hoffnung für unser Land!« Die Bundesgeschäftsstelle der Republikaner begrüßte die Nominierung Gaucks unterdessen als »gute Nachricht für Deutschland« (Pressemitteilung Nr. 14/12, 20.2.2012), und Manfred Rouhs, Bundesvorsitzender der »Bürgerbewegung pro Deutschland«, lobt dessen neuen Patriotismus. Darüber hinaus betont er einen Unterschied zum zurückgetretenen Amtsvorgänger Christian Wulff, der ihm besonders wichtig erscheint: »Wulff sagt, ›der Islam gehört zu Deutschland‹. Gauck bescheinigt Thilo Sarrazin, Mut bewiesen zu haben« Die Preußische Allgemeine Zeitung schließlich kommentierte am 24.2.2012: »Gauck hat mit seinem Chapeau vor Sarrazin gezeigt, daß er die echte Freiheit meint.« Einzig die NPD-Führung scherte aus dem Konsens der Ewiggestrigen aus und nahm Gaucks Mitgliedschaft im US-freundlichen Netzwerk Atlantik-Brücke e.V. zum Anlaß, seine Befähigung zur Wahrung deutscher Interessen grundsätzlich in Frage zu stellen. Die überwiegende Mehrheit der Stimmen im rechten Lager sieht es dagegen eher wie der nationalkonservative Schriftsteller Ulrich Schacht, der in der kleinen katholischen Zeitung Die Tagespost als Gaucks besondere Qualifikation hervorhob, daß er die geschichtspolitische Einäugigkeit von »vielen Wort- und Machthabern im gegenwärtigen Deutschland« nicht teile.

Der Gegen-Weizsäcker

Junge-Freiheit-Chefredakteur Dieter Stein bestätigt diese Sichtweise. Er erhofft sich von Gauck, daß dieser die Aussöhnung der Deutschen mit ihrer Geschichte forciere. »Sein Plädoyer für Vaterlandsliebe und Freiheitswillen, ein beispielgebender Patriotismus könnten die Normalisierung unserer Nation befördern. Von ihm sind intellektuelle Impulse, geschichtspolitische Akzente zu erwarten, kurz: eine geistig-moralische Führung, zu der das versammelte Bundeskabinett nicht mehr in der Lage ist.« (Junge Freiheit 9/2012) Im Zentrum steht eine umfassende Revision der deutschen Geschichte. Es geht um die Relativierung der deutschen Verantwortung für zwei verbrecherische Weltkriege mit vielen Millionen Opfern. Denn nur so, glauben nationalistische Schwärmer, könne Deutschland jenes Selbstbewußtsein erlangen, das es braucht, um sich im ewigen Kampf der Völker den ihm gebührenden Platz an der Sonne zu erstreiten. Die Autoren der Jungen Freiheit meinen zum Teil das Gleiche, bedienen sich aber einer nüchterneren Sprache. Ihnen ist es vorgeblich um eine »Normalisierung« des deutschen Geschichtsverständnisses zu tun. So will Junge-Freiheit-Autor Thorsten Hinz den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs im Jahr 2014 von einem Bundespräsidenten Joachim Gauck dazu genutzt sehen, einen »Kontrapunkt zu der Neigung zu setzen, die Linie einer ›deutschen Schuld‹ immer tiefer in die Vergangenheit zu ziehen«. (Junge Freiheit 9/2012) Bis heute nicht verschmerzt haben die Rechten jene Rede vom 8. Mai 1985, in der Richard von Weizsäcker vor dem Deutschen Bundestag die deutsche Niederlage in dem von den Faschisten entfesselten Zweiten Weltkrieg als das bezeichnete, was sie tatsächlich war: ein Akt der Befreiung durch die Truppen der Sowjetunion und der alliierten Westmächte. Für Thorsten Hinz eröffnet die Präsidentschaft Gaucks daher die Chance für eine wichtige geschichtspolitische Korrektur. Er verspricht sich von ihm die Abkehr von jener »Pflicht zur dauerhaften Sühne«, die Weiz­säcker damals »dekretiert« habe. (Junge Freiheit 10/2012) Mit der Wahl des »Gegen-Weizsäckers«, so hofft der rechte Leitartikler, könne endlich der lang ersehnte Gezeitenwechsel einsetzen.

Freund der »Vertriebenen«

Jetzt schon positiv bewertet wird, daß sich Gauck »in der Vergangenheit mehrfach an die Seite der deutschen Heimatvertriebenen gestellt« hat, so die CDU-Politikerin Erika Steinbach, die Gaucks Kandidatur in ihrer Funktion als Präsidentin des »Bundes der Vertriebenen« in einer Presseerklärung daher ausdrücklich begrüßte. Die Tatsache, »daß er sich sehr früh mit seinem Namen an die Seite unserer Stiftung gestellt hat, läßt hoffen, daß er auch in seinem hohen Amt neue Akzente der Verbundenheit mit den deutschen Heimatvertriebenen setzen wird«. Steinbachs Hoffnung ist nicht unbegründet. Schon 2006 stellte Gauck in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Erzwungene Wege« der Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« zweierlei Verhalten der alliierten Siegermächte gegenüber dem niedergerungenen Faschismus gegenüber: das der westlichen Demokratien und das der Sowjetunion. Während erstere die Saarländer in ihrer Heimat wohnen ließen, so Gauck, hätten »Stalin und das Sowjetimperium« im Osten als »brutale Feinde« geherrscht, die »die neuen Grenzen diktierten«. Von Befreiung ist in dieser Aussprache ebensowenig die Rede wie von dem millionenfachen faschistischen Mord an der sowjetischen Bevölkerung. Erst recht stört sich Gauck nicht daran, daß die Mehrheit der Gründungsfunktionäre des »Bundes der Vertriebenen« aus Nazis bestand, denen zum Teil schwere Verbrechen persönlich zugerechnet werden können und von denen manch einer in der ultrarechten Szene der BRD aktiv blieb.

Zwischen den Zeilen

Schon jetzt bemüht Gauck eine Rhetorik, die offen geschichtsrevisionistische Stellungnahmen zwar vermeidet und dennoch genug Anklänge an die Sprache der Ewiggestrigen aufweist, um eine subtile Wirkung zu entfalten. Hierhin gehört sein demonstrativer Gebrauch des Worts »Ermächtigung«, den er auf die folgende Weise zu rechtfertigen versucht: » (...) ich benutze dieses Wort ganz bewußt, obwohl mir sozialwissenschaftlich geschulte Intellektuelle manchmal geraten haben: ›Sagen Sie wenigstens Em­powerment.‹ Aber ich bestehe auf dem deutschen Wort, weil ich ›auf Deutsch‹ erlebt habe, wie sich ein Staatsinsasse verwandelt hat und durch ermächtigendes Handeln als Bürger zu existieren begann.« (Gauck 2012, 38) Daß die meisten historisch bewanderten Zeitgenossen beim Stichwort »Ermächtigung« zunächst an das »Ermächtigungsgesetz« der Nazis denken, nimmt der bei seinen Anhängern als besonders guter Redner geltende Präsidentschaftskandidat bewußt in Kauf oder kalkuliert es als unterschwellige Provokation ganz bewußt ein. Jedenfalls ist dieser eigentümliche Umgang mit Sprache bei Gauck beileibe kein Einzelfall. Bei den nächsten Beispielen deutet über die Wortwahl hinaus auch der bezeichnete Inhalt auf eine Nähe zu rechtem Gedankengut. Am 10. Oktober 2010 gab er im Fernsehkanal der Neuen Zürcher Zeitung in der Sendung »Standpunkte« seinem Verständnis für das »tiefe Unbehagen alteingesessener Europäer« gegenüber Muslimen Ausdruck. Er sagte wörtlich: »Menschen in Europa, das sehen wir überall, nicht nur in Deutschland, sind allergisch, wenn sie das Gefühl haben, daß, was auf dem Boden der europäischen Aufklärung und auch auf dem religiösen Boden Europas gewachsen ist, wenn das überfremdet wird, um einen Begriff zu verwenden, der in Deutschland verpönt ist, aber ich verwende ihn hier ganz bewußt.«

Das Zitat ist typisch für Gaucks Rhetorik. Immer dann, wenn ihm eine Behauptung zu heikel ist, um sie als eigene Meinung offen auszusprechen, legt er sie anderen in den Mund. Nun kann er Verständnis äußern, ohne dafür selbst zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Denn im Zweifel ist ja nicht er es gewesen, der die vermeintliche »Überfremdung« Europas durch Muslime kritisiert hat, sondern immer ein anderer. Der Geschichtsrevisionismus des Joachim Gauck ist indirekt, er nutzt eine zweite Ebene und entfaltet seine Wirkung vor allem »zwischen den Zeilen«. Seine Formulierungen sind gerade so mehrdeutig, daß sie ihn nicht belasten und gerade so eindeutig, daß das rechts denkende Publikum weiß, was gemeint ist. Ein Paradebeispiel für diese Rhetorik sind die Bemerkungen, die Gauck am 9. Februar 2010 im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung zu Thilo Sarrazin gemacht hat: »Er ist mutig, und er ist natürlich auch einer, der mit der Öffentlichkeit sein Spiel macht, aber das gehört dazu. Er setzt sich mit dem Mißbehagen von Intellektuellen und von Genossen seiner Partei auseinander – darunter werden viele sein, deren Mißbilligung er eigentlich nicht möchte. Nicht mutig ist er, wenn er genau wußte, einen Punkt zu benennen, bei dem er sehr viel Zustimmung bekommen wird.« Gauck bekundet Sympathie für Sarrazins vermeintlichen Mut und dessen Situation in der SPD, und er grenzt sich umgehend noch im selben Satz wieder von ihm ab. Ein und dieselbe Formulierung läßt Gauck als Befürworter und als Gegner Sarrazins erscheinen. Dem Autor von »Deutschland schafft sich ab« scheint das gut zu gefallen. »Ich hätte mir schon im Jahr 2010 Gauck als Bundespräsidenten gewünscht und bin sehr froh, daß es jetzt so kommen wird«, sagte Sarrazin laut Tagesspiegel. Im Vorwort zur Paperback-Ausgabe seines Pamphlets gibt auch er sich als jemand zu erkennen, der in der Kunst der Verstellung geübt ist. Über seine Zeit als Spitzenbeamter sagt er im Rückblick: »Ich entwickelte eine Technik darin, meine wahre Meinung ironisch zu verbergen.« (Sarrazin 2012, S. 11)

Militanter Antikommunismus

Besondere Freude bereitet den radikalen Rechten Gaucks militanter Antikommunismus. Schon in seinem Schlußkapitel zum berüchtigten »Schwarzbuch des Kommunismus« ließ der Theologe keinen Zweifel daran, daß er es gewohnt ist, die Welt sauber in Gut und Böse einzuteilen. Deshalb reichen ihm Zuschreibungen wie »absolutistisch oder despotisch« (Gauck 1998, S. 892) auch nicht aus, um die ihm verhaßten realsozialistischen Staaten in politischer Hinsicht zu charakterisieren. Für ihn folgte aus der Oktoberrevolution nichts weiter als ein »Qualitätssprung ins Negative« (ebd.) verbunden mit »gigantischen Menschheitsverbrechen« (ebd.), weshalb er »den Kommunismus« als ebenso totalitär eingestuft sehen will wie den Nazifaschismus. »Die Wahrnehmung der ›schwarzen‹ Tatsachen roter Herrschaft«, so Gauck, »läßt nur eine Einstellung zu: den antitotalitären Konsens aller Demokraten, der die intellektuelle und politische Äquidistanz gegenüber Demokratie und Sozialismus verbietet.« (ebd., S. 894) Auf der einen Seite denunziert Gauck die sozialistische Idee als angeblich nicht mit der Demokratie vereinbares Teufelszeug. Auf der anderen Seite relativiert er das mörderische Nazisystem, indem er »den Kommunismus« als ebenso totalitär einstuft. (vgl. ebd., S. 891)

Nationalkonservative Geschichtsrevisionisten wissen das sehr zu schätzen. Wenn Sozialismus und Nazifaschismus gleichgesetzt werden, erscheinen implizit jene Strömungen rechten Denkens entlastet, die sich in mehr oder weniger großer Distanz zum NS-System gesehen haben. Faschistische Abweichler und die von der heutigen Rechten verehrten Vertreter der sogenannten Konservativen Revolution können in diesem historischen Interpretationsrahmen problemlos zu antitotalitär gesinnten Regimegegnern umgedeutet werden. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, was gemeint ist, wenn der zur rechten Szene gehörende Historiker Karlheinz Weißmann begrüßt, »daß Gauck ein Antitotalitärer ist, und das heißt natürlich immer zuerst ein Antikommunist, und daß er außerdem keine Probleme hat, ein Deutscher zu sein« (Junge Freiheit 9/2012). Ulrich Schachts Lob für Gaucks Kritik an den »klassenliquidatorischen Internationalsozialisten« entspringt der gleichen Denkweise. Für ihn ist Gauck jemand, der nicht »bereit war, die totalitäre Doppelsignatur des 20. Jahrhunderts zu übersehen«.

Überspannter Begriffsgebrauch

Wenn Gauck sich unter Berufung auf Hannah Arendt darüber beklagt, daß der Totalitarismusbegriff seriösen Historikern als ein für den Systemvergleich zwischen der BRD und der DDR vollkommen untauglicher Begriff erscheint, befindet er sich damit, anders als er suggerieren will, mitnichten in Übereinstimmung zu dem, was die liberale Philosophin selbst darüber dachte. Darauf wies zuletzt Micha Brumlik richtigerweise hin. (taz, 24.2.2012). Denn Arendt stand die Gefahr eines Mißbrauchs des Begriffs zu antikommunistischen Propagandazwecken deutlich vor Augen. Deshalb empfahl sie nachdrücklich, »mit dem Wort ›totalitär‹ sparsam und vorsichtig umzugehen.« (Arendt 1986, S. 636) Was die Philosophin unter einer vernünftigen westlichen Politik verstand, hat mit Gaucks Perspektive denkbar wenig zu tun. Sie empfand es nämlich als Problem, »daß uns die Ära des Kalten Krieges eine offizielle ›Gegenideologie‹ hinterlassen hat, den Antikommunismus, welcher gleichfalls dazu neigt, einen Anspruch auf Weltherrschaft zu entwickeln«. (Arendt 1986, S. 635)

Die DDR konnte Arendt schon deshalb nicht als ein Beispiel totalitärer Herrschaft erscheinen, weil sie den Tod Stalins als den Ausgangspunkt eines Reformprozesses im gesamten sozialistischen Lager deutete. Im 1966 geschriebenen Vorwort zum dritten Teil ihres 1951 erstveröffentlichten Buchs »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« schrieb sie: »Denn wie man auch den oft verwirrenden Zickzackkurs der sowjetischen Politik nach 1953 deuten mag, es läßt sich nicht leugnen, daß das riesige Polizeiimperium liquidiert wurde, daß die meisten Konzentrationslager aufgelöst sind, daß es keine neuen Säuberungsaktionen gegen ›objektive Gegner‹ gegeben hat und daß Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern der neuen ›kollektiven Führung‹ heute nicht mehr durch Schauprozesse, Selbstbezichtigungen und Morde beigelegt werden, sondern indem man jemanden degradiert oder aus Moskau verbannt.« (Arendt 1986, S. 647)

Für solcherart Differenzierungen hat ein Mann wie Gauck nur wenig Sinn. Von Entspannungspolitik und Friedensdiplomatie hält er nicht viel. Daher muß es auch nicht überraschen, daß er heute noch gegen jene Christen polemisiert, die sich im »Kalten Krieg« für Frieden und Abrüstung einsetzten, um die Gefahr eines Atomkriegs abzuwenden. »Sie waren bereit, der guten Kontakte zu den Unterdrückern wegen die Kontakte zu den Oppositionellen zu begrenzen, und sie waren trotz eines Kommunismus mit imperialen Absichten bereit, den demokratischen Westen mental und militärisch abzurüsten. War das nicht die Fortführung einer Appeasement-Politik, deren Gefährlichkeit uns in Europa bewußt sein sollte?« (Gauck 2012, S. 45)

Woher stammt nun aber die verbale Militanz, der unversöhnliche Ton und der elitäre Dünkel eines Mannes, der sich schon von Berufs wegen der christlichen Friedensbotschaft verpflichtet fühlen müßte? Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter erinnerte kürzlich daran, daß das alte protestantische Pfarrhaus, dem Gauck sich verbunden fühlt, für ein Milieu steht, aus dem sich in der Vergangenheit vor allem demokratiefeindliche Traditionen speisten. So habe es bis 1914 Legitimationsstiftung für den Wilhelminismus und bis 1933 für die deutschnationale Rechte betrieben. »Der Anspruch des protestantischen Pfarrhauses, die Bildungsbürgerlichkeit schlechthin in Deutschland zu verkörpern und dem Staat die wichtigsten Professoren, Generäle, Diplomaten, Gymnasiallehrer und Richter zu liefern, hatte durchweg etwas Elitäres. Dieses Milieu hatte wenig Interesse an der sozialen Lage der schlechter gestellten Gesellschaftsschichten, es stand im feindlichen Kontrast zur politischen Linken und gerierte sich jederzeit dünkelhaft gegen den Sozial- und Volkskatholizismus«, schreibt Walter (Der Freitag 8, 2012).

Demokratischer Autoritarismus

Genau diese Gesinnung aber ist heute an der Spitze des Staates wieder gefragt. Gaucks Kandidatur ist symptomatisch für den fundamentalen Wandel, den Deutschland zur Zeit erlebt. Die Krise des Kapitalismus drängt die Eliten zu imperialistischen Verteilungskriegen nach außen und zu einer härteren Gangart gegenüber sozial benachteiligten Schichten nach innen. In solchen Zeiten ist an der Spitze des Staates ein Charismatiker gefragt, der die Aufgabe der Sinnstiftung übernimmt. Deshalb bezeichnete ihn Ulrich Schacht als eine »Komplementärfigur« zum »Kanzlerinnen-Pragmatismus« der Angela Merkel und im Focus (9/2012) sogar als den »Mann von morgen«. Für die äußerste Rechte ist das aber nur ein erster Schritt. Sie erhofft sich von Gauck noch mehr: die Einleitung eines politischen Systemwechsels. Anders als zum Ende der Weimarer Republik sehen viele heutige Nationalisten und Rechtspopulisten in militärischen Aufmärschen und Saalschlachten mit den politischen Gegnern aber kein erfolgversprechendes Mittel mehr, um diesem Ziel näherzukommen. Sie kämpfen statt dessen für mehr direkte Demokratie und die »Volkswahl« von Politikern.

Parteien und Organisationen, die sich der Herrschaft der Konzerne und Banken noch entgegenstellen könnten, sollen auf plebiszitärem Wege ausgeschaltet oder so weit wie möglich neutralisiert werden. »Eine Volkswahl des Bundespräsidenten hätte uns das traurige Wulff-Intermezzo wohl von vornherein erspart«, verkündete Republikaner-Chef Rolf Schlierer in einer Pressemitteilung zur Nominierung Gaucks. »Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, daß möglichst bald die umfassenden direkt-demokratischen Elemente in unser politisches System eingeführt werden«, kommentierte ein Parteigänger der rechtspopulistischen Gruppierung Die Freiheit, und Dieter Stein plädierte in seiner Jungen Freiheit (9/2012) dafür, nun endlich »die Direktwahl des Bundespräsidenten durchzusetzen. Kein anderer als Gauck könnte dies besser anpacken.«

Zitierte Literatur:
  • Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 1986
  • Gauck, Joachim, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, München 2009
  • Gauck, Joachim, Freiheit. Ein Plädoyer, München 2012
  • Gauck, Joachim, »Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung«, in: Courtois, Stéphane u. a., Das Schwarzbuch des Kommunismus, München/Zürich 1998
  • Sarrazin, Thilo, Deutschland schafft sich ab, München 2012
Von Thomas Wagner erschien zuletzt (zusammen mit Michael Zander): Sarrazin, die SPD und die Neue Rechte, edition ost, Berlin 2011, 9,95 Euro

* Aus: junge Welt, 17. März 2012


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