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Festungspolitik ist Unrecht

Flüchtlings-, Juristen- und Sozialverbände fordern die Bundesregierung zu Gesetzesänderungen auf

Von Claus Dümde *

Deutsche Asylgesetze widersprechen europäischen Grundrechten. Dies bestätigt ein Rechtsgutachten. Flüchtlings-, Juristen und Sozialverbände forderten daher jetzt die Bundesregierung auf, das deutsche Asylrecht umgehend zu ändern.

»Unter Verdacht« heißt eine ZDF-Krimiserie. In der Anfang März ausgestrahlten Folge wird ein deutscher Polizist, der vor Italien auf einem Schiff der EU-Grenzschutztruppe »EuroBordac« Dienst tat, tot aus dem Mittelmeer gefischt. Da dessen Vater, im Film Ex-Polizeipräsident Münchens, nicht an einen Unfall glaubt, werden zwei Ermittler in Marsch gesetzt. Sie finden am Ende nicht nur den Mordverdacht bestätigt, sondern werden auch Augenzeugen, wie die »Grenzschützer« auf hoher See afrikanische Flüchtlinge in einem havarierten Boot statt zu retten ihrem Schicksal überlassen - nachdem sie die Schaluppe noch leck geschlagen und die letzte Habe der Insassen ins Wasser geschmissen haben ...

Fiktion? Klar, doch der von einer früheren Dokumentarfilmerin gedrehte Krimi wirkt beklemmend realistisch. Einschließlich der nebenbei erzählten Vertuschungsgeschichte. Denn von 1500 Ertrunkenen im Mittelmeer allein 2011 berichtet das Flüchtlingswerk der UNO. Wie viele auf das Konto krimineller Schlepper und wie viele auf das von FRONTEX kommen, wie die »Grenzschutzagentur« der EU tatsächlich heißt, ist unbekannt, letztlich aber unerheblich. Denn so oder so sind sie Opfer jener gerade von Deutschland geforderten und geförderten Politik einer »Festung Europa«, die Flüchtlingen und Asylsuchenden ihre im Völkerrecht verankerten Rechte verweigert. Entweder physisch, wie im Beispiel des Films, oder juristisch-administrativ, indem man ohne jeglichen oder hinreichenden Rechtsschutz ihre Abschiebung in Herkunfts- oder Transitländer betreibt.

In einem Grundsatzurteil der Großen Kammer des EuGH geht es speziell um Letzteres: Nach Artikel 4 der EU-Grundrechtecharta obliege es den Mitgliedstaaten, einen Asylbewerber nicht an den Mitgliedstaat zu überstellen, der nach der sogenannten Dublin-II-Verordnung Nr. 343/2003 eigentlich zuständig wäre, wenn dort systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestünden. Ob diese bestehen oder nicht, lässt sich dem Gericht zufolge daran messen, ob der Antragsteller Gefahr läuft, »einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden«. Deswegen hat der beim Europarat angesiedelte Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht nur Italien im Februar wegen der Rückschiebung von Bootsflüchtlingen nach Libyen verurteilt, sondern kürzlich auch die Abschiebung eines Sudanesen von Österreich nach Ungarn - beides EU-Staaten - gestoppt.

In Deutschland wird es hingegen Asylsuchenden noch immer sogar per Gesetz verwehrt, sich gegen eine solche Abschiebung in einem Eilverfahren zur Wehr zu setzen. Daher sieht ein von mehreren Organisationen in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten, das die Folgen eines Grundsatzurteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 21. Dezember 2011 untersucht, weitreichenden gesetzlichen Handlungsbedarf. Zu den Initiatoren des Gutachtens zählen Amnesty International und Pro Asyl, Neue Richtervereinigung und Deutscher Anwaltverein, aber auch Arbeiterwohlfahrt, Charitas und Diakonie. In einem gemeinsamen Schreiben an Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und seine für Justiz zuständige Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) haben diese inzwischen einen besseren Rechtsschutz für Asylsuchende gegen Abschiebungen in andere EU-Länder gefordert.

* Aus: neues deutschland, 12. März 2012


Trostlose Kasernen

Nach dem Suizidversuch eines jungen Afghanen wird in Bayern über Asylbewerberheime gestritten **

In dieser Woche wird in München über Verbesserungen für Flüchtlinge verhandelt, die in der Bayernkaserne untergebracht sind. Sprecher der Asylbewerber war bislang ein junger Afghane. Doch in der vergangenen Woche versuchte der 17-Jährige, sich zu erhängen.

Nach dem Suizidversuch eines 17-jährigen afghanischen Asylbewerbers in der Münchner Bayernkaserne stehen die Gemeinschaftsunterkünfte erneut in der Kritik. Der bayerische evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sagte, solche Unterkünfte könnten »keine dauerhafte Lösung sein«.

Der Würzburger Suizidexperte Armin Schmidtke verwies auf mehrere ausländische Studien, wonach die Unterbringung in solchen Einrichtungen die Selbstmordgefahr deutlich erhöhe. Der 17-Jährige wurde zunächst in eine Klinik eingewiesen, er wird psychiatrisch betreut.

Der Junge, der seit rund fünf Monaten in der Bayernkaserne untergebracht war, hatte in der vergangenen Woche versucht, sich zu erhängen. Der Suizidversuch konnte von Sozialbetreuern der Inneren Mission und dem Wachdienst gerade noch verhindert werden. In den vergangenen Wochen war der Afghane als Sprecher einer Gruppe von Asylbewerbern aufgetreten, die Verbesserungen für die Flüchtlinge in der Bayernkaserne gefordert hatten. Diese Gespräche sollen in dieser Woche jedoch fortgeführt werden, kündigte Sprecher Klaus Honigschnabel von der Inneren Mission München auf epd-Anfrage an.

Seit Jahresbeginn häufen sich die Zwischenfälle in bayerischen Flüchtlingsunterkünften: Ende Januar hatte sich in der Würzburger Gemeinschaftsunterkunft ein offenbar traumatisierter iranischer Asylbewerber das Leben genommen.

Hungerstreik im Januar

Ebenfalls im Januar waren in der Münchner Erstaufnahmeeinrichtung über 40 jugendliche Afghanen in einen einwöchigen Hungerstreik getreten. Sie forderten damit unter anderem bessere Bildungsangebote mit Deutschkursen sowie eine schnellere Verlegung in Anschlusseinrichtungen. Der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sagte dem epd, er sei von dem Vorfall sehr betroffen. Gemeinschaftsunterkünften könnten keine dauerhafte Lösung sein, betonte Bedford-Strohm. Der Umzug in ein normales Wohnumfeld solle erleichtert werden. Dies sei der »beste Weg«, um Flüchtlingen ein vernünftiges Wohn- und Lebensumfeld zu bieten, das Verzweiflungstaten wie diese verhindern könne.

Der Würzburger Seniorprofessor für Psychologie, Armin Schmidtke, forderte eine bessere psychologische Betreuung von Flüchtlingen. Diese müsste allerdings am besten in der jeweiligen Muttersprache und von Landsleuten angeboten werden. In anderen Kulturkreisen äußerten sich bestimmte psychologische Probleme in anderen Symptomen als bei Europäern, erläuterte er. Schmidtke verwies außerdem auf Studien, wonach Asylsuchende in australischen Gemeinschaftsunterkünften ein 26 bis 41 Mal höheres Suizidrisiko hätten als die übrige Bevölkerung.

Viele Flüchtlinge erlebten während ihres Asylverfahrens einen monate- oder sogar jahrelangen Status der Unsicherheit. Die Perspektivlosigkeit sei enorm, es gebe oft nichts, was den Menschen in dieser trostlosen Situation als Lichtblick diene, so Schmidtke. Auch Retraumatisierungen seien durch eine Unterbringung in ehemaligen Kasernen denkbar. Aus Dänemark gebe es ebenfalls Studien zu Suizidraten bei Asylbewerbern. Diese hätten zwar nicht wie in Australien im hohen zweistelligen Bereich über denen der übrigen Bevölkerung gelegen, aber dennoch 3,4 Mal höher.

Ministerium bleibt hart

Eine Sprecherin des für die Asylbewerber zuständigen bayerischen Sozialministeriums sagte, Bayern halte weiterhin an dem Grundsatz der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften fest. Auch in Bayern sei aber unter bestimmten Voraussetzungen der Umzug in eine Privatwohnung möglich, davon machten etwa 50 Prozent der Asylbewerber Gebrauch. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sei »bundesrechtlich vorgegeben«, heißt es in einer Stellungnahme des Sozialministeriums.

** Aus: neues deutschland, 12. März 2012


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