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20 Jahre (Wieder-)vereinigung - oder Beitritt - oder Anschluss?

Im August und September 1990 überschlugen sich die Ereignisse. Zwei Beiträge zu jüngsten Geschichte Deutschlands von Kurt Schneider und Jörg Roesler


Der nicht beschlossene Beitritt

Vor 20 Jahren: Hektik und Nervosität im Einigungsprozess nehmen zu, inklusive Pannen

Von Kurt Schneider *


Im August/September 1990 überschlagen sich die Ereignisse. Am 15. August demonstrieren vor der Volkskammer und auf dem Alexanderplatz in Berlin rund 250 000 Bauern gegen den drohenden Zusammenbruch der DDR-Landwirtschaft. Am 16. August wird Finanzminister Romberg durch DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Finanzierung der deutschen Einheit entlassen. Am 19. August folgt der Austritt der SPD aus der Großen Koalition. Die Liberalen haben bereits am 24. Juni ihre Unterstützung (jedoch nicht ihre Minister) der Regierung entzogen. Die »Allianz für Deutschland« regiert die verbleibenden sieben Wochen allein und besetzt die Ministerien doppelt. Am 20. August tritt der Treuhandchef Reiner Maria Gohlke zurück, da die Privatisierung der DDR-Staatsbetriebe viel komplizierter und langwieriger sei, als von der Politik angenommen. Nachfolger wird Detlev Karsten Rohwedder.

Die Hektik nimmt zu, die Nerven liegen blank. An allen Ecken und Kanten treten immer deutlicher Ungeklärtes, Ungereimtes, Unausgegorenes im Einigungsprozess zu Tage. An Dramatik sind die Ereignisse kaum noch zu überbieten. Peinliche Pannen sind da nicht ausgeschlossen

Als am 8. August von der Volkskammer in Vorbereitung der ersten gesamtdeutschen Wahl das gemeinsame Wahlgesetz beschlossen werden soll, fehlt nach heißer Debatte die dafür notwendige Stimmenzahl. Am nächsten Tag, 7 Uhr in der Frühe, ruft der auf Tempo bedachte, höchst erzürnte Bundeskanzler Helmut Kohl den Minister im Amt des Ministerpräsidenten, Klaus Reichenbach, an und sagt: »Was habt ihr denn gestern für einen Scheißdreck in Eurer Volkskammer gemacht?«

Am 22. August 1990 tagt die Volkskammer erneut. Auf der Tagesordnung steht nochmals das Wahlgesetz, das diesmal mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen wird. Obwohl schon später Abend ist, stellt de Maizière – für den »vom ersten Moment an« gilt, »nicht zu vergessen, dass wir eine Aufgabe haben, die lautet, wir müssen uns selbst überfällig machen, wir müssen uns abschaffen« – für alle Fraktionen überraschend den Antrag, eine Sondersitzung zum Thema »Termin des Beitritts der DDR zur BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes« einzuberufen. Nach Beratung des Präsidiums, in der de Maizière die Sondersitzung noch am gleichen Tag beantragt, wird beschlossen, sie für 21 Uhr anzusetzen. Da es dafür von de Maizière keine zu beratende Vorlage gab, entschied man sich, die bereits am 17. Juni an den Ausschuss Deutsche Einheit zur Behandlung überwiesenen Anträge wieder hervorzuholen und als Beratungsgrundlage zu nutzen. In dieser fieberhaften Situation kommt der zutiefst erregte Wolfgang Ullmann auf de Maizière zu und sagt ihm, er würde jetzt zum Generalstaatsanwalt der DDR gehen und ihn anzeigen, denn was er vorhätte, »das wäre Hochverrat«.

Es folgt vor laufenden Kameras eine turbulente Debatte. In und zwischen den Fraktionen gibt es hektische Aktivitäten, aus denen sich einzig die PDS raushält. Reinhard Höppner, der die Sitzung leitet, erklärt: »Passt auf, ich werde diese Sitzung nicht schließen, bevor wir nicht einen Beitrittstermin beschlossen haben. Und wenn das nachts um drei oder vier Uhr ist, ist mir völlig egal.«

Schließlich, am 23. August 1990, um 3 Uhr nachts, nimmt das Parlament der DDR folgende ad hoc formulierte Beschlussvorlage an: »Die Volkskammer beschließt den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zum 3. Oktober ...« Kurioserweise ist nach diesem Text nicht die DDR, sondern die Volkskammer beigetreten. Als Gregor Gysi den Leiter der Abstimmung, Höppner, darauf aufmerksam macht, schaut dieser verwundert auf seinen Zettel und stellt fest: In der Tat, dass die DDR beitritt, steht nicht im Abstimmungstext. Rückblickend schreibt Höppner: »Um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, entgegnete ich ihm: ›Macht nichts, dass korrigieren wir im Protokoll‹.« Später räumt er ein: »Wir haben das im Protokoll korrigiert, aber beschlossen haben wir es nicht.«

Der nicht beschlossene Beitritt der DDR verdankt sich dem unvernünftigen Tempo, mit dem der Abschluss durchgepeitscht werden sollte. Es sollte keinen 41. Jahrestag der DDR mehr geben. Eine Woche später, am 31. August 1990, wird in Berlin der Einigungsvertrag unterschrieben.

Dass der Beitrittsbeschluss gefasst wurde, bevor der Einigungsvertrag abgeschlossen war, löste sofort Kritik aus. Markus Meckel, der nach dem Bruch der Koalition nicht mehr Außenminister war, erinnert sich: »Ich war damals empört darüber, wie man die eigene Souveränität in einem Verhandlungsprozess aufgeben kann, bevor der Vertrag abgeschlossen ist. Weil klar ist, mit einem solchen Beschluss schwächt man noch einmal zusätzlich die eigene Position in den Verhandlungen. Ich bin dann in der Nacht auch gegangen, habe an der Abstimmung zum Beitritt nicht teilgenommen aus Wut über diesen Ablauf.« Und Jens Reich, der Nein zur Währungsunion, zum Einigungsvertrag und dann zur Vereinigung gesagt hatte, erklärt: »Ich war nicht informiert. Ich hätte nicht zustimmen können, denn das wäre reiner Opportunismus gewesen.«

In der BRD hatte die Initiative, die Einheit nach Artikel 146 des Grundgesetzes herzustellen, Zustimmung bei der SPD gefunden, in der DDR gaben Bündnis 90 und PDS diesem Weg den Vorrang. Der Mehrheit der Bevölkerung schien es jedoch im Einheitsrausch irrelevant, ob die Einheit nach Artikel 23 oder nach einem anderen Artikel hergestellt wird. De Maizière, der sich bei Amtsantritt geweigert hatte, einen Eid auf die Verfassung der DDR abzulegen und den Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches abgelehnt hatte, aber im April 1990 noch von einer Übergangszeit von mindestens zwei Jahren ausgegangen war, hat erfolgreich darauf hingewirkt, das Ende DDR innerhalb weniger Monate herbeizuführen.

* Aus: Neues Deutschland, 4. September 2010


Das gefürchtete, missliebige Wort

Vereinigung oder Anschluss? – Das ist hier die Frage

Von Jörg Roesler **


Der wegen Verwendung des Wortes »Anschluss« derzeit heftig attackierte brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck kann sich bestärkt fühlen – er befindet sich in guter Gesellschaft. Wolfgang Ullmann, der Vater der letzten, nicht mehr angenommenen DDR-Verfassung, sprach ebenfalls davon. Und auch für renommierte Wissenschaftler im Ausland ist dies eine korrekte Bezeichnung.

Der Begriff »Anschluss« wünsche er nicht zu hören, wenn es um die Währungsunion und die Wirtschaftsgemeinschaft der Bundesrepublik mit der DDR gehe, äußerte Helmut Kohl, als er am 13. Februar 1990 eine DDR-Regierungsdelegation unter Leitung von Hans Modrow empfing. Anlass der Rüge war das Auftreten des Ministers ohne Geschäftsbereich und Mitglieds der Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt« Wolfgang Ullmann. Der hatte sich nicht diplomatisch zurückgehalten, als der Bundeskanzler den DDR-Vertretern seine Vorstellungen über eine rasche Wiedervereinigung, eingeleitet durch eine Währungsunion servierte. Ullmann sprach von »Anschluss«.

Warum das Mitglied des Runden Tisches für Kohls Vereinigungspläne diesen Begriff gewählt hatte, lässt sich anhand des »Drei-Stufen-Plans zur Einigung« erklären, den die Bürgerbewegung am 14. Dezember 1989 veröffentlicht hatte. Darin hatte »Demokratie Jetzt« ihre Vorstellungen vom Zustandekommen der deutschen Einheit so formuliert: »Diese neue Einheit kann nur das Ergebnis eines Prozesses der gegenseitigen Annäherung und der politischen und sozialen Reformen in beiden deutschen Staaten sein.« Dieser bevorzugten Art des Zusammengehens beider deutscher Staaten stellten die Bürgerrechtler den »Anschluss« gegenüber, unter dem sie die rasche und vollständige Übernahme des bundesdeutschen Gesellschaftsmodells verstand. »Nach unserer Überzeugung kann eine ›Wiedervereinigung‹ durch einen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland die deutsche Frage nicht lösen«, hieß es im Drei-Stufen-Plan.

Gerade jenen Weg zur deutschen Einheit hatte das Bundeskabinett aber am 6. Februar 1990, also wenige Tage vor dem Besuch der DDR-Regierungsdelegation in Bonn, eingeschlagen, als es die Bildung eines Kabinettsausschusses »Deutsche Einheit« unter Vorsitz des Bundeskanzlers beschloss. Aufgabe dieses Ausschusses war es, für die Zeit nach den Wahlen vom 18. März 1990 die Durchführung einer Währungsunion, die »Angleichung der Arbeit- und Sozialordnung«, die »Rechtsangleichung«, die Übernahme der Staatsstrukturen usw., kurz, den Beitritt der DDR zur BRD entsprechend Artikel 23 des Grundgesetzes (GG) vorzubereiten.

Warum aber Kohls Unmut über die Verwendung des Begriffs »Anschluss« durch Ullmann zur Charakterisierung seiner Deutschlandpolitik? Zumal der Gebrauch des vom Kanzler vehement bekämpften Begriffes intern durchaus möglich war und keine Kritik hervorrief. So geschehen etwa während des »deutschlandpolitischen Gesprächs« beim Chef des Bundeskanzleramtes Rudolf Seiters am 24. Januar 1990 in Bonn, im Verlauf dessen Klaus Kinkel, damals Staatssekretär im Bundesjustizministerium, sich zu den Möglichkeiten eines »sofortigen Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik« äußerte. Die Frage nach Kohls Unmut lässt sich aus Kenntnis eines Gesprächs, das der Bundeskanzler mit US-amerikanischen Senatoren führte, beantworten. Im Protokoll des Gesprächs wird Kohl wie folgt wiedergegeben: »Der Weg über Art 23 GG sei … kein ›Anschluss‹, wie dies immer wieder im Hinblick auf Österreich 1938 insinuiert werde. Es handele sich um eine freie Entscheidung, die von der DDR zu treffen sei.«

Wie war das mit dem Anschluss der Republik Österreich an Hitlerdeutschland? Am 12. März 1938 war die Wehrmacht in Österreich einmarschiert. Unmittelbar danach setzte die Verfolgung von Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden ein. Am 13. März beschloss die seit dem 11. März in Wien installierte Regierung des Nationalsozialisten Seiß-Inquart ein Gesetz über die »Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich«. In den folgenden Tagen begann die Übernahme der deutschen Reichsgesetze. Bereits am 19. März wurden die österreichischen Bundesländer in den Göringschen Vierjahresplan einbezogen. Gleichzeitig begann die Übernahme der reichsdeutschen Wirtschaftsgesetzgebung. Der Schilling wurde durch die Reichsmark ersetzt, das österreichische Aktien- und Handelsrecht dem deutschen angeglichen.

Das Überstülpen reichsdeutscher Gesetzgebung auf Österreich im politischen, juristischen, sozialen und ökonomischen Bereich dürften Ullmann und andere Vertreter von »Demokratie Jetzt« vor Augen gehabt haben, als sie einen »Anschluss« der DDR an die BRD ablehnten.

Der in den ersten Monaten des Jahres 1990 wiederholt von Politikern im Osten geäußerte Vorwurf, die Bundesregierung wolle die deutsche Einheit auf dem Weg des Anschlusses vollziehen, muss die bundesdeutsche Führung doch mehr beunruhigt haben, als sie nach außen zuzugeben bereit war. Jedenfalls fanden sich am 27. Februar 1990 mehrere Ministerialbeamten zusammen, um »Überlegungen zu verfassungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Einigung Deutschlands« auszutauschen. Sie arbeiteten laut Protokoll auch eine Argumentation gegen den »Anschein des ›Anschlusses‹« aus. Die Bezeichnung »Anschluss« sei deshalb »unzutreffend«, so die Argumentation, weil es sich im Falle der DDR um einen »freiwilligen Beitritt« handeln werde. Deshalb sei eine »Verwechselung mit einem ›Anschluss‹ eigentlich ausgeschlossen«.

Die Argumentation der Bonner Ministerialbeamten gegen die Verwendung des missliebigen Begriffes beruhte allein auf der Gegenüberstellung von freiwilliger und zwangsweiser Eingliederung. Sie ignoriert die tatsächliche »Überstülpung« der politischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur des »Hauptlandes« auf das Anschlussgebiet. Doch es ist gerade diese Seite, in der die Ähnlichkeiten des Einigungsgeschehens von 1938 und 1990 groß sind. Die Unterschiede beschränken sich weitgehend auf die Geschwindigkeit des Vollzugs – im Falle Österreichs handelte es sich um Wochen, im Falle der DDR um Monate.

Als der Professor für moderne Geschichte an der Cambridge-University und Deutschlandspezialist Richard Evans über die deutsche Vereinigung von 1990 schrieb, sie sei »less a true unification than an Anschluss« (eher ein Anschluss als eine wirkliche Vereinigung) gewesen, hatte er den fast vollständigen Umbau der DDR-Strukturen auf die der Bundesrepublik vor Augen. Das deutsche Wort »Anschluss« zur Charakterisierung der Vereinigung von 1990 ist auch von anderen englischsprachigen Autoren verwendet worden. So hat der Havard-Professor Charles S. Maier in seinem 1997 in den USA erschienenen Buch über das Ende der DDR einem Kapitel den Titel »Anschluss and Melancholy« gegeben, in dem er auf die von großen Teilen der DDR-Bevölkerung mit der »Wiedervereinigung« gehegte und bald enttäuschte Hoffnung eingeht, durch Übernahme der bundesdeutschen Marktwirtschaft rasch zum westdeutschen Wohlstandsniveau aufzuschließen.

Schaut man einmal die Darstellung des Einigungsgeschehens durch die maßgeblichen Historiker der Bundesrepublik an, dann wird man gewahr, dass sie die im Februar 1990 von der Bundesregierung vorgegebene Sprachregelung bis heute befolgen, d. h. es wird die Verwendung des Begriffes »Anschluss«, mit dem in der modernen Geschichtsschreibung häufig eine rasche und fast vollständige Angleichung der gesellschaftlichen Strukturen des übernommenen Gebietes nach dem historischen Beispiel Österreichs charakterisiert wird, peinlichst vermieden.

Es ist an der Zeit, sich von dieser Vorgabe zu lösen. Zweifellos gehört Mut dazu, Anschluss zu nennen, was ein Anschluss war – der Mut zum Tabubruch.

** Aus: Neues Deutschland, 4. September 2010


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