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Würde und Maskerade

Fortschritt oder Konterrevolution? In der jW-Ladengalerie wurde die Volksrepublik China diskutiert

Von Manfred Lauermann *

Die Frankfurter Buchmesse brachte durch die Wahl der VR China zum Gastland einigen Trouble mit sich, der nostalgisch an den Kalten Krieg erinnerte. Erwartungsgemäß erschienen etwa drei Dutzend China-Bücher, darunter drei, die sich in der marxistischen Tradition sehen. Nun konnte man gespannt sein, wie die drei Protagonisten ihre Lesarten in einem Streitgespräch verteidigen würden, das am 17. Dezeber 2009 in der jW-Ladengalerie veranstaltet wurde.

Auf dem Podium saßen die Politologin Renate Dillmann, der Sinologe Helmut Peters, früher Leiter des Forschungsbereiches China an der Akademie der Gesellschaftswissenschaften der DDR und der letzte Botschafter der DDR in Peking, Rolf Berthold.



Siehe auch folgende Beiträge:
  • Ein fragwürdiges Lehrstück
    China - eine imperialistische Macht? Antworten an Renate Dillmann. Von Helmut Peters (22. Dezember 2009)
  • Großmacht China?
    Das Reich der Mitte und die USA – eine imperialistische Konkurrenz neuen Typs. Von Renate Dillmann (22. Dezember 2009)


Die Schüsselfrage war einfach. Ist die Entwicklung Chinas nach der 3. Revolution seit der Staatsgründung 1949, nach der Kulturrevolution 1966ff., durch Deng Xiaoping nach 1978, geprägt durch die offensive Übernahme kapitalistischer Strukturen, eher eine Konterrevolution? Wird der sozialistische Grundcharakter beibehalten, unterstellt man die Ziele der KP Chinas und analysiert wie Peters langfristige Prozesse über 50 bis 100 Jahre? Oder werden die schon nach 1949 vorhandenen kapitalistischen Elemente (Warenproduktion!) nun kenntlich, ist, wie Dillmann ausführte, der Sozialismus mit chinesischem Antlitz Illusion, wenn nicht gar Maskerade für die Geburt eines neuen kapitalistischen Imperialismus? Der dritte Diskutant konnte kaum einen Widerspruch erkennen, Berthold hält die KP Chinas für mächtig genug, den geschichtlichen Prozeß zu planen und die kapitalistischen Momente der sozialistischen Substanz problemlos zu unterwerfen. Seine stoische Gewißheit ist: Hätte die SED (und die KPdSU) 1989 eine ähnliche Potenz gehabt, wäre die Konterrevolution gescheitert.

Peters sah eine neue chinesische Theorie wie Praxis von Entwicklung, denn der nachmaoistische Ausgangspunkt bestand in der Alternative einer weiteren Isolation nach Wegbruch der sozialistischen Länder oder der konsequenten Einbettung in den kapitalistischen Weltmarkt. Das Wirtschaftswunder - seit zehn Jahren Wachstumsraten um zehn Prozent, Staatsüberschuß von mehr als zwei Billionen US-Dollar, die Herausführung von 300 bis 400 Millionen Bauern aus totaler Armut - beweise die Richtigkeit des chinesischen Weges »auf der Furt« zu einem Sozialismus, der allgemeinen Wohlstand realisiert. Der Begriff einer Entwicklungsdiktatur, die (noch) viele autokratische Züge aus der chinesischen Geschichte (einschließlich Mao/Deng) enthalte, die eine gesamtgesellschaftliche Planung durch wissenschaftliche Begleitung und Beratung ermöglicht, kennzeichne China heute.

Ganz anders Dillmann. Das »Lehrstück« China beweise das Gegenteil. Die Einbettung in den kapitalistischen Globalisierungsprozeß bringe einen mit den USA vergleichbaren Imperialismus hervor, der noch, weil neu auf der Weltbühne sich als friedlich ausgibt, einen Imperialismus, der wie der klassische als innere Seite den Kapitalismus benötige. Diese Diagnose traf im Publikum auf erheblichen Widerspruch. Wer führt denn die gegenwärtigen Kriege? Sind die Beziehungen Chinas etwa zu Afrika nicht geprägt von gegenseitiger Achtung? Ist es nicht unhistorisch, mit solchen, zudem kaum definierten Begriffen zu operieren? Dillmann war nicht bereit, ihre scharfe Kritik an Warenproduk­tion im Sozialismus theoretisch näher zu erklären, ihr reichte das Aussprechen der ekligen Wörter Ware, Preis, Gewinn, Kredit. Nachvollziehbarer ist ihre Kritik an dem paternalistischen, dem vormundschaftlichen Sozialismus, den China in die Begrifflichkeit einer »harmonischen Gesellschaft« verkleidet. Gepaart mit einer Verherrlichung von Nation, so ihre massive Kritik, unterwerfe die Partei den Staat allen kapitalistischen Implikationen, die vorstellbar sind. Entkollektivierung der Gesellschaft, Vorrang materieller Interessen, ja Förderung kleinbürgerlicher Eigentumsmentalität Ausdrücke einer Geburt des Kapitalismus unter der Hülle eines Sozialismus. Kaum verwunderlich seien Arbeitsverhältnisse, wo der Lohn unter dem Lebensminimum liege (Wanderarbeiter), der Weltrekord von Arbeitsunfällen und nicht zuletzt die katastrophale Umweltzerstörung durch hemmungslose Industrialisierung.

Die Diskussion wurde nach dieser, wie einige meinten, Provokation lebhaft geführt. Bestätigt wurden oft Dillmanns Phänomenbeschreibungen, teilweise erweitert, angezweifelt dagegen ihre Einordnung in ihr Schema, was doch verdächtig nach Robert Kurz aussah, nämlich die Verwerfung des Sozialismus als bloße nachholende Industrialisierung. Die »Würde der - chinesischen - Realität« (Peter Hacks) wurde von Peters in seiner Gegenreplik angemahnt. Man soll sich von europazentristischen Wahrnehmungen distanzieren, um die Widersprüchlichkeiten des Geschichtsprozesses zu begreifen. Es blieb, typisch für deutsches akademische Geplänkel, (so Berthold) ein philosophisches Problem übrig: Ist das Wirkliche vernünftig, wird die Vernunft wirklich (so mit Hegel wohl Peters), oder ist das Argument mit Geschichte und mit Realität nicht immer affirmativ, gleich ob es die kapitalistische BRD oder China meint, so die kritische Kritikerin Dillmann.

Helmut Peters: Die VR China - Aus dem Mittelalter zum Sozialismus. Neue Impulse Verlag, Essen 2009, 580 Seiten, 19,80 Euro

Renate Dillamnn: China - Ein Lehrstück. VSA Verlag, Hamburg 2009, 388 Seiten, 22,80 Euro

Rolf Berthold: Chinas Weg - 60 Jahre Volksrepublik. Wiljo, Berlin 2009, 302 Seiten, 12 Euro


* Aus: junge Welt, 21. Dezember 2009


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