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Festhalten an Atomkraft

Kein Umdenken: China will trotz Katastrophe in Japan 26 neue AKW bauen – mit nicht erprobten Pilotanlagen. Neue Reaktoren auch in Taiwan und Südkorea

Von Wolfgang Pomrehn, Hongkong *

Ein Jahr nach dem Beginn der Reaktorkatastrophe in der Nähe des japanischen Küstenstädtchens Fukushima ist die Entwicklung der Atomindustrie in Ostasien äußerst widersprüchlich. In Japan suchen die involvierten Unternehmen nach Wegen zurück ins Geschäft, treffen aber auf hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung und lokaler Politiker. In Südkorea, Taiwan und insbesondere in China wird jedoch an den Ausbauplänen festgehalten. In China sind derzeit 26 Atomkraftwerke mit zusammen rund 30 Gigawatt (GW) Kapazität im Bau. Obwohl es nach den Ereignissen in Japan zunächst einen Stopp für weitere Pläne gegeben hat, wird nach wie vor angestrebt, die nukleare Kapazität bis 2020 auf 60 bis 70 GW zu erhöhen. Dafür müßten rund 20 zusätzliche Meiler gebaut und in Betrieb genommen werden.

Angesichts der üblichen Bauzeiten von AKW, die in Deutschland nahezu ausnahmslos über fünf Jahren und oft bei acht bis zehn Jahren lagen, ist allerdings fraglich, ob das Ziel erreichbar ist, und wenn ja, ob die Eile nicht auf Kosten der Sicherheit geht. Zumal viele der gebauten Reaktortypen bisher unerprobt sind. Das gilt sowohl für die in China entwickelten neuen Konzepte als auch die aus Kanada, Rußland und Frankreich importierten Pläne.

Der französische AKW-Bauer und Uranminenbetreiber Areva verkauft in der Volksrepublik sogenannte EPR-Kraftwerke. Die Abkürzung steht für European Pressurized Reactor, sinngemäß übersetzt Europäischer Druckwasserreaktor. Dabei handelt es sich um eine neue, über den grünen Klee gelobte Baureihe, die nur einen kleinen Makel hat: Mit ihr gibt es bisher so gut wie keine praktische Erfahrung, denn ein solcher Wunderreaktor ist nämlich bislang nirgends in Betrieb gegangen. In Frankreich wird noch am ersten Exemplar gebaut, und auch in Finnland verzögert sich die Fertigstellung ein ums andere Mal. Seit 2005 bauen dort Areva und die deutsche Siemens AG; die Inbetriebnahme ist für 2015 geplant. Statt der ursprünglich verabredeten drei Milliarden wird der Bau in Finnland bis zu 6,6 Milliarden Euro verschlingen, vielleicht aber auch mehr, denn die Schätzungen gehen seit Jahren immer weiter nach oben. Zwischen den beiden Unternehmen schwelt seit geraumer Zeit Streit darüber, wer die Mehrkosten übernehmen soll, denn mit den Bauherren war ein Festpreis vereinbart worden. Anders hatte man offensichtlich keinen Abnehmer finden können.

Keine gute Referenzen für den Export, aber bisher haben sich Arevas chinesische Auftraggeber nicht abschrecken lassen. Eine andere Frage ist allerdings, welchen Sinn die chinesischen Ausbaupläne machen. Derzeit sind im Reich der Mitte 16 Meiler am Netz, die mit ihrer Leistung von zusammen rund zwölf Gigawatt gerade mal 1,85 Prozent des benötigten Stroms liefern. Da der Bedarf an elektrischer Energie rasch wächst, wird der Beitrag der Kernspaltung – selbst, wenn alle Ausbaupläne tatsächlich umgesetzt werden sollten – bis 2020 kaum über fünf Prozent des heutigen Verbrauchs steigen. Eine Menge, die auch durch Energieeinsparung erreicht werden könnte. Denn trotz aller Verbesserungen auf diesem Gebiet liegt China in Sachen Energieeffizienz noch immer weit hinter den Industrieländern.

Derweil werden auch jenseits der chinesischen Grenzen Atompläne weiter verfolgt. In Südkorea gingen im Januar zwei neue Reaktoren ans Netz, an einem weiteren wird derzeit gebaut. Auf Taiwan laufen bereits sechs Reaktoren an drei Standorten. Deren Betriebsgenehmigungen laufen aber noch in diesem Jahrzehnt aus, und der im Januar wiedergewählte Präsident Ma Ying Jeou hatte im Wahlkampf unter dem Eindruck der Tragödie von Fukushima versprochen, sie nicht zu verlängern. Zwei im Bau befindliche neue Reaktoren im »AKW Nummer 4« in Lungmen in der Nähe der Hauptstadt Taipeh sollen aber fertiggestellt werden. Mit ihrer Inbetriebnahme wird für 2016 gerechnet. Die Regierung verspricht höchste Sicherheitsstandards, aber das Land liegt wie Japan in einer seismisch äußerst aktiven Zone, und nach dem dortigen Erdbeben hatte sich gezeigt, daß die taiwanesischen Reaktoren nicht für so schwere Erschütterungen ausgelegt wären.

Weiter nördlich auf den japanischen Inseln wird in den nächsten Monaten unfreiwillig und sehr zum Unbehagen der AKW-Betreiber gezeigt werden, wie schnell eine Atomnation notfalls aussteigen kann. Derzeit laufen in Nippon noch zwei der 54 Meiler. Doch auch diese beiden werden voraussichtlich im Mai zur jährlichen Revision vom Netz gehen. Wann und ob sie danach wieder anfahren können, ist noch völlig offen. Die japanische Regierung ist zwar wieder auf einen atomfreundlichen Kurs eingeschwenkt, traut sich aber bisher nicht, Inbetriebnahmen ohne Zustimmung der Behörden in den jeweiligen Präfekturen durchzusetzen. Das Land wird zur Zeit von alten Kohle-, Gas- und Dieselölkraftwerken versorgt, von denen einige vor der Katastrophe in Fukushima bereits stillgelegt worden waren. Förderprogramme für die unterentwickelte Solar- und Windenergie wurden zwar mehrfach besprochen, werden aber noch mindestens bis zum Sommer auf sich warten lassen. Der Verdacht liegt nahe, daß die in Japan wie hierzulande einflußreiche Atomindustrie lieber möglichst viel Druck mit Versorgungsengpässen aufbauen will, um das Wiedereinschalten ihrer Gelddruckmaschinen zu erzwingen.

* Aus: junge Welt, 12. März 2012


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