Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Jetzt "alle für Chile"

Wahlversprechen kassiert, Reformen aufgeschoben: Präsidentin Bachelet reagiert auf schlechtere Wirtschaftslage mit Rückzieher

Von Robert Ojurovic *

Die Prognosen waren schlecht, die tatsächlichen Zahlen sogar alarmierend. Vergangene Woche präsentierte die Analystengruppe AmérícaEconomía Intelligence (AE) eine neue Studie über die Wirtschaftskraft Lateinamerikas. Nach diesem Bericht haben die 500 größten Unternehmen im Jahr 2014 Umsatzeinbußen von 4,5 Prozent gegenüber 2013 zu beklagen. Einen wirtschaftlichen Abschwung über zwei Jahre hinweg gab es seit 2001 und 2002 nicht mehr.

Im Jahr 2012 verzeichneten die Top 500 noch Einnahmen in Höhe von umgerechnet 2,64 Billionen US-Dollar, 2013 sanken diese auf 2,59 Billionen und im letzten Jahr auf 2,48 Billionen. Parallel dazu, und noch beunruhigender für die Kapitallobby und die Wirtschaftspolitiker des Kontinents, ist der reine Nettogewinn im zurückliegenden Jahr den Angaben zufolge um gut 40 Prozent geschrumpft, das sind im Vergleich zu 2013 47 Milliarden Dollar weniger. Der Fall des Ölpreises, die wegen schleppender globaler Nachfrage vergleichsweise niedrigen Rohstoffpreise und die Stärke des US-Dollar gegenüber den Landeswährungen sind für diesen Abschwung verantwortlich. »Es hat eine neue, unproduktivere Epoche begonnen. Die Zeit des Wirtschaftsbooms ist vorbei. 41 Prozent weniger ist enorm, und der Abschwung wird sich fortsetzten. Möglicherweise wird sich die Wirtschaft Lateinamerikas erst mittelfristig stabilisieren, aber Umsatz und Gewinn der Unternehmen werden nicht mehr das Niveau der letzten Jahre erreichen«, erklärt Andres Almeida, Direktor von AmérícaEconomía Intelligence.

Brasilien ist in der Runde der 500 größten Konzerne Südamerikas am stärksten vertreten, gefolgt von Chile. Das Andenland, bis dato als Musterbeispiel einer gesunden Wirtschaft und erfolgreicher Wirtschaftspolitik dargestellt, muss jetzt ebenfalls zum Taschenrechner greifen.

Chiles Präsidentin Michelle Bachelet hat den ersten Schritt getan, und in einer selbstkritischen Rede zu Wochenbeginn Fehler eingestanden. Die Reformpläne für das Land müssten neu überdacht und umstrukturiert werden, hieß es in ihrer Ansprache am Montag. Bachelet hatte ihren Wahlkampf um das Präsidentenamt 2013 auf eine Änderung des Bildungswesens, des Steuerrechts und eine neue Verfassung für das Land fokussiert. Mit 62 Prozent setzte sie sich gegen ihre konservative Gegnerin durch und gewann, zum zweiten Mal nach 2006, Volkes Stimme und Glauben. Die Erwartungen waren riesig.

Vor drei Tagen wurden diese Hoffnungen enttäuscht. Die Amtsinhaberin musste vor dem Parlament erklären, dass sie aufgrund der schlechten Wirtschaftslage und der miserablen Perspektiven ihre Wahlversprechen nicht einhalten wird: »Wir müssen eingestehen, dass der staatliche Verwaltungsapparat nicht hinreichend vorbereitet gewesen ist, um all die Reformpläne finanziell und im gegebenen Zeitrahmen zu stemmen«, sagte sie im Beisein der gesamten Regierungsmannschaft. »Es wird zu neuen Prioritäten kommen, besonderes Augenmerk werden wir weiterhin auf das Wohlergehen der Familien legen. Trotz allem müssen wir aber realistisch bleiben und ehrlich zum chilenischen Volk sein«, so die Staatschefin weiter.

Die Inflation in Chile beträgt lediglich 0,5 Prozent, die offizielle Arbeitslosenquote ist mit 6,6 Prozent zwar relativ niedrig, aber im Steigen begriffen – zumal ein Konjunkturaufschwung erst einmal in weite Ferne gerückt scheint. Die Indikatoren der chilenischen Wirtschaft lassen nicht viel Spielraum zu, und die notwendigen finanziellen Mittel sind nicht vorhanden. Welche Reformen aber nur zeitlich verschoben werden und welche komplett in der Schublade verschwinden sollen, kann (oder will) auch die Präsidentin derzeit nicht konkretisieren. Die Frage bleibt, ob Michelle Bachelet ihre zwei wichtigsten Wahlversprechen realisieren wird: Zum einen die kostenfreie Hochschulbildung. Ziel war es, diese bis zum Jahr 2018 auf 70 Prozent im ganzen Land auszuweiten. Der Innenminister des Landes, Jorge Burgos, erklärte, dass die Hochschulreform nicht zur Disposition stehe. Aus den Reihen der Regierung ließ sich aber schon vernehmen, dass Verbesserungen und Änderungen des Vorhabens unabdingbar seien. Zum anderen ist da noch die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Unter den gegebenen Umständen ist solch eine Realisierung unter Präsidentin Bachelet bis zum Ende ihrer zweiten Amtszeit im Jahr 2018 höchst unwahrscheinlich. Dafür setzt man verstärkt auf Patriotismus: Zum Ende des Tages wurde der neue Slogan »Todos por Chile« (Alle für Chile) präsentiert. Unter diesem sollen dann die neuen Pläne vorgestellt werden. Hinter vorgehaltener Hand wird aber schon von einer politischen Sackgasse gesprochen, in die sich die aktuelle Regierung manövriert habe.

* Aus: junge Welt, Freitag, 17. Juli 2015


Zurück zur Chile-Seite

Zur Chile-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage