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In Chile entsteht eine zweite Macht

Der Historiker Gabriel Salazar über soziale Bewegungen und politische Veränderungen in seinem Land *


Der 76-jährige Gabriel Salazar, einer der bekanntesten Sozialhistoriker Chiles, lehrt an der Universidad de Chile. Salazar war von 1970 bis 1973 Mitglied der radikalen Bewegung der Revolutionären Linken (MIR). Nach dem Militärputsch im September 1973 wurde er verhaftet und gefoltert. 1976 ins Exil nach Großbritannien ausgereist, kehrte er 1985 nach Chile zurück. In Santiago befragte ihn für "neues deutschland" (nd) Eva Völpel.


nd: 2011 haben Chiles Studierende mit Protesten gegen das extreme Ausmaß der Privatisierung im Bildungssystem auf sich aufmerksam gemacht. Die Regierung will mehr Geld für Bildung ausgeben, lehnt aber strukturelle Veränderungen ab. Wo steht die Bewegung?

Salazar: Sie durchläuft einen Reifeprozess. 2011 haben die Studenten klar gemacht: Wir sind viele und wollen ein anderes Bildungssystem. Wie das im Detail aussehen soll, war ihnen aber lange selbst nicht klar. In den letzten Monaten haben sie Vorschläge erarbeitet und zudem Pläne für eine Steuerreform vorgelegt, um die Reformen zu finanzieren. Sie haben ihre Kontakte zu anderen sozialen Akteuren wie den Schülern oder den Studenten privater Unis vertieft. Es ist vielversprechend, was da kommt.

Warum?

Die Bewegung protestiert nicht nur, sie legt Alternativen auf den Tisch und setzt die Regierung unter Druck. Und die Kritik der Bewegung ist viel radikaler als in den 60er oder 70er Jahren. Heute will jeder Souverän sein. Die Dinge sollen an der Basis entschieden werden. Es geht also auch um Selbstdemokratisierung. Allen ist klar, dass der Gewerkschaftsdachverband CUT reformiert werden muss. Denn die Spitze agiert abgeschottet, ist mehr den politischen Parteien als der sozialen Basis verpflichtet. Heute aber wollen die Menschen den Staat selbst konstruieren.

Aber Chiles Elite hat ihre Privilegien immer entschieden verteidigt und das Militär dabei an seiner Seite gewusst. Woher rührt der Optimismus, dass der extreme Wirtschaftsliberalismus aufgebrochen werden könnte?

Das chilenische Militär hat in seiner Geschichte 23 Mal das demokratische Begehren der Bevölkerung niedergeschlagen. Aber heute liegen die Dinge anders. Schauen wir zurück: Pinochet gewann lange Zeit, weil er nur die Spitzen der politischen Parteien und Bewegungen durch Folter ausschalten musste. Aber als die Bevölkerung selbst organisiert zwischen 1983 und 1987 in 22 landesweiten Protesttagen auf die Straße ging, hatte er verloren. Er musste die Armee auf die Straße schicken und damit war klar: Chile war unregierbar. Damit war auch klar, dass internationale Investitionen ausbleiben würden. Das war das Ende Pinochets. Die Lehre ist: Wenn eine ganze Bevölkerung in Rebellion ist, kann das Militär nichts tun. Das haben wir 2011 in Magallanes im Süden Chiles gesehen, wo eine ganze Region gegen die zu hohen Gaspreise auf die Straße gegangen ist. Oder kürzlich in der Region Aysén. Die Regierung musste dort mit der sozialen Bewegung über bessere Lebensbedingungen verhandeln, nachdem Jung und Alt die aus Santiago entsandten Spezialkräfte niedergerungen hatten.

Welche transformative Kraft sehen Sie als Historiker in den Regionen? Wer für niedrigere Gaspreise protestiert, fordert nicht unbedingt strukturelle Veränderungen.

In solche punktuellen Forderungen ist immer auch der Konflikt mit dem Zentralismus Santiagos eingebettet. Es ist ein Zentralismus, der die Regionen verarmen lässt. Ein Beispiel: Ganz Chile ist heute von riesigen Supermarktketten und Malls überzogen. Die Unternehmen zerstören in den Regionen nicht nur die kleinen Geschäfte, sie transferieren auch sämtliche Gewinne nach Santiago, um sie in noch mehr Malls und Supermärkte zu investieren. Wenn die sozialen Bewegungen in den Regionen fordern, dass die Supermarktketten 30 Prozent ihrer Gewinne am Ort investieren müssen, ist das quasi revolutionär.

Die Expansion der Supermärkte und Malls zeigt aber auch, wie gut das System funktioniert. Denn auch die einkommensschwachen Schichten können heute auf Kredit konsumieren.

Das stimmt. Es gibt leider noch keine sehr dezidierte Kritik an diesem System. Dabei ist sie wichtig. Denn nicht mehr Armut an sich ist das Thema, sondern die Verschuldung, die die Armut verdeckt. So konsumieren die untersten beiden Einkommensfünftel durch Kredite neun Mal mehr als sie verdienen. Durch das Kreditwesen wird die Nachfrage aufgebläht, das hält das Modell am Laufen. Wie wichtig das ist, zeigt sich daran, dass die Regierung vor Kurzem für einen Teil der hoffnungslos Verschuldeten einen Schuldenerlass organisiert hat. Und was ist passiert? Wenige Monate später waren dieselben Personen wieder verschuldet. Aber den Konsumismus zu attackieren, ist sehr schwierig. Viele glauben den Versprechungen der Werbung.

Es gibt trotzdem Veränderungen in den Kräfteverhältnissen in Chile?

Ja. Es gibt derzeit mindestens sieben große Bürgerversammlungen in den Regionen, mit denen die Regierung verhandelt, obwohl sie gar nicht in der Verfassung vorgesehen sind. Außerdem gibt es Hunderte von Basisversammlungen in Gemeinden oder Stadtvierteln. Ganz Chile diskutiert heute, wie die Gesellschaft anders organisiert werden muss, ob Mitarbeiter des Gesundheitswesens, Forstarbeiter oder Indígenas. Wir sind Zeuge dessen, dass eine zweite Macht von unten entsteht.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. Juli 2012


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