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Urbaner Großparkplatz

Rio wird Gastgeber für FIFA-Weltmeisterschaft und Olympia. Jetzt wird kräftig Beton gerührt, doch die »schönste Stadt der Welt« verfällt

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro *

Rio de Janeiro, die ehemalige Hauptstadt Brasiliens, wird 2014 wichtigster Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft und 2016 Olympiastadt sein: Die internationale Tourismusbranche der Metropole bereitet sich darauf vor. Rund um Copacabana, Ipanema und Barra da Tijuca schießen neue Hotelklötze wie Pilze aus dem Boden. Allein in den kommenden zwei Jahren sollen 17 neue Luxusherbergen entstehen. Rios größter Investor, die Gruppe Accor, will bis 2013 elf Hotels mit insgesamt 2200 Zimmern an die Stadtstrände der laut Tourismuswerbung »schönsten Stadt der Welt« stellen. Neben Accor investieren auch die Windsor- sowie die Hyatt-Gruppe Hunderte von Millionen Dollar. Gefördert wird die Betonorgie über Steuererleichterungen, gewährt von der Regierung Rio de Janeiros. Dabei hat die selbst kaum Geld, um ihre alltäglichen Aufgaben zu erfüllen.

Im klimatisierten Wagen...

Die 1994 angekündigte »Säuberung« der zur Kloake verkommenen Bucht von Rio, der Baía Guanabara, ist bis heute eine realitätsferne Vision geblieben. Milliardensummen aus Weltbankkrediten wurden im wahrsten Sinne des Wortes in den Schlamm gesetzt. Und während Stadt- und Landesregierung seit den 1980er Jahren Unsummen in die Infrastruktur des neuen, in eine ehemals großartige Naturlandschaft im Süden Rios geklotzten Stadtteils Barra da Tijuca stecken, verkommt das ursprüngliche Stadtzentrum zusehends. Hunderte Gebäude aus der Belle Epoque Rios, aber auch aus früheren Bauperioden, wurden und werden dem Verfall preisgegeben.

Durch das Stadtzentrum zu flanieren – wie noch in den 1950er und 1960er Jahren – ist längst »out«. Von der Außenwelt abgeschottete Hochhäuser, Shoppingcenter und schicke, klimatisierte Autos mit dunkel getönten Scheiben sind »in«. Sowohl die »Altstadt«, wie auch die artenreiche Landschaft von Barra da Tijuca sind Opfer dieses neuen, von der Regierung gewollten und ausnahmslos der Automobil- und Treibstoffindustrie dienenden Lebensmodells der Mittel- und Oberklasse-Cariocas.

Wer heute durch die Straßenzeilen zwischen Rua Riachuelo, Praca da Cruz Vermelha, Praça Tiradentes und Avenida Rodrigues Alves flaniert, wird sich wie in einem Nachkriegsfilm vorkommen. Nur daß der Verfall der Gebäude nicht durch Bomben ausgelöst wurde. Oft stehen nur noch Fassaden, die auch nur zum Teil. Und der Prozeß schreitet weiter voran. Gebäude, die noch vor drei Jahren eine Überlebenschance hatten, sind heute ein Trümmerfeld. Und bei den noch stehenden Häusern zeugen oft nur noch die aus Stuck im Mittelteil der Fassade angebrachten Jahreszahlen 1872, 1883, 1901 oder 1914 vom einstigen Glanz dieser Straßenzüge im alten Herzen Rios. Ein regelrechtes Trümmerfeld ist auch der einst blühende Stadtteil Catumbi unterhalb Santa Teresas. Das Quartier ist unter anderem auch Opfer seines heutigen Nachbarn, dem Betonmonster Sambódromo. Hier findet alljährlich im Karneval der Aufzug der großen Sambaschulen statt. Glanz und Elend liegen eng nebeneinander.

Doch die größten Feinde von Rios Altstadt sind – neben der sträflichen Vernachlässigung – Feuer und Autos. Rund zwei Millionen Fahrzeuge sind in der Metropole rergistriert, ein Zuwachs von etwa 40 Prozent in den vergangenen zehn Jahren. Und diese Autos brauchen Platz, vor allem Parkplatz. Während die Restaurierung oder Instandhaltung eines historischen Gebäudes dem Besitzer viel Geld kosten, das vom Staat nicht erstattet wird, bringt ein »Estacionamento« im aus allen Nähten platzenden und alltäglich von Hunderttausenden von Fahrzeugen verstopften Stadtzentrum bare Münze. Und selbst wenn Gebäude unter Denkmalschutz stehen – ein plötzlich auftretender Brand reicht. Die Feuerwehr kommt nicht nur aufgrund des dichten Straßenvekehrs meist zu spät. Exemplarisch war dies vergangenen Februar zu sehen, als die »Stadt des Sambas« im heruntergekommenen Hafenviertel ein Raub der Flammen wurde. Brennende Gebäude sind in Rio fast alltäglich.

... durchs Trümmerfeld

Dutzende historische Gebäude wurden zu Parkplätzen. Die Regierung Rio de Janeiros hat nicht einmal Geld um die wichtigsten Baudenkmale in Stand zu halten. In einigen der als Kulturzentren von der Stadt genutzten historischen Herrenhäuser, wie das immer noch eindrucksvolle Centro Cultural de Parque das Ruinas, fehlen selbst Klopapier oder Stühle, ebenso wie im Centro Cultural Laurinda Santos Lobo. Dabei befinden sich diesen beiden kulturellen Herzstücke des Stadtteils Santa Teresa noch auf einer Insel der Seligen, im Vergleich zu anderen, von der Stadt verwalteten historischen Gebäude.

Am 27. März berichtete die Zeitung O Globo vom Centro Cultural José Bonifácio, einem Herrenhaus aus dem Jahr 1877. Ein löchriges Dach sorgt im regenreichen, subtropischen Rio für Nässe, Schimmel und raschen Verfall, obwohl es seit 1984 offiziell als Referenzzentrum für Afrobrasilianische Kultur in Lateinamerika gilt. Es sei eine Schande für alle Cariocas ein solches Gebäude verfallen zu sehen, ohne jegliche Erhaltungsmaßnahmen von seiten der Stadtregierung, schrieb die sonst nicht sehr kritische Zeitung. Und soeben beim Verfassen dieses Textes tönt aus dem Radio die Meldung, daß in der historischen Staatsuniversität von Rio de Janeiro in einem der ältesten Stadtteile Rios, Praia Vermelha, ein Großfeuer ausgebrochen ist. Das Dach der Kapelle des 1852 errichteten Universitätspalastes stehe in Flammen. Etwa 100 Feuerwehrmänner versuchten ihr möglichstes ....

Es gebe eine große Nachfrage nach neuen Hotels in Rio, verkündete einen Tag zuvor Accor-Direktor Abel Castro. Doch es fehle schlicht an Platz, und die wenigen freien Flächen seien teuer. Das gelte besonders für Praia Vermelha, den Stadtteil mit dem Zuckerhut an seiner Seite. Und der ist eine Perle der immer noch lebens- und sehenswerten Millionenmetropole.

* Aus: junge Welt, 11. April 2011


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