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Krieg in den Elendsvierteln von Rio de Janeiro

Über Mauern und Gewalt in Brasilien

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die sich mit der Situation in den Elendsvierteln der brasilianischen Metropole befassen, einer Brustätte für Kriminalität und Gewalt. Der Reportage von Susanne Dzeik folgt weiter unten der Artikel von Thomas Zeller. Beide Artikel haben wir der Wochenendbeilage der "jungen Welt" entnommen.

Einfach eine Mauer bauen

Von Susanne Dzeik, Rio de Janeiro

Dienstag, 13. April, 11 Uhr, Favela Manguinhos, Nordzone, Rio de Janeiro

Der Mann liegt tot in der Favelagasse. Sein Körper, inzwischen erstarrt, befindet sich noch in derselben Position, wie zu dem Zeitpunkt, als ihn die Kugeln der Militärpolizei morgens um vier Uhr trafen. Er liegt auf dem Bauch, das Gesicht nach unten gedreht, die Arme angewinkelt neben dem Kopf. Blutgeruch steigt aus den Lachen empor, die sich rings um seinen Körper gebildet haben. Eine kleine Menschenansammlung beobachtet den Beamten der Spurensicherung. Von schwerbewaffneten Militär- und Zivilpolizisten abgeschirmt, fotografiert er die Leiche, durchsucht die Taschen. Als er den Körper auf den Rücken dreht und das blutverkrustete Gesicht zum Vorschein kommt, bricht die Mutter des Toten weinend zusammen. Gestützt auf eine andere Frau verläßt sie den Ort des Geschehens.

Zur selben Zeit, Rocinha, Südzone, Rio de Janeiro

Seit sechs Tagen tobt ein Krieg zwischen zwei Gruppen rivalisierender Drogenverkäufer. Hunderte von Polizisten bilden einen Ring um die Favela. Zahllose Fernsehkameras richten ihre Objektive auf die Zugänge zur Gemeinde, Reporter versuchen drängelnd, Neuigkeiten zu ergattern. Eine Bewohnerin beklagt den Diebstahl all ihrer technischen Geräte. Ihre Nachbarn beobachteten die Polizei, wie diese während eines ihrer Vorstöße in das Haus der Frau eindrangen.

Alle Augen richten sich auf Rocinha, das bekannteste Armenviertel des lateinamerikanischen Subkontinents. Plötzlich wird sogar wieder das Elend thematisiert, in dem weit über eine Million Menschen leben. Die Politik empfiehlt einfallslos autoritäre Gewaltmaßnahmen als Gegenmittel. Während eine Seite den Einsatz des Militärs fordert, kommt der verblüffendste Gedanke vom stellvertretenden Provinzgouverneur. Er schlägt vor, eine Mauer um Rocinha zu errichten.

Der Tod durch Mangelernährung und Krankheiten gehört zum Favelaalltag. Doch plötzlich gibt sich die Welt über den Ausbruch der Gewalt schockiert. 14 Menschen starben im Verlauf des »Drogenkrieges« – Unbeteiligte, Polizisten, Drogenverkäufer. Unter letzteren befand sich Lulu, der bei den Favelados beliebtere Chef der konkurrierenden Verkaufsgruppen. Er wurde von der Polizei erschossen, nachdem sein gefürchteter Kontrahent Dudu bereits aus der Favela geflohen war.

Drei Tage später, 14 Uhr, Largo do Machado, Südzone

Favelados aus allen Zonen der Stadt sind mit Bussen angereist. Der Platz füllt sich langsam mit Menschen. Viele tragen schwarze T-Shirts mit der Aufschrift »Posso me indentificar?« (Kann ich mich identifizieren?). Auf dem Lautsprecherwagen reden Mütter, deren Söhne von der Polizei ermordet wurden. Immer wieder unterbrechen sie ihre Berichte, weil ihnen die Stimme versagt. Aber auch Wut drückt sich aus. Sie teilen das Schicksal, weitgehend rechtlos einer hemmungslos agierenden Polizei ausgesetzt zu sein, die sich in der Gewißheit wiegen kann, strafrechtlich nicht verfolgt zu werden. Die offizielle Polizeiversion bleibt stets die gleiche. Die Opfer seien Traficantes, Drogenhändler, die Widerstand gegen die Staatsgewalt leisteten und im Zuge von Schußwechseln umkamen.

Die Favelados kennen eine andere Realität. Schließlich weiß hier jeder, daß die Polizei regelmäßig Erpressungsgelder einsteckt und bei Nichtzahlung »Besuche« abstattet. Dabei werden Verkäufer und Unbeteiligte gleichermaßen auf offener Straße erschossen. »Die bringen uns um«, klagt eine Mutter. »Anfangs dachte ich noch, ich könnte mit einem Prozeß das Andenken meines Jungen reinwaschen. Aber jetzt, wo ich sehe, daß sie immer mehr und mehr und mehr morden ...«

Eine Vergeltungsaktion hatte es auch im April 2003 in der Favela Borel gegeben. Im Kugelhagel der Polizei starben fünf Jugendliche, die sich zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. Diese Toten hätten ebenfalls wenig Aufsehen erregt, wäre nicht bei einem der jungen Männer ein Schweizer Paß gefunden worden. Ein Schweizer Staatsbürger – plötzlich drehte sich der Wind. Medien wurden aufmerksam, die Mütter der Toten taten sich zusammen und organisierten eine Demonstration. Seitdem verhält sich die Polizei zumindest in dieser Favela relativ ruhig. Auf ein Gerichtsverfahren allerdings warten die Angehörigen immer noch. Die Mobilisierung brachte jedoch auch den Anstoß dafür, sich dauerhaft zu einer Bewegung zusammenzuschließen.

Die Bewegung »Posso me identificar?« wurde aus der Taufe gehoben. An ihr beteiligen sich Mütter, Angehörige, Favelaorganisationen, Einzelpersonen aus verschiedenen Favelas und politischen Gruppen. Ihre Arbeit bleibt kompliziert, da sich die Viertelbewohner aus Angst vor Repression nur schwer mobilisieren lassen. Die Forderungen der Bewegung gehen über die Strafverfolgung der Täter in Uniform weit hinaus. Sie begreifen, daß sie alle gleichermaßen Opfer struktureller Gewalt sind und daß sie sich letztendlich die Überwindung der Ursachen zum Ziel setzen müssen. Dazu gehört eine gesellschaftliche Diskussion über Demilitarisierung der Polizei, ein Kurswechsel in der Sicherheits- und Drogenpolitik, vervollständigte Rechtsgarantien und eine neue Basis zur Lebensvorsorge. Weitgehend marginalisiert und rassistischen Vorurteilen ausgesetzt, konzentrieren sie sich auf eigene autonome Basis- und Kommunikationsnetzwerke. Zu den verschiedenen konkreten Aktivitäten gehört die gegenseitige juristische Hilfe.

Die Demonstration der Favelados wächst auf über 1 000 Teilnehmer an. Es geht zum Ministerium des Bundesstaates, wo vier Mütter eine Unterredung mit der Staatsministerin einfordern. Die Ministerin meldet sich krank und schickt einen Vertreter. Diesmal wird der Protest von vielen Kamerateams und Fotografen begleitet. Die folgende Bericherstattung bleibt jedoch dünn. Die Artikel sind klein, die Demonstration wird unter Protest gegen Gewalt abgehakt und die Täterschaft der Polizei kaum erwähnt.

Die Mauer steht schon

Von Thomas Zeller, Rio de Janeiro

Der im Januar dieses Jahres aus dem Gefängnis geflohene Eduíno Eustáquio de Araújo Filho, oder kurz Dudu, wollte im April mit seinen Gefährten vom »Roten Kommando« (Comando Vermelho) die Favela Rocinha stürmen. Das Armenviertel gilt als der Hauptumschlagplatz für die Drogenszene Rio de Janeiros. Ziel der Invasion war die Rückeroberung des Drogenhandels, dessen Kontrolle Dudu an seinen Rivalen Lulu, Luciano Barbosa da Silva, mit seiner Verhaftung verloren hatte. Der Bandenkrieg um den Chefsessel hatte einen Ausbruch der Gewalt zur Folge. Während der bewaffneten Kämpfe, bei denen über 1 300 Polizisten tagelang die Favela besetzten, kamen neben dem Drogenboß Lulu weitere 13 Menschen ums Leben.

Schußwechsel sind für die Bewohner von Rios Favelas brutaler Alltag. Sie sind die Geiseln der Drogenbosse und stehen immer zwischen allen Fronten, wenn die verschiedenen Banden wieder einmal ihr Revier neu abstecken oder die Polizei auf Gangsterjagd geht. Die Medienberichterstattung und die Diskussionen allerdings drehen sich nahezu ausschließlich um die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Das Leben, die soziale Situation und die Sicherheit der Bewohner der Favelas finden dabei kaum Beachtung. Sie werden allenfalls als Komplizen und ihre Viertel als Brutherde des Verbrechens wahrgenommen. Mit den Favelas und ihren Bewohnern will man nichts zu tun haben. Spiegelbild dieser Haltung ist die absurde Idee von Luiz Paulo Conde, seineszeichens Vizegouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, der vorschlug, eine Mauer rund um die Favela Rocinha zu errichten.

Doch Mauern müssen nicht erst neu gebaut werden. Sie existieren bereits in vielfacher Form. Ein Streifzug durch brasilianische Städte zeigt hochgerüstete Häuser mit vergitterten Fenstern, hohen Mauern, Stacheldraht, Elektrozaun und scharfen Wachhunden. Die Neuwagen sind mit Gangschaltungssperre, Alarmanlagen und kugelsicheren verdunkelten Scheiben ausgestattet. Die Reichen ziehen es vor, ihre Kinder in bewachte Privatschulen zu schicken, in umzäunten Shopping-Zentren ihre Freizeit zu verbringen und in sogenannten »Condomínios fechados« zu residieren – das sind in sich abgeschlossene Wohnsiedlungen, umgeben von einer Mauer, mit Wachtürmen und einem bewaffneten Sicherheitsdienst, der diese »exterritorialen Räume« rund um die Uhr bewacht. In diese Wohnghettos der Privilegierten darf nur hinein, wer dort lebt oder eine Zutrittsgenehmigung erhält.

Die riesigen urbanen Ballungsräume Brasiliens, wie Rio de Janeiro mit seinen weit über zehn Millionen Einwohnern, beherbergen heute extreme Armut und unfaßbaren Reichtum zugleich. Innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich die Anzahl reicher Brasilianer mehr als verdoppelt. Zählte das brasilianische Institut für Geographie und Statistik (IBGE) im Jahr 1980 noch 507 600 Familien mit einem monatlichen Einkommen über 10 982 Reais (3 138 Euro), waren es im Jahr 2000 schon 1 162 164 Familien. Deren Anteil am Nationaleinkommen stieg innerhalb dieser Zeitspanne von 20 auf 33 Prozent. Heute stecken 2,4 Prozent aller Familien ein Drittel des brasilianischen Gesamteinkommens in ihre Tasche. Diese Daten stammen aus dem im April veröffentlichten »Atlas des sozialen Ausschlusses – die Reichen in Brasilien«. Darin wird errechnet, daß in diesem Land mit mehr als 177 Millionen Einwohnern allein die 5 000 reichsten Familien – ein Bruchteil aller brasilianischen Familien – ein Vermögen von ungefähr 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes eines gesamten Jahres auftürmen. Das oberste Zehntel der Gesellschaftspyramide vereint auf sich drei Viertel aller Reichtümer des Landes.

Auf der anderen Seite hat die Mitte April veröffentlichte Studie der Stiftung Getúlio Vargas ans Licht gebracht, daß einem Drittel der Brasilianer weniger als 79 Reais (22 Euro) monatlich zur Verfügung stehen. Brasilien befindet sich mit den afrikanischen Ländern Namibia, Botswana und Sierra Leone in der wenig rühmlichen Spitzengruppe der Länder mit der höchsten Einkommenskonzentration der Welt. Im Falle der Favela Rocinha ist diese extreme Ungleichheit mit bloßem Auge sichtbar. Das Armenviertel liegt eingebettet zwischen den reichsten Stadtteilen Rios. Mit einem Stundenlohn von durchschnittlichen 2,10 Reais (60 Cent) verdienen die Bewohner Rocinhas bis zu 90 Prozent weniger als ihre direkten Nachbarn in den noblen Wohngegenden und müssen auch noch mehr arbeiten. Auf dem Arbeitsmarkt haben die Favelados allein aufgrund ihrer Herkunft kaum Chancen. Oft verleugnen sie daher ihre Adresse.

In nur drei Jahrzehnten nach Beginn der Urbanisierung in den siebziger Jahren entwickelte sich innerhalb der brasilianischen Metropolen all jene soziale Ungleichheit, die in den Jahrhunderten zuvor in den ländlichen Regionen vorherrschte. Während in Săo Paulo im Jahr 1970 lediglich ein Prozent seiner Einwohner in den Elendsvierteln am Rande der Stadt hauste, stieg deren Anteil bis 1993 auf 19,4 Prozent. In den Slumsiedlungen suchen Menschen im Müll nach Eß- und Verwertbarem, um zu überleben. Auch ganz ohne Mauern steht die große Mehrheit der Bevölkerung am Rande der Gesellschaft. Für Millionen von Brasilianern ist selbst ein einfacher Kinobesuch unerreichbarer Luxus. In den seit Jahrzehnten unaufhaltsam wachsenden Elendsgürteln, die sich rund um die brasilianischen Metropolen schnüren, sammelt sich ein wachsendes Heer von Hoffnungslosen. Chaotische und illegale Ansiedlung ohne Infrastruktur, enorm hohe Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Abwesenheit jeglicher öffentlicher Hilfe, verwandeln die Stadtränder zunehmend in eine Hölle aus extremer Armut und grausamster Gewalt. Der »Atlas des sozialen Ausschlusses« identifiziert 13 der 32 Bezirke Rio de Janeiros als in hohem Maße von regulärer Beschäftigung, Alphabetisierung und Beschulung ausgeschlossen. In diesen 13 ärmsten Bezirken der Stadt, die einen sehr hohen Grad an Gewalt und Armut aufweisen, wohnen 38,5 Prozent der Bevölkerung.

Die Elendsviertel der Stadtperipherie sind der alltäglichen Gewalt der Banden und Drogendealer ausgeliefert. Die Bewohner verfügen nicht über die Möglichkeiten und Mittel, sich zur Wehr zu setzen. Nahezu die Hälfte der Marginalisierten sind Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre. Sie trifft es am härtesten. Sozialprogramme erreichen sie nicht. Allein in Săo Paulos Armenviertel Vila Jacuí fehlten im Jahr 2003 nach der Studie der katholischen Universität 27000 Kindergartenplätze. Auf dem regulären Arbeitsmarkt haben die jungen Menschen allein aufgrund ihrer Herkunft kaum Chancen. Von den Medien und der Bevölkerung werden sie stigmatisiert und mit den Drogenbossen und Revolverhelden in einen Topf geworfen. Die Kinder wachsen mit Drogen, Gewalt, Mord und Prostitution auf. Das ist ihr Leben, ihr Alltag. Ohne Zugang zu guten Schulen, ohne Chancen auf eine reguläre Beschäftigung wachsen die Verlockungen der Kriminalität. Die Drogenbosse brauchen immer Nachwuchs und versprechen das schnelle Geld, Auto, Macht und Frauen.

Aus: junge Welt (Wochenendbeilage), 15. Mai 2004


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