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MST macht Druck

Brasiliens Landlosenbewegung fordert mit Gebäude- und Farmbesetzungen eine Bodenreform

Von Andreas Knobloch *

International profiliert sich Brasilien zunehmend als Vermittler bei internationalen Konflikten. So traf am Montag der brasilianische Außenminister Celso Amorim in Teheran ein, um einen für den 16. Mai angekündigten Besuch von Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva im Iran vorzubereiten. Dieser erwidert damit eine Visite des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad vom vergangenen November. Innenpolitisch ist es der von der Arbeiterpartei (PT) geführten Regierung jedoch weniger gelungen, die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Gerade die Landlosenbewegung MST hatte sich von Lula mehr versprochen. Um der Forderung nach einer Neuverteilung von Grund und Boden Nachdruck zu verleihen, besetzten MST-Aktivisten in der vergangenen Woche sechs Gebäude der Nationalen Behörde für die Agrarreform (INCRA) in mehreren Städten und führte so ihre unter dem Namen »Roter April« bekannte Kampagne fort.

In der Hauptstadt Brasilia okkupierte eine Gruppe von fast 700 Landlosen das zentrale Büro der dem brasilianischen Landwirtschaftsministerium unterstellten Behörde, weitere Besetzungen fanden in São Paulo, Rio de Janeiro, Pará, Piauí und Paraíba statt. In Recife demonstrierten rund 1000 MST-Mitglieder, in Mato Grosso do Sul gab es Straßenblockaden. Rund 50 Landlose besetzten in Bahia schon zum dritten Mal eine Eukalyptus-Farm des Zelluloseunternehmens Veracel und forderten den Anbau von Lebensmitteln. Insgesamt wurden aus 19 der 27 Bundesstaaten Proteste gemeldet und nach Angaben der MST seit Anfang des Monats 68 Ländereien im ganzen Land besetzt.

Die von Lula unterstützte Präsidentschaftskandidatin Dilma Rousseff äußerte sich in einem Interview kritisch zu den Aktionen der MST. Sie könne Besetzungen von öffentlichen Gebäuden nicht gutheißen. »Die Regierung ist die Regierung und soziale Bewegungen sind soziale Bewegungen«, verteidigte sie die Haltung des Staates, nicht Partei zu ergreifen.

Präsident Lula da Silva hat in seiner Amtszeit entgegen vielen Versprechungen nie eine Bodenreform in Angriff genommen. Vielmehr haben unter seiner Ägide die Landkonflikte zugenommen, von 751 im Jahr 2008 auf 854 im vergangenen Jahr. Dabei gab es 2009 mit 25 Toten drei weniger als noch im Jahr zuvor. Diese Zahl ist eine der niedrigsten der vergangenen Jahre, denn seit 1985 wurden im Schnitt 63 Menschen pro Jahr bei Auseinandersetzungen um Grund und Boden getötet. Allerdings stieg die Zahl der versuchten Morde im letzten Jahr von 44 auf 62 an. Dazu gab es 71 Fälle von Folter. Diese Daten werden jedes Jahr von der Pastoralen Landkommission (CPT), einer kirchlichen Organisation, veröffentlicht.

Viele Grundbesitzer heuern »Sicherheitsleute« und Paramilitärs an, um gegen Besetzungen und Landlose vorzugehen. Dabei kommt es nicht selten zu Morddrohungen gegen MST-Aktivisten. Die Zunahme der Konflikte wird dabei von einer verschärften Kriminalisierung sozialer Bewegungen begleitet. Immer öfter verfolgt die Justiz das Vorgehen von Landlosen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Räumungen und Festnahmen, stellte die CPT fest. »Die Exekutive favorisiert ganz klar das Kapital, damit es weiter expandieren und neue Ländereien erschließen kann, ohne die Rechte indigener Völker und anderer traditioneller Gemeinden zu respektieren.«

Die MST hält die Politik der Regierung deshalb für gescheitert. Noch immer warteten 90000 Familien auf die Zuteilung von Land, zudem fehle es an Zugang zu günstigen Krediten, Gesundheitsversorgung und Bildung. Die MST fordert eine Umstrukturierung der brasilianischen Landwirtschaft, weg von der exportorientierten hin zu einer auf den Binnenmarkt ausgerichteten Produktion und einer Bodenreform.

Brasilien ist weltweit einer der Staaten mit der ungerechtesten Landverteilung. Ein Prozent der Eigentümer verfügt über mehr als 46 Prozent der Anbauflächen; die oberen zehn Prozent besitzen 85 Prozent des Grund und Bodens in Brasilien.

* Aus: junge Welt, 28. April 2010


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