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Landlose rufen OAS um Hilfe

Brasiliens MST sieht sich von Parlamentsausschuß kriminalisiert

Von Andreas Knobloch *

In Brasilien spitzt sich der Konflikt zwischen dem Staat und der Landlosenbewegung MST zu. Die Organisation hat beschlossen, bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH), einer Abteilung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Beschwerde wegen Unterdrückung und Kriminalisierung durch den brasilianischen Staat einzulegen. Sowohl Politiker aus dem Regierungslager als auch der Opposition kritisierten diese Entscheidung, die MST-Führungsmitglied João Paulo Rodrigues angekündigt hatte.

Der Fraktionsvorsitzende der regierenden Arbeiterpartei PT, Cándido Vaccarezza, sieht das Parlament durch die Beschwerde der Landlosen diskreditiert: »Es geht nicht an, daß dem Kongreß vorgeworfen wird, er würde soziale Bewegungen verfolgen.« Auch Oppositionsführer Ronaldo Caiado von den Demokraten (DEM) unterstrich, die Initiative der MST habe keinerlei Unterstützung. Außerdem könne er sich nicht vorstellen, daß die CIDH die von der MST betriebene »Respektlosigkeit« und »Destabilisierung der Demokratie« sanktioniere.

Nachdem der Kongreß im Oktober die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission (CPI) zu den Aktivitäten der MST beschlossen hatte, sieht sich diese von der Staatsmacht verfolgt. Parlamentarier verwiesen hingegen darauf, daß solche Kommissionen durchaus demokratischen Gepflogenheiten entsprächen. Vaccarezza erklärte sogar, »er werde darauf achten, daß die CPI nicht als Instrument zur Kriminalisierung sozialer Bewegungen mißbraucht wird.«

Doch allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz gibt das Instrument der CPI dem Parlament weitreichende Untersuchungsbefugnisse in die Hand. So kann es beispielsweise unter bestimmten Voraussetzungen das Bank- oder Steuergeheimnis aufheben, telefonische Überwachung beantragen oder Zeugen vernehmen. Es ist zudem bereits der dritte Untersuchungsausschuß zur MST in den letzten vier Jahren, der sich mit den zum Teil gewalttätig verlaufenden Landbesetzungen durch mutmaßliche MST-Mitglieder befassen soll.

Die Situation hatte sich verschärft, nachdem mit der MST verbundene Familien eine Orangenfarm in Cutrale im Bundesstaat São Paulo besetzt und verwüstet hatten. In der vergangenen Woche beschuldigte dann das mit dem Bankier Daniel Dantas verbundene Agrarunternehmen Santa Bárbara Mitglieder der MST. Sie hätten in Eldorado dos Carajás in Pará, im äußersten Norden Brasiliens, auf dem Landgut Maria Bonita Häuser zerstört und landwirtschaftliches Gerät in Brand gesetzt. Die Landlosenbewegung wies alle Vorwürfe zurück. Die Zivilpolizei von Pará ging jedoch trotzdem so weit, »Präventivhaft« für den Koordinator der MST im Bundesstaat, Charles Trocate, zu fordern. Auch ohne daß er »physisch anwesend« gewesen sei, gebe es »starke Anzeichen« dafür, daß er der Verantwortliche für die Vergehen sei, so Parás Gouverneurin Ana Júlia Carepa, die der PT von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva angehört.

»Das Parlament, speziell die Vertreter der Agrarlobby, bedienen sich des Instrumentes Untersuchungsausschuß gegen die Landlosenbewegung. Der Ausschuß ist ein ideologisches Instrument, mit dem die Agrarreform lahmgelegt und die MST zermürbt werden soll«, kritisiert deren Sprecher Rodrigues in seinem Schreiben an die CIDH in Washington. Auch Teile der Justiz seien eng mit lokalen Eliten und Großgrundbesitzern verwoben, heißt es an anderer Stelle in dem Papier. »Es besteht ein klare ideologische Positionierung gegen die Agrarreform, und mit Hilfe des Ministério Publico«, das mit einem Justizministerium vergleichbar ist, werde »die Verfolgung organisiert.«

Brasilien ist eines der Länder mit der höchsten Konzentration des Landbesitzes und ungerechtesten Bodenverteilung weltweit. Ein Prozent der Eigentümer verfügt über mehr als 46 Prozent der landwirtschaftlichen Anbauflächen; und die oberen zehn Prozent besitzen 85 Prozent des Grund und Bodens. Das hängt vor allem damit zusammen, daß in Brasilien nie eine Bodenreform durchgeführt wurde. Zwar gilt Präsident da Silva als historischer Verbündeter der Landlosenbewegung, aber die von ihm auf den Weg gebrachte zögerliche Agrarreform wird von der MST heftig kritisiert.

* Aus: junge Welt, 11. November 2009


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