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Kriminelle Vereinigung von Landlosen?

Im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul möchte man die Bewegung MST verbieten

Von Eva Völpel *

Mit großer Beunruhigung beobachtet Brasiliens Landlosenbewegung MST seit einigen Monaten einen Prozess gegen acht ihrer Aktivisten aus dem Bundesstaat Rio Grande do Sul.

Das Regelwerk stammt noch aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur: Acht Aktivisten der Landlosenbewegung MST werden beschuldigt, an Besetzungen teilgenommen zu haben, die darauf ausgerichtet seien, die brasilianische Rechtsordnung zu untergraben und einen Parallelstaat zu etablieren. Die Anklage spricht einmal mehr dafür, dass Lateinamerikas größte Landlosenbewegung, die in den mehr als 20 Jahren ihrer Existenz rund 650 000 Familien auf legal enteignetem, weil unproduktivem Land anzusiedeln vermochte, verstärkt unter Druck gerät.

Eine Vorreiterrolle übernehmen dabei die Behörden von Rio Grande do Sul. Ginge es nach ihnen, wäre die mehrere Millionen Mitglieder umfassende MST längst verboten. Das besagt ein geheimes Dokument des Innenministeriums von Rio Grande do Sul vom 3. Dezember 2007, das die MST im Juni dieses Jahres veröffentlichte. Darin stellen die Behörden und Gouverneurin Yeda Crusius von der sozialdemokratischen Partei PSDB einen Fahrplan zur Kriminalisierung der MST auf. So seien die MST und die Bauernorganisation Via Campesina keine Kräfte mehr, die Politik betrieben, um soziale Forderungen durchzusetzen, sondern führten »kriminelle Aktionen« durch. Das eigentliche Ziel der MST sei es, mit paramilitärischen beziehungsweise Guerilla-Operationen strategisch wichtige Territorien zu erobern, um dort parallelstaatliche Strukturen aufzubauen. Um die MST schrittweise zu »neutralisieren«, als politischen Akteur zu delegitimieren und letztlich zu verbieten, sollten Demonstrationen und Märsche sowie die Einrichtung neuer Landbesetzercamps durch die Ausweisung von »Spezialzonen« mit besonderen polizeirechtlichen Befugnissen in Rio Grande do Sul verhindert und alte MST-Camps »deaktiviert« werden.

Für Rechtsanwalt Leandro Scalabrin steckt hinter dem Vorgehen die »größte zivil-militärische Verschwörung seit Ende der Diktatur«. Das Innenministerium verletze internationale Abkommen und die Verfassung, die von einem Recht auf Vereinigungsfreiheit nur Gruppierungen mit paramilitärischem Charakter ausnehme. Doch just in diese Ecke stellen die Behörden von Rio Grande do Sul die MST, indem sie sie mit der kolumbianischen Guerrillaorganisation FARC vergleichen und unterstellen, seine Camps seien Trainingslager für den Guerrillakampf, der dort mit Hilfe von ausländischen Kräften eingeübt werde. Behauptungen, die die brasilianische Bundespolizei nach eingehenden Untersuchungen 2007 als gegenstandslos bezeichnete. Auch die Menschenrechtskommission der Bundesregierung in Brasília hat mittlerweile Kritik geübt: Das Vorgehen der Militärpolizei verstoße gegen die brasilianische Verfassung.

Brisant ist nicht nur, dass die Beschlüsse des Innenministeriums auf Untersuchungsaktivitäten der Militärpolizei des Bundesstaates zurückgehen, die damit ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen überschritt. Die Anklageschrift fußt laut MST zudem maßgeblich auf Formulierungen eines von MST-Besetzungen betroffenen Großgrundbesitzers aus der Region.

Laut politischer Beobachter sind alteingesessene und neue Großgrundbesitzer wie internationale Konzerne auch die größten Nutznießer der Kriminalisierungsoffensive. Letztere, so zum Beispiel das finnische Unternehmen Stora Enso, betreiben in Rio Grande do Sul Monokulturplantagen für den boomenden Eukalyptus- oder Sojaanbau und sollen Gouverneurin Crusius finanziell großzügig bedacht haben. Sie können sich, wie das gesamte exportorientierte Agrarbusiness Brasiliens, selbstbewusst zeigen: Laut offiziellen Zahlen fließen ihnen mittlerweile nicht nur fast 90 Prozent der gesamten öffentlichen Subventionen zu, die der brasilianische Staat in die Landwirtschaft investiert. Auch wird die Agrarreform zugunsten Landloser und Kleinbauern unter Präsident Lula immer stiefmütterlicher behandelt: So wurden im Jahr 2007 gerade einmal 200 000 ha unproduktives Land enteignet, 62 Prozent weniger als im Vorjahr.

* Aus: Neues Deutschland, 30. September 2008


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