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Das Symbol Engenho Prado

Kampf der Landlosen in Brasilien um Recht auf Nahrung

Von Jan Schikora*

Brasiliens Agrarreform gewinnt auch unter der Regierung Lula nicht an Fahrt. Die Zielvorgabe, bis Ende des Jahres 115 000 Familien anzusiedeln, wird die Regierung klar verfehlen.

Es sind rund fünf Millionen landlose Familien, die darauf warten, im Zuge der Reform ein Grundstück zu erhalten. Die Konflikte um Land haben in Brasilien deutlich an Schärfe zugenommen. In diesem Jahr sind bereits 39 Aktivisten der Landlosenbewegung ermordet worden, insgesamt rund 1500 seit 1985. Dabei fordern sie nur das, wozu sich der Staat in internationalen Verträgen und der eigenen Verfassung selbst verpflichtet. Bereits 1992 – sieben Jahre nach Ende der Diktatur – hat Brasilien den Internationalen Sozialpakt ratifiziert. Er kodifiziert die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Eines ist das Recht auf angemessene Nahrung (Artikel 11). In der brasilianischen Verfassung von 1988 ist die soziale Funktion von Grundbesitz verankert. Grundstücke, die diese Funktion nicht erfüllen, können enteignet werden.

22 Millionen leben in extremer Armut

Allein rund 60 000 unproduktive Großbetriebe mit der Gesamtgröße von bis zu 166 Millionen Hektar wären nach einer Erhebung des brasilianischen Agrarreforminstituts (INCRA) von 1998 bei strenger Anwendung des Verfassungsgrundsatzes betroffen. Eine an sich probate Grundlage also, um die enorme Landkonzentration zu verringern und das Recht auf angemessene Nahrung zu gewährleisten. Gerade angesichts von geschätzten 22 Millionen Brasilianern, die in extremer Armut leben. Der Kampf um das Land einer ehemaligen Zuckermühle im Nordosten Brasiliens zeigt jedoch, wie zäh sich das gestaltet. 1997 besetzten rund 300 Familien landloser Bauern im Bundesstaat Pernambuco das 2500 Hektar große Grundstück einer früheren Zuckermühle, das Engenho Prado. Zügig wurde das Enteignungsverfahren eingeleitet. Unterstützt wurden die Landlosen dabei von Anwälten der brasilianischen Landpastorale (CPT). Tatsächlich wurde das Grundstück noch im selben Jahr vom Obersten Bundesgericht (STF) enteignet. Doch die Eigentümergruppe, die Grupo João Santos, nutzte fortan alle juristischen Schlupflöcher, um den Vollzug zu verhindern. Mit Erfolg – die zur Umsetzung des Urteils vorgeschriebene Frist von zwei Jahren verstrich ungenutzt.

Die Familien hatten in der Zwischenzeit erfolgreich gearbeitet. Sie bebauten das besetzte Land und strichen reiche Ernten ein, mit denen sie die lokalen Märkte versorgten. Sie zogen eine Vieh- und Fischzucht auf, einen Kräutergarten, bauten Häuser, Schule und Kirche. Und dies trotz der fortwährenden Einschüchterungsversuche und Drohungen der Eigentümer, die zu den größten Zucker- und Betonproduzenten der Region zählen, einen Fernsehsender betreiben und die traditionelle Elite der Region repräsentieren.

Im Jahre 2003 eskalierte die Situation. Die Familien wurden durch Einheiten der Militärpolizei zweimal brutal vertrieben. Die Felder, die Häuser und fast die gesamte Habe wurden dabei dem Erdboden gleichgemacht. Ermöglicht wurden die Vertreibungen durch Entscheidungen örtlicher Richter, die sich nur in den seltensten Fällen den lokalen Netzwerken politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Macht entziehen. Gerade in dieser Region sind Autokratie, Vetternwirtschaft und Korruption tragende Säulen und durchziehen den Staatsapparat ebenso wie die Gerichtsbarkeit.

Nach der zweiten Vertreibung im November 2003 lebten die nun wieder Landlosen in absolut prekären Verhältnissen auf dem Randstreifen einer Landstraße, die das Grundstück begrenzt. Armut, Hunger und Drohungen bildeten den Alltag. Nach und nach gaben viele frustriert und demoralisiert den Kampf auf und wanderten ab. Meistens in städtische Elendsquartiere, um dort zu versuchen, den Lebensunterhalt zusammenzukratzen.

Sieg vor Gericht nach acht Jahren

Nur wenige Tage nach der Vertreibung entschied das Oberste Bundesgericht neuerlich die Enteignung des Grundstücks. Zuvor war es den Eigentümern gelungen, die Neuverhandlung immer wieder zu verzögern. Und auch gegen dieses Urteil wurde umgehend Einspruch eingelegt. Im Juni dieses Jahres entschied das Gericht über den Einspruch. Die Enteignung wurde bestätigt. Trotzdem versuchte die Grupo João Santos bis zuletzt, die Umsetzung des rechtskräftigen Urteils zu verzögern, allerdings mit beschränktem Erfolg. Ende November wurde die Enteignung endlich vollzogen und das Land dem Agrarreforminstitut zur Weiterverteilung übertragen. Acht Jahre nach der Besetzung des Grundstücks kannten Jubel und Erleichterung unter den verbliebenen Familien keine Grenzen.

Trotz des letztlich glücklichen Ausgangs für die Landlosen zeigt der Fall, der in Brasilien zum Symbol des Kampfes um Land wurde, wie groß und erbittert der Widerstand der traditionellen Eliten ist, wenn es darum geht, Armen zu ihren Rechten zu verhelfen und die Gesellschaft sozial verträglicher zu gestalten. Verfassung und internationale Abkommen verkommen zu bloßen Absichtserklärungen, wenn sich Politik und Justiz nur in Ausnahmefällen der berechtigten Interessen armer Bevölkerungsgruppen annehmen. Und dies in der Regel auch nur dann, wenn der gesellschaftliche bzw. internationale Druck genügend groß ist.

Die Familien des Engenho Prado wurden in ihrem Kampf von FIAN unterstützt, einer Internationalen Menschenrechtsorganisation, die sich für das Recht auf Ernährung einsetzt. Zahlreiche Protestbriefe und Petitionen wurden an Behörden und Gerichte versandt. Dabei arbeitete FIAN eng mit der Landpastorale CPT und dem Nationalen Berichterstatter für das Recht auf Land, Nahrung und Wasser, Flávio Valente, zusammen. Im Juni 2004 besuchte eine Delegation von FIAN und der internationalen Kleinbauernorganisation La Vía Campesina das Engenho Prado und nahm gegenüber der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen hierzu Stellung. Dessen ungeachtet gab es erst kürzlich einen weiteren Beleg dafür, wie sehr sich Brasilien auf dem Weg zu einem modernen und gerechteren Staat selbst im Wege steht. In dem Bericht eines Parlamentsausschusses des brasilianischen Kongresses zu Landfragen wird empfohlen, Landbesetzungen künftig als »terroristische Handlungen« einzustufen. Das Recht auf angemessene Nahrung bleibt vor diesem Hintergrund blanke Illusion.

* Aus: Neues Deutschland, 13. Dezember 2005


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