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Zähes Ringen um geraubtes Land und Würde

Brasiliens Indígenas zwingen Präsident Lula zu Zugeständnissen

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Landlose und Indígenas sind in Brasilien oft mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Letzte Woche übten sie am »Tag der Kämpfe der Landlosen« und am sogenannten Tag des Indianers den Schulterschluss.

Mitten in der Fußgängerzone von Porto Alegre, auf der Praça da Alfândega, geht eine Gruppe von Guarani-Indígenas einem für die Stadtbewohner ungewöhnlichen Ritual nach: In einer Grünanlage heben sie mit ein paar Spatenstichen ein Loch aus, setzen eine Matepflanze ein, singen und beten. Während ein Schamane die Pflanze weiht, wird er von den Umstehenden mit wohlriechendem Pfeifenrauch umhüllt.

»Land ist Leben« – auf diesen Nenner lässt sich das Anliegen der 800 Guaranis bringen, die sich in Porto Alegre zu ihrem zweiten kontinentalen Treffen versammelt haben. Auch aus Paraguay, Argentinien und Bolivien sind Vertreter zu dem Camp im Harmonia-Stadtpark angereist, ebenso Aktivisten der Landlosenbewegung MST und der Arbeitslosenbewegung.

»Wir Guaranis kennen keine Grenzen«, sagt Organisator Mario Karaí. »Hier haben wir erfahren, dass wir in den jeweiligen Ländern oft vor ganz ähnlichen Problemen stehen«, berichtet der 26-jährige Lehrer aus dem südbrasilianischen Viamão. »Selbst dort, wo wir nach langen Kämpfen unser Land zurückgewonnen haben, ist ein Leben in Würde nicht garantiert.«

Außerhalb des Amazonas-Regenwaldes stelle das Agrobusiness die größte Bedrohung dar, finden Landlose und Indígenas gleichermaßen. Wenn Bauern oder große Konzerne Soja, Zuckerrohr und Eukalyptus anbauen, sind Konflikte mit den schon zahlenmäßig unterlegenen Ureinwohnern programmiert. Im Bundesstaat Espirito Santo nördlich von Rio de Janeiro etwa streiten Guaranis und Tupinikins gegen den Zellstoff-Multi Aracruz, der auf 11 000 Hektar Indianerland Eukalyptus-Plantagen angelegt hat. Bislang genießt das Unternehmen bei dem Konflikt die Unterstützung der Behörden, die Bundespolizei ging bereits mehrfach brutal gegen die Indígenas vor.

»Im Grunde versteht uns Lula nicht«, sagt Anastasio Peralta aus dem Agrarstaat Mato Grosso do Sul resignierend. »Als Präsident hat er dieselbe Mentalität an den Tag gelegt wie die europäischen Eroberer: abholzen, Exportprodukte anpflanzen, Staudämme bauen.« In dem Bundesstaat, der an Paraguay grenzt, werden den Guarani-Kaiowás langsam die Lebensgrundlagen entzogen: Seit 2005 sind dort mindestens 41 Kinder unter vier Jahren verhungert.

In dem großen Versammlungszelt von Porto Alegre beschreibt Jurema Benites eindringlich, wie »Indianer von Nicht-Indianern getäuscht und verdorben« werden. So erhielten sie Geschenke, die nicht ihrem ursprünglichen Lebensstil entsprächen, wie Häuser und Möbel. »Aber wenn wir unsere eigene Kultur aufgeben, verlieren wir die Kraft zu kämpfen«, sagt die 27-Jährige, deren Familie im Bundesstaat Santa Catarina bereits vor Generationen von deutschstämmigen Siedlern vertrieben wurde.

Die 17 Guarani-Familien sind »vorläufig« in einem Reservat der Kaingang untergekommen, »doch die sind ganz anders als wir«, sagt Jurema Benites. Seit zehn Jahren fordern die Guaranis ihr früheres Territorium im weit abgelegenen Hinterland zurück, doch die weißen Bauern und Holzunternehmer verfügen über beste Kontakte zu Politikern in allen Parteien und schrecken auch vor Todesdrohungen nicht zurück. »Es ist ein heikler Konflikt, bei dem die Guaranis kaum eine Chance haben«, fasst Iván Cima vom Indigenenmissionsrat CIMI zusammen.

Die Basiskatholiken, die auch in diesem Fall auf eine Mischung von politischem Druck, juristischen Verbesserungen und ganz konkreter Hilfe setzen, sind die wichtigsten Unterstützer der gut 700 000 brasilianischen Indígenas. 227 unterschiedliche Völker und 180 Sprachen gibt es in Brasilien.

Auch in anderen Landesteilen mobilisierten die Indígenas. Tausende kamen zusammen, um sich auszutauschen, zu feiern und ihrer Forderung nach Rückgabe des geraubten Landes Gehör zu verschaffen. »Solche Treffen sind der Treibstoff unseres Kampfes«, sagt CIMI-Missionar Cima.

Auf eine CIMI-Initiative geht auch die Nationale Kommission für Indianerpolitik zurück, die am letzten Donnerstag, dem »Tag des Indianers«, im Justizministerium von Brasília eingesetzt wurde. In der Kommission, die Vorgaben für die künftige Regierungspolitik erarbeiten soll, sitzen neben 13 Regierungsbeamten 20 indigene Vertreter sowie zwei Berater.

Auch Staatschef Lula, der vor Monaten die Indígenas ebenso wie Afrobrasilianer und Umweltaktivisten als »Hindernis für den Fortschritt« gescholten hatte, empfing die indigenen Vertreter der neuen Kommission. »Alles, was zwischen 2003 und 2006 unterlassen wurde, werden wir bis 2010 machen«, versprach er und bestätigte die Zuweisung sechs weiterer Reservate mit einer Gesamtfläche von 9780 Quadratkilometern. Bedeutsamer war die Entscheidung von Justizminister Tarso Genro, für sieben Territorien den Prozess der Landvermessung einzuleiten. Überraschend darunter: das Araçaí-Gebiet, das die Guarani-Familien um Jurema Benites vor sieben Jahren kurzzeitig besetzt hatten. »Das ist ein großer Sieg«, meint CIMI-Aktivist Roberto Liebgott, »doch bis die Guaranis tatsächlich in Ruhe dort wohnen können, müssen sie noch viele Konflikte aushalten.«

Lippenbekenntnisse

Politiker aller deutschen Parteien geben sich gern als Indianerfreunde. Doch für die Bundesregierung haben Wirtschaftsinteressen Vorrang. »Immer wenn wertvolle Rohstoffe gefunden und Begehrlichkeiten von Firmen geweckt werden, geraten Indígenas unter enormen Druck und können ihre traditionellen Lebensweisen kaum aufrechterhalten«, sagt Thilo Hoppe von den Grünen. Sein Antrag, die Regierung möge die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz indigener Völker ratifizieren, wurde Ende März von Union, SPD und FDP abgeschmettert.
GD



* Aus: Neues Deutschland, 24. April 2007


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