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Brasilien: Frust über Lula

Der neue neoliberale Staatschef enttäuscht seine Wähler - und noch mehr Europas Progressive

Von Klaus Hart*

Kuriose Dinge passierten vor einem Jahr. Brasiliens Machteliten hatten sich erstmals den rechtssozialdemokratischen Ex-Gewerkschaftsführer Luis Inacio Lula da Silva zum neuen Staatschef ausgeguckt, ihn mit massiver materieller Unterstützung die Wahlen gewinnen lassen. Doch vor allem in Europa wurde das zum Sieg der Linken nicht nur Brasiliens, sondern ganz Lateinamerikas umgedeutet, gar mit weltweiten politischen Auswirkungen. "Sozialist" Lula - ab sofort Ikone, Idol, anti-neoliberaler Hoffnungsträger aller Progressiven, Drittwelt-und Umweltbewegten. Der "Spiegel" faselte von "Lulas Samba-Revolution", konstatierte eine "geradezu tektonische Links-Verschiebung des brasilianischen Riesen", linksalternative Blättchen sahen den Tropenstaat in nicht enden wollender Lula-Euphorie - obwohl bestenfalls gespannte Erwartung zu beobachten war. Lula ein Linker, ein Sozialist? Dann ist Schröder kommunismusverdächtig.

Ein Jahr später würde laut neuesten Umfragen die Hälfte der Lula-Wähler nicht wieder für ihn votieren. Der Urnengang von 2002 war zuallererst eine Protestwahl selbst der Mittelschicht und von Teilen der Unternehmerschaft gegen die neoliberale Politik des Lula-Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der FU Berlin. Die Lula-Mannschaft führt jedoch dessen neoliberalen Kurs nicht nur fort, sondern verschärft ihn sogar, fördert die Massenarbeitslosigkeit, läßt die Realeinkommen noch mehr absinken, die Elendsviertel noch rascher wachsen. Entsprechend begeistert sind Banker, Spekulanten, Multis, Washington und Berlin. Die FAZ nennt Lula den neuen Liebling der Börsen - doch sein propagandistisches Zugpferd, das Anti-Hunger-Programm "Fome Zero"(Null Hunger) macht nur mühsam kleine Fortschritte. Dennoch erhält er dafür im Ausland, vor der UNO, stehend Ovationen - während in den letzten Wochen allein im Dorf Geripanco des nordostbrasilianischen Teilstaats Alagoas zehn Indianerkinder vor Hunger starben, viele deshalb entsetzt aufhorchten. Lulas unabhängiger Berater, der Befreiungstheologe Frei Betto, beklagt, daß täglich in Brasilien 180 Kinder verhungern - er nennt das "Genocidio". Immer noch seien 44 Millionen Brasilianer unterernährt, was nicht zuletzt eine entsetzlich hohe Kindersterblichkeit verursache. Bislang verhilft das Fome-Zero-Programm nur etwa einer Million verarmter, verelendeter Familien zu Grundnahrungsmitteln, sozialer Betreuung.

Produziert das Land zuwenig zum Essen? Von wegen - die dreizehnte Wirtschaftsnation ist erstmals der größte Fleischexporteur der Welt, die Lula-Regierung bejubelt Rekordernten, Rekordausfuhren an Lebensmitteln auch nach Europa, nach Deutschland.

Selbst bei den Menschenrechten - alles wie gehabt, unter Lula sogar weit über ein Dutzend politische Gefangene. Sämtlich aus der Landlosenbewegung MST. Fast täglich werden Indianer, Bürgerrechtler, Kleinbauern ermordet, wüten Todesschwadronen, ist selbst Folter auch unter Lula weiter alltäglich. Die Banditenmilizen terrorisieren weiterhin Millionen von Slumbewohnern, verbrennen, zerstückeln jene lebendig, die sich ihrem neofeudalen Normendiktat widersetzen, vergewaltigen, skalpieren sogar Frauen. Offizielle Proteste des Auslands, gar Sanktionen der EU wie im Falle Kubas? Die bleiben natürlich aus. Lula ist doch schließlich Demokrat, Sozialdemokrat.

Direkt skurril, daß sich jetzt mancher aus der progressiven Szene Deutschlands fragt, was denn nur in diesen Lula gefahren ist. Wieso dieser Wandel in nur einem Jahr? Auch die französische "Liberation" ist arg bedrippt, lag mit ihrer schwelgerischen Ferndiagnose ebenso daneben wie die deutsche Biertisch-Linke. Mit etwas weniger Faktenresistenz als üblich hätte auffallen können, wie sich Lula selbst politisch definiert:"Mein ganzes Leben lang mochte ich überhaupt nicht, als Linker, Linksgerichteter klassifiziert zu werden. Und als sie mich zum ersten Mal fragten, ob ich ein Kommunist sei, habe ich geantwortet: Ich bin Dreher."

Zudem wäre es ungewöhnlich, jemanden als links einzustufen, der bestimmte Sympathien für Adolf Hitler hegt. Bereits als Gewerkschaftsführer sagte Lula in einem Interview wörtlich - und nie dementiert, berichtigt:"Hitler irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere - dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen...Was ich bewundere, ist die Veranlagung, Bereitschaft, die Kraft, die Hingabe."

Waldemar Rossi in Sao Paulo, einer der bekanntesten Führer der sozialen Bewegungen des Tropenlandes, organisierte früher mit Lula Streiks, kennt ihn wie kaum ein anderer:"Lula ist in Wahrheit nicht einmal sozialdemokratisch, ist ideologisch fragil - er wuchs in der Gewerkschaftsbewegung faschistischen Ursprungs auf, in einer von multinationalen Konzernen geprägten Industriestruktur. Seine Weltsicht, seine Sicht von Entwicklung ist just jenes derzeit auf der ganzen Erde dominierende Modell. Lula fehlt eine klare Vision der Differenziertheit in der heutigen Welt - Lula war nie ein Linker. All dies erklärt seine teilweise Bewunderung für Adolf Hitler."

Nicht zufällig lassen Oppositionelle jetzt zahlreiche Großwerbeflächen Brasiliens mit einem Konterfei Lulas und dieser roten Schlagzeile bekleben:"Mr.Lula - Verräter landen stets auf dem Müllhaufen der Geschichte."

Die Universitätsprofessorin Anita Prestes, Tochter von Olga Benario, in Rio zum Freitag:"Lula ist kein Sozialist."

Deutschen Ferndiagnostikern, die jetzt über ihn gefrustet sind, war offenbar auch nicht aufgefallen, wie begeistert die Sozialistische Internationale(SI) den Lula-Wahlsieg feierte, sogleich mit dessen Arbeiterpartei(PT) verabredete, den nächsten SI-Kongreß gemeinsam in Sao Paulo auszurichten. Gerade geschehen, Lula hielt die Eröffnungsrede. Großbritanniens Botschafter in Brasilia:"Lula und Blair haben annähernd die gleiche Ideologie". Die Beziehungen zu Schröders SPD sind die denkbar engsten. Linke Strömungen in der PT hatten lange Zeit unter Hinweis auf Parteiprogramm und politische Wurzeln eine Annäherung an die SI verhindern können. Da jedoch der nicht-linke, reformistische PT-Flügel "Artikulation", zu dem auch Lula gehört, immer mehr die Oberhand gewann, wurde dieser Widerstand zunehmend schwächer, erhielt die PT bereits in den 80ern einen Beobachterstatus. Und erst seit "Artikulation" nahezu alle PT-Führungsposten besetzte, sich mit rechtsextremen Oligarchen anfreundete, den Machteliten mehrfach demonstrierte, wie Rest-Linke, Progressive in der Partei kleingehalten werden, erhielt Lula schließlich den Zuschlag. "Andernfalls", so eine Gewerkschafterin Sao Paulos, "hätten sie ihn nie gewinnen lassen." Als Aufpasser und Vize-Staatschef gab man ihm sicherheitshalber den Milliardär und Großindustriellen Josč Alencar, einen berüchtigten Ausbeuter, an die Seite - er zählt zur rechtsgerichteten, von einer Wunderheilersekte dominierten PL(Partido Liberal). Auch die völlig inkompetente Sozialministerin Benedita da Silva, eine der übelsten Figuren von "Artikulation", gehört zu einer Sekte, steht jetzt wegen ihrer vom Steuerzahler finanzierten Luxusreise zu einem Sektentreffen in Argentinien erneut im Kreuzfeuer der Kritik. Umweltministerin Marina Silva, von derselben Sekte - ebenfalls eine Riesenpleite; selbst Greenpeace empfiehlt ihr den Rücktritt.

Nachvollziehbar, daß sich der Ex-Guerillheiro, Umweltexperte, Schriftsteller und hochangesehene Kongreßabgeordnete Fernando Gabeira, der einst im Westberliner Exil lebte, sich jetzt mit Grausen von der Arbeiterpartei abwandte, seinen Austritt erklärte. Und sogar die befreiungstheologisch orientierte katholische Kirche Brasiliens sieht sich in ihren Vorhersagen bestätigt - diese Regierung sei wie die vorherigen. Dazu passen die neuesten Daten des seriösen "Latinobarometro" vom August. In ganz Lateinamerika sind nur 53 Prozent für die bürgerliche Demokratie, in Brasilien ganze 35 Prozent. Zufrieden mit der Marktwirtschaft erklären sich auf dem ganzen Kontinent nur 16 Prozent, in Brasilien 25 Prozent. Und 65 Prozent der Brasilianer würden eine nicht-demokratische Regierung akzeptieren, sofern diese die drückenden Wirtschaftsprobleme löst. Fidel Castro, dessen Land auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung weit vor Brasilien liegt, wird das neueste Latinobarometro wiederum mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen haben - bei ihm gibts schließlich weder Slums noch Arbeitslose und auch keine Hungertoten wie in Brasilien.

* Anmerkung: Ein gekürzter und in einigen Passagen veränderter Text erschien in der Wochenzeitung "Freitag" 47, 14. November 2003


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