Finanzkrise trifft Brasilien
Größter Börsensturz des Jahrzehnts / Präsidentengipfel in Manaus
Von Martin Ling *
Venezuelas Präsident Hugo Chávez sieht mit der US-Finanzmarktkrise die Endphase des
Kapitalismus kommen, sein brasilianischer Kollege Luis Inácio »Lula« da Silva ist weniger
optimistisch. Er befürchtet, dass die armen Länder all ihren Konsolidierungsanstrengungen in den
letzten Jahren zum Trotz nun Opfer des US-amerikanischen Kasinokapitalismus werden könnten.
Einig sind sich beide darin, dass beim Treffen am Dienstag (Ortszeit) in Manaus mit ihren Kollegen
aus Ecuador, Rafael Correa, und Bolivien, Evo Morales, die Finanzmarktkrise auf die Tagesordnung
kommen müsste. Dabei sollte es bei dem Routinegipfel eigentlich um gemeinsame
Entwicklungsprojekte gehen.
Doch Brasiliens Präsident Lula hat derzeit andere Sorgen. Die internationale Bankenkrise hat am
Montag an der Börse im brasilianischen São Paulo Panik ausgelöst. Nachdem der Leitindex
Bovespa um mehr als zehn Prozent abgesackt war, wurde der Handel kurz vor 15 Uhr Ortszeit (20
Uhr MESZ) ausgesetzt, um die Marktteilnehmer zu beruhigen. Um 15.30 Ortszeit wurde der Handel
wieder aufgenommen. Gegen 16 Uhr hatte der Bovespa allerdings um knapp zwölf Prozent
nachgegeben. Am Dienstag ging es zum Börsenauftakt wieder leicht nach oben.
Mit den Grunddaten der brasilianischen Ökonomie hat dieser Börsensturz nichts zu tun. Dank der
hohen Rohstoffpreise in den letzten Jahren verzeichnet das Land seit 2004 beachtliche
Wachstumsraten und erzielt Jahr für Jahr Devisenüberschüsse aus dem Außenhandel.
Doch selbst
die inzwischen auf 200 Milliarden Dollar angeschwollenen Reserven schützen die Regionalmacht
nicht wirklich vor den Ausläufern der Finanzmarktkrise. Vor allem ausländische, institutionelle
Anleger verkaufen brasilianische Papiere, realisieren die Kursgewinne aus den letzten Jahren und
verschaffen sich somit frische Liquidität, eben genau das, was an der Wall Street und weit darüber
hinaus knapp ist.
Argentinien trifft die Krise weit weniger. Aus einem simplen Grund: Seit dem Staatsbankrott 2002 ist
das Land vom internationalen Kapitalmarkt abgeschnitten. Und wo kein internationales Kapital ist,
kann es auch nicht abgezogen werden.
* Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2008
Börsenpanik in Brasilien
Von Martin Ling **
Brasilien boomt, der Börsenindex fällt. Eigentlich ein Paradoxon, doch die US-Finanzmarktkrise macht's möglich. Das in den USA fürs Erste geplatzte Rettungspaket hat den Börsenindex Bovespa um über zehn Prozent in die Tiefe rauschen lassen -- Minusrekord des Jahrzehnts. Dabei hatte Präsident Lula noch vor wenigen Tagen in Optimismus gemacht: Vor Jahren hätte ein Niesen der US-amerikanischen Wirtschaft Brasilien eine Lungenentzündung eingebrockt, so Brasiliens Präsident Lula. Nun sei das Immunsystem so stark, dass auch die Finanzmarktkrise in den USA dem südamerikanischen Giganten nichts mehr anhaben könne.
Lula hat sich getäuscht, obwohl er gute Argumente hatte: Seit Jahren fallen hohe Wachstumsraten mit hohen Leistungsbilanz-Überschüssen zusammen, die die Devisenreserven auf die Rekordhöhe von 200 Milliarden Dollar schnellen ließen. All das bietet in normalen Zeiten optimale Rahmenbedingungen: Der Devisenüberschuss reduziert die Abhängigkeit vom internationalen Kapital und vom internationalen Zinsdiktat. Lulas Kritik, dass vor allem der Süden den Preis für die unverantwortliche Finanzpolitik der USA zu zahlen hat, ist mehr als berechtigt. Auch am Anfang der Schuldenkrise 1982 stand der Run der USA auf das internationale Kapital -- damals um Reagans »Krieg der Sterne« zu finanzieren. Die Weltwirtschaft steht bestenfalls vor einer Hochzinsphase mit schwachem Wachstum, schlimmstenfalls vor einer tiefen globalen Rezession.
** Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2008 (Kommentar)
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