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Fette Jahre sind vorbei

Zuviel Geld in der Welt: »Monetärer Tsunami« kühlt Brasiliens Konjunktur empfindlich ab. OECD prognostiziert anhaltende Flaute für die Wirtschaft des Landes

Von Peter Steiniger *

Dilma Rousseff ist sauer. Brasiliens Präsidentin verstimmt die gewaltige Geldexpansion, mit welcher die entwickelten Länder, insbesondere die Euro-Zone und die USA, die Finanzmärkte eindecken. Die Industrienationen hätten einen »Währungskrieg« entfesselt. Allein die Europäische Zentralbank, EZB, hat in den letzten Monaten rund eine Billion Euro zu Niedrigzinsen von 1,0 Prozent als billiges Geld an die Banken ausgereicht. Bei einem Zusammentreffen mit der Vertreterin der Deutschland AG, Bundeskanzlerin Angela Merkel, auf der Computermesse Cebit Anfang März, prangerte Rousseff die politisch motivierte Flutung der Märkte als »monetären Tsunami« an, der auf die Wettbewerbsfähigkeit von Schwellenländern wie Brasilien schlage.

Diese Finanzschwemme, vulgo Inflation, mit der die Staatsschuldenkrise in Europa gedämpft und ein Auseinanderfallen der Euro-Währungsunion aufgeschoben werden soll, schlägt sich in den Wechselkursen nieder. Die faktische Abwertung von US-Dollar und Euro stärkt den Exportsektor der Industrienationen. Dies fordert die Schwellenländer zu Gegenmaßnahmen heraus. So hat Brasilien unlängst höhere Einfuhrzölle auf Automobile verhängt. Die Zentralbank des Landes versucht durch massive Dollarkäufe, den Wechselkurs auf die Marke von 1,70 Reais zu drücken.

Die Nachfrage aus den sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien und China) treibt den nach wie vor auf Hochtouren laufenden deutschen Exportmotor wesentlich mit an. Vor allem dem Maschinenbau, der Auto- und der Chemieindustrie füllt sie die Bücher. Damit konnten die schwächelnden Absatzmärkte in der Euro-Zone und den USA bisher mehr als kompensiert werden.

In der vergangenen Dekade wies Brasilien durchgängig eine positive Außenhandelsbilanz auf, wenn auch mit sinkender Tendenz. Der Gesamtwert sowohl der Importe als auch der Exporte von Gütern liegt nun nahe bei 200 Milliarden US-Dollar. Das fünftgrößte Land der Erde vollzieht einen beeindruckenden ökonomischen Aufstieg, der sich auch im Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) widerspiegelt. Nach diesem Indikator, der den Gesamtwert aller im Land produzierten Waren und Dienstleistungen enthält, hat sich die Leistungskraft der Volkswirtschaft Brasiliens im letzten Jahrzehnt auf mehr als zwei Billionen Dollar vervierfacht. Gigantische Infrastrukturprojekte, bei denen Nachhaltigkeit und Umweltbelangen wenig Beachtung geschenkt wird, gelten als Königsweg für Entwicklung im »Land der Zukunft«.

Die Massenkaufkraft ist – auch dank großangelegter Sozialprogramme während der Präsidentschaften von Rousseff und ihrem Vorgänger »Lula« da Silva von der Arbeiterpartei PT – gestiegen, mehr als die Hälfte der 195 Millionen Einwohner werden heute zur unteren Mittelschicht und somit zur »Klasse C«, Menschen mit der Möglichkeit zu einem gewissen Konsum, gezählt. 2,9 Millionen Brasilianer konnten 2011 die Etiketten der Armut, D und E, ablegen. An der enormen Ungleichheit in der Gesellschaft hat dies allerdings nur wenig geändert. Von einer ernsthaft vorangetriebenen Agrarreform kann nicht die Rede sein. Organisiertes Verbrechen, Korruption und staatliche Repression herrschen in etlichen »talibanisierten« Favelas, den Armenvierteln der Metropolen.

Die schönen Bilanzsummen verdecken qualitative und strukturelle Defizite in Handel und Industrie Brasiliens, die weiter bestehenden Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnisse im globalen Rahmen. Das Land ist weiter zuerst Lieferant von Rohstoffen und Agrargütern für den Weltmarkt, verlängerte Werkbank ausländischer Konzerne und ihr Absatzmarkt für veredelte Erzeugnisse. Fast die Hälfte des Exports entfällt wertmäßig auf die Primärprodukte Rohöl, Eisenerz, Soja, Fleisch, Zucker und Kaffee. In nur fünf Jahren hat sich ihr Anteil an den Ausfuhren um zwei Drittel erhöht. In Sektoren wie das große Agrobusiness fließt auch der Löwenanteil ausländischer Investitionen.

Doch nun stockt Brasiliens Motor. Im dritten Quartal 2011 kam das Wachstum von Südamerikas größter Wirtschaftsmacht sogar zum Stehen. Nach den Zahlen des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) blieb im Jahr 2011 das Wachstum mit 2,7 Prozent deutlich hinter den von der Bundesregierung in Brasília prognostizierten fünf Prozent zurück. 2010 gab es noch ein sattes Plus von 7,5 Prozent beim BIP.

Nicht nur die Finanzschwemme aus Euro- und Amiland streut Sand ins Getriebe des Aufsteigers vom Zuckerhut. China, ein wichtiger Absatzmarkt für brasilianische Rohstoffe, hat den Turbo herausgenommen. Die OECD sieht für beide Länder einen Abwärtstrend. Gemeinsam mit den Schwellenländern Rußland, Indien und Südafrika wollen sie nun ihre Stellungen im »Währungskrieg« befestigen. Unter Federführung der China Development Bank (CDB) soll ein Devisenpakt geschmiedet werden, der Schwankungen beim Dollarkurs abfängt und den chinesischen Yuan als internationale Reserve- und bilaterale Handelswährung stärkt.

* Aus: junge Welt, 24. März 2012


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