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Militärpolizei besetzt Favela

Brasilien: Eskalation in Elendsviertel von São Paulo nach dem Tod eines Bewohners

Von Andreas Knobloch *

Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern der Favela Paraisópolis und der Polizei am späten Montag abend halten weiterhin mindestens 400 Polizisten der Militärpolizei PM (Policia Militar) das Elendsviertel im Westen São Paulos besetzt. Aussagen von Polizeisprecher Cibele Marsola zufolge wird diese Präsenz erst einmal unbestimmte Zeit andauern. Sie soll vor allem neue Tumulte verhindern und die Arbeit der ROTA (Rondas Ostensivas Tobias de Aguiar), einer Art Eliteeinheit der PM, die vor allem zur Aufstandsbekämpfung und Aufklärung eingesetzt wird, unterstützen. Zu diesem Zweck werden seit Mittwoch morgen an 33 Kontrollpunkten in der Favela Personenkontrollen durchgeführt.

Die Situation in Paraisópolis eskalierte während einer Demonstration gegen Polizeigewalt am späten Montag nachmittag, nachdem am Sonntag ein Favela-Bewohner, der von der Polizei eines Autodiebstahls verdächtigt wurde, von Polizisten erschossen worden war. Die Demonstranten errichteten mindestens zwanzig Barrikaden und bewarfen die anrückenden Polizeikräfte mit Steinen. Mehrere Autos und Müllcontainer wurden in Brand gesteckt. Erst nach mehreren Stunden hatte die Militärpolizei die Unruhen unter Kontrolle.

Dabei wurden vier Polizisten verletzt – drei durch Schüsse, einer durch einen Steinwurf am Kopf – niemand jedoch lebensgefährlich. Auf der anderen Seite wurde mindestens ein Favela-Bewohner von einer Kugel getroffen. Noch ist jedoch unklar, ob die aus einer Polizeiwaffe oder von Demonstranten abgefeuert wurde. Die Untersuchungen dazu laufen. Insgesamt gab es neun Festnahmen, darunter drei Minderjährige, die mittlerweile aber alle wieder auf freiem Fuß sind.

Die Favela Paraisópolis ist mit 800000 Quadratmetern und geschätzten 65000 bis 80000 Einwohnern die zweitgrößte Favela der Stadt, und zugleich die sozial schwächste. Nur 54 Prozent der Bewohner können einen Schulbesuch vorweisen, gerade einmal 7 Prozent schaffen es an die Universität. Das sind die geringsten Werte aller 96 Bezirke von São Paulo. Dafür ist die Arbeitslosigkeit mit 25 Prozent die höchste. Polizeigewalt ist ein eher alltägliches Phänomen.

Wie und warum es jedoch genau zu den Unruhen kam ist noch unklar und derzeit Gegenstand von Untersuchungen. Die Zivilpolizei (Policia Civil) vermutet die PCC (Primeiro Comando da Capital) hinter dem Gewaltausbruch. Dieser sei keineswegs spontan erfolgt, sondern gut koordiniert gewesen. Die vor allem in São Paulo operierende PCC wurde Anfang der 1990er Jahre zur Unterstützung von Häftlingen gegründet, gilt aber als kriminelle Vereinigung, die von der Polizei für mehr als 50 Aufstände und Unruhen der letzten Jahre in Favelas verantwortlich gemacht wird und zudem in Drogengeschäfte verstrickt sein soll.

Die PM jedoch vermutet, daß der gewaltsame Tod des Favela-Bewohners vom Sonntag und die dadurch aufgeladene Stimmung die Auseinandersetzungen bedingt haben. Laut Gilson Rodrigues, Präsident der Anwohnerorganisation União dos Moradores e do Comércio de Paraisópolis, liegen die wirklichen Motive noch im Dunkeln.

Während das Vorgehen der Polizeikräfte in São Paulo noch verhältnismäßig zurückhaltend war, ist die Polizei in Rio de Janeiro weniger zimperlich vorgegangen. Bei Auseinandersetzungen in mehreren Favelas im Westen der Stadt wurden am Mittwoch mindestens zwölf Menschen getötet, darunter ein 15jähriger Junge. In den letzten 18 Monaten sind damit allein in den westlichen Stadtbezirken 32 Menschen bei Polizeiaktionen in der Region getötet worden. Knapp 300 Polizisten waren in mehrere Favelas eingedrungen, um mutmaßliche Drogenhändler festzunehmen.

* Aus: junge Welt, 7. Februar 2009


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