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Sieg für die Waffenlobby in Brasilien: Waffenfans dürfen ihre Waffen behalten

Ein Referendum über den Handel mit Feuerwaffen und Munition endete mit einer Niederlage der Waffengegner (Berichte und Kommentar)

Wir hatten über die politische und soziale Bedeutung des Referendums bereits berichtet und etwas vorlaut verkündet: "Brasilien entwaffnet sich". Das waffenfreundliche Abstimmungsergebnis kam zumindest in dieser Deutlichkeit überraschend. Im Folgenden informieren wir über den Ausgang des Referendums.



Votum für den Waffenhandel

Referendum in Brasilien wurde zur Abstimmung über Sicherheitspolitik

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre

»Soll der Handel mit Feuerwaffen und Munition in Brasilien verboten werden?« Diese Frage beantworteten bei der Volksabstimmung am Sonntag über 59 Millionen Menschen mit »Nein« – das waren 63,9 Prozent der gültigen Stimmen.

Damit erhielten die Waffengegner von der Ja-Kampagne und vor allem die Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva einen noch deutlicheren Denkzettel als zuletzt erwartet. »Gegen die Gewalt brauchen wir Sozialprogramme«, sagte Oppositionsführer José Carlos Aleluia, die Wähler hätten die Frage zu Recht als irrelevant empfunden und dagegen »revoltiert«.

Das »Nein« siegte in allen Bundesstaaten deutlich. Im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul feierten die Waffenfans ein Rekordergebnis von 86,8 Prozent. Im Nordosten, wo Lula noch über den größten Rückhalt verfügt, stimmte immerhin gut 40 Prozent des Wahlvolks mit »Ja«. Besonders aufschlussreich ist das Ergebnis in der Megametropole São Paulo: Dort gab es gerade mal in 3 von 47 Wahlbezirken eine Mehrheit für ein Verbot – allesamt Armenviertel an der Peripherie, in denen die Mordrate mit am höchsten liegt. Umgekehrt gab es in den relativ sicheren, einkommensstarken Vierteln überdurchschnittliche viele Nein-Stimmen.

Die Tageszeitung »O Globo« aus Rio, die als einziges der drei großen überregionalen Blätter keinen Oppositionskurs zur Regierung fährt, wertete das Ergebnis als Misstrauensvotum gegen die Sicherheitspolitik der Regierungen auf Bundes- und Landesebene – das Gros der Polizeikräfte untersteht den Bundesstaaten. Mit ihrem Votum drücke die Bevölkerung aus, dass sie den Sicherheitsorganen nicht vertraue, meinte auch der Abgeordnete Luiz Eduardo Greenhalgh von Lulas Arbeiterpartei PT.

Deutlicher wurde ein Fraktionskollege: Die Regierung habe sich bei dem Referendum davongestohlen und das Volk allein gelassen, schimpfte Paulo Delgado. In der Tat: Lula hatte erst nach der Wahlurne Position für das »Ja« bezogen, Justizminister Márcio Thomaz Bastos, einer der Väter des Referendums, äußerte sich letzte Woche demonstrativ »als Bürger«, nicht als Regierungsmitglied. Andere linke Politiker vermuteten dennoch, dass manch einer die Regierung Lula auch wegen der fünfmonatigen Korruptionsaffäre oder ihrer enttäuschenden Bilanz in der Finanz- und Sozialpolitik abstrafen wollte.

Die Waffenlobby in Washington hingegen konnte nach einer wichtigen Abstimmung im USA-Senat vor wenigen Tagen erneut jubilieren: Das Votum in Brasilien sei ein »Sieg für die Freiheit« und eine »umwerfende Niederlage für die globale Bewegung für Schusswaffenkontrolle«, sagte Andrew Arulanandam von der »National Rifle Association«.

Aus: Neues Deutschland, 25. Oktober 2005


Lula abgestraft

Die Neue Zürcher Zeitung betont den Zusammenhang zwischen Referendum und der Stimmungslage in der Bevölkerung: Die Abstimmung war gegen Lula gerichtet. Es heißt in dem Artikel ("Waffenverbot in Brasilien gescheitert") u.a.:

(...) Für das Verbot des allgemeinen Waffenhandels hatten Präsident Lula da Silva, Bürgerrechtler und die katholische Kirche geworben. Die Initiative hatte bis vor wenigen Wochen noch grossen Zuspruch in der Bevölkerung gefunden. Dann jedoch kippte die Stimmung.
(...)
(...) Die Abgeordnete Jandira Feghali, die das Verbot befürwortet hatte, sagte, mit dem Votum hätten einige Wähler auch die Regierung Lula da Silvas abstrafen wollen. Die Präsident und seine Regierung stehen seit Monaten im Zentrum einer Korruptionsaffäre.
Der Skandal um Schmiergeldzahlungen und schwarze Kassen hat Lulas linksgerichtete Arbeiterpartei in die schwerste Krise seit ihrer Gründung vor 25 Jahren gestürzt. Lula selbst sagte nach der Wahl, es handle sich um ein kontroverses Thema. Er werde das Votum respektieren.
Im Jahr 2003 hatte die Regierung bereits strengere Waffengesetze erlassen. Im Juli 2004 wurde eine Kampagne zur Entwaffnung der Zivilbevölkerung gestartet: Für jedes abgegebene Sturmgewehr zahlte die Regierung bis zu 100 Dollar. Bis September dieses Jahres wurden 440000 Gewehre eingereicht.
Die Zahl der Waffenläden ging seit Beginn der Kampagne von landesweit 1500 auf 250 zurück. Die Industrie erklärte, es seien schätzungsweise 7000 Arbeitsplätze verloren gegangen.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 25. Oktober 2005


Und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ("Ein Sieg der Waffenlobby im Land der Gewalt") war ergänzend zu lesen:

(...) An der Volksabstimmung nahmen etwa 120 Millionen Brasilianer teil. Die Teilnahme war für alle Bürger zwischen 18 und 70 Jahren verpflichtend. Stimmberechtigt waren aber auch Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren.
Amtlichen Angaben zufolge gibt es in brasilianischen Haushalten mehr als 17 Millionen Schusswaffen. Davon sind neun Millionen nicht angemeldet. Zwischen 1979 und 2003 wurde nach Angaben der Vereinten Nationen in Brasilien mehr als eine halbe Million Menschen ermordet. (...)

Aus: FAZ, 25. Oktober 2005


K o m m e n t a r

Sieg der Waffenlobby in Brasilien!?

Von Gerhard Dilger Nur ein Sieg der Waffenlobby? Eine solche Analyse greift im Fall der Volksabstimmung in Brasilien zu kurz. Dass sich fast zwei Drittel der Bevölkerung gegen ein Verbot des legalen Waffenhandels ausgesprochen haben, ist vielmehr ein kollektiver Hilfeschrei nach dem Motto: Wer soll uns schützen, wenn nicht wir selbst? Die guten Absichten der brasilianischen Regierung ersetzen keine Konzepte in der Sicherheitspolitik, in der der Staat für arme und reiche Brasilianer gleichermaßen versagt hat. Anders als in den USA mit ihrem Verfassungsrecht auf Waffenbesitz finden sich in Brasilien nicht in jedem dritten Haushalt Schusswaffen, sondern in weniger als fünf Prozent. Gravierender sind – ähnlich wie in vielen Regionen des Südens, speziell in Lateinamerika – die extremen sozialen Unterschiede und besonders die Rechtlosigkeit, die in den städtischen Armenvierteln herrscht. Sie erklären, warum Länder wie Brasilien, Venezuela oder El Salvador die Mordstatistiken anführen. Gegen beide Phänomene hat der frühere Hoffnungsträger Lula seit seiner Wahl vor drei Jahren kaum erfolgversprechende Maßnahmen ergriffen. Allzuoft scheitert die notwendige Koordinierung der Polizeieinheiten auf Bundes- und Landesebene an politischen und persönlichen Rivalitäten. Viele Morde bleiben wegen einer engen Verquickung von organisierter Kriminalität, Polizei, Justiz und politischen Eliten ungeahndet. Das Gewaltmonopol des Staates war schon vor dessen neoliberaler Auszehrung seit den neunziger Jahren prekär, und rasche Abhilfe ist nicht zu erwarten. Dennoch: Sollte das Thema nun auf der politischen Tagesordnung bleiben, in Brasilien und international, war die Volksabstimmung am Sonntag vielleicht doch nicht umsonst.

Aus: Neues Deutschland, 25. Oktober 2005


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