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Alle Vorzeichen sprechen für Dilma Rousseff

Die Wunschkandidatin des Amtsinhabers gilt als klare Favoritin

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Es wird noch einmal spannend vor der Präsidentschaftswahl in Brasilien. Zwar steuert die große Favoritin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei einem ungefährdeten Sieg entgegen. Aber nun ist es wieder denkbar, dass die 62-Jährige am Sonntag die absolute Mehrheit knapp verpasst und am 31. Oktober in die Stichwahl muss.

Lula hat seine Wahl längst getroffen: Dilma Rousseff, die Tochter eines bulgarischen Einwanderers, wurde schon vor Jahren vom scheidenden brasilianischen Präsidenten im Alleingang zur Wunschnachfolgerin gekürt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der charismatische ehemalige Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva 2014 wieder selbst antreten möchte – eine zweite Wiederwahl in Folge untersagt die Verfassung.

Dilma, wie sie in Brasilien jetzt fast nur noch genannt wird, profitiert nicht nur von Lulas Prestige und seiner Erfolgsbilanz, sondern auch von dem breiten Regierungsbündnis, das ihr Mentor in den letzten Jahren geschmiedet hat. Wichtigster Partner der PT ist die Zentrumspartei PMDB, die seit dem Ende der Diktatur 1985 noch an jeder Regierung beteiligt war und Schlüsselpositionen in Staatsapparat und Parlament besetzt.

Schon jetzt drängen deren wichtigsten Leute darauf, nach dem Sieg genauso viel Posten zu erhalten wie die PT. Zu Rousseffs Wahlkoalition gehören zudem acht Kleinparteien, von den Kommunisten bis zu den »Republikanern« des mächtigen Sojaunternehmers Blairo Maggi. Zudem reitet sie auf der Rekordpopularität des 64-jährigen Lula mit. Im Fernsehen verspricht sie Kontinuität in allen Bereichen: »Bis 2016 soll kein Brasilianer mehr im Elend leben«, sagt sie immer wieder. Anfang 2009 unterzog sie sich einer Schönheitsoperation und tauschte ihre Brille gegen Kontaktlinsen. Wenige Monate darauf gab sie bekannt, dass sie an einem Lymphdrüsenkrebs erkrankt war, der jedoch mittlerweile geheilt sein soll. Während ihrer Chemotherapie trug sie eine Perücke, nun hat man ihr einen modischen Kurzhaarschnitt verpasst.

Rousseffs gewichtigster Kontrahent ist der 68-jährige José Serra. Der rechtsliberale Sozialdemokrat tritt nach 2002 bereits zum zweiten Mal für das konservative Lager an. Als Gesundheitsminister, Bürgermeister von São Paulo und Gouverneur des gleichnamigen Bundesstaates war Serra recht erfolgreich, doch in den ärmeren Regionen Brasiliens, wo es heute dank Lulas Sozialpolitik Millionen Menschen deutlich besser geht als vor acht Jahren, bleibt er chancenlos. Zumal er programmatisch nichts anderes anbietet als die Regierung: Wachstum und Sozialprogramme.

Dritte starke Kandidatin ist die Grüne Marina Silva, 52 Jahre alt, die in den letzten Tagen spürbar zulegen konnte. Als Lulas Umweltministerin war sie Rousseffs Gegenspielerin im Kabinett, bis sie Mitte 2008 entnervt das Handtuch warf. Die Polarisierung Rousseff/Serra konnte sie aber bislang nicht aufbrechen. Ihre »kostenlosen« Wahlspots zur besten Sendezeit sind gerade eine Minute und 23 Sekunden lang – Serra hat fünfmal, Rousseff knapp achtmal so viel Zeit. So habe Silva kaum eine Chance, ihr Programm bei den »einfachen Leuten« bekanntzumachen, beklagt Greenpeace- Chef Marcelo Furtado. Mit ihrer Vision eines nachhaltigen, CO2-armen Brasilien punktet die Grüne fast ausschließlich in der urbanen Mittelschicht. Auch ihr Antikorruptionsdiskurs verfängt kaum. Die Selbstbedienungsmentalität der meisten Politiker löst beim Volk eher Schulterzucken als Empörung aus.

Dennoch: Dass Rousseff zuletzt doch wieder Punkte einbüßte, liegt auch an der brasilianischen Medienlandschaft. Pünktlich in den Wochen vor den Wahlen deckten sie auch jetzt wieder Abhörund Korruptionsskandale im Umfeld von Lula und Rousseffs Arbeiterpartei PT auf – allen voran die liberale Tageszeitung »Folha de São Paulo« und das auflagenstärkste Wochenmagazin »Veja«. In den Nachrichtensendungen von TV Globo werden diese Storys aufgegriffen und in einem besorgten, scheinbar neutralen Tonfall tagelang gebetsmühlenhaft wiederholt.

Politisch unbedarfte Zuschauer können leicht den Eindruck bekommen, dass die »petistas« die korruptesten Politiker in der jüngeren Geschichte Brasiliens sind. 2006 funktionierte das perfekt: Einen Tag vor der Wahl wurde der lange Zeit klar führende Lula mit einem Foto ausgebremst, das die Titelseiten fast sämtlicher Zeitungen zierte: Bündel von Geldscheinen, die sich lang, breit und hoch auf einem Tisch stapelten. Lula musste in die Stichwahl, die er dann klar für sich entschied. Nun sieht das Meinungsforschungsinstitut Datafolha Rousseff bei 47 Prozent. Serra käme demnach auf 28, Silva auf 14 Prozent.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2010


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