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Rio boomt auf Kosten der Cariocas

Die Preise steigen so rasant wie die Zahl der Touristen, Alteingesessene werden aus ihren Vierteln verdrängt

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro *

Am Sonntag ist der legendäre und komplett überholte Fußballtempel Maracanã in Rio de Janeiro Austragungsort des Finales um den Confed Cup. Die brasilianische Seleção ist dabei, doch viele Cariocas (Bewohner Rios) haben ganz andere Sorgen: immens steigende Lebenshaltungskosten.

Fußballweltmeisterschaft und Olympia sind Megaevents mit gewaltigen Nebenwirkungen. In Rio de Janeiro, WM-Stadt und Austragungsort der Olympischen Spiele 2016, ist dies nicht anders. Seit feststand, dass WM und Olympia in die Stadt kommen, explodierten die Immobilienpreise rund um Zuckerhut und Copacabana und ebenso in Santa Teresa, dem Künstlerviertel im Zentrum Rio de Janeiros.

2006 verkaufte Rechtsanwalt Roberto da Silva die renovierungsbedürftige Hälfte seines Doppelhauses aus der Jahrhundertwende in der Rua Oriente mitten in Santa Teresa für 30 000 Reais, umgerechnet rund 10 000 Euro. Doch statt es zu renovieren, begann der Käufer mit der Immobilie zu spekulieren, denn Rio de Janeiro wurde 2007 zur WM-Stadt ausgerufen, und der Marktpreis stieg schlagartig um das Dreifache auf 90 000 Reais. Mit dem Zuschlag der Olympischen Spiele im Oktober 2009 stiegen die Immobilienpreise noch weiter. Dasselbe Haus steht heute für mehr als das Zehnfache, 400 000 Reais, zum Verkauf – mit dem Unterschied, dass es noch renovierungsbedürftiger ist. Das ist beispielhaft für viele Immobilien Santa Teresas.

»Ein- oder Zweizimmerapartments kosten heute im Schnitt 300 000 bis 400 000 Reais, drei bis vier mal mehr als vor dem Spekulationsboom. Und für ein bewohnbares Haus muss man nun wenigstens eine Million hinlegen«, macht Immobilienhändler Francisco Soares aus Santa Teresa klar. Der gesamte Stadtteil scheint heute ein einziges Spekulationsobjekt zu sein. Verkaufsschilder »Vende Se« (Zu Verkaufen) finden sich in jeder Straße. Doch niemand kauft. Die Preise sind einfach zu hoch. »Selbst die Franzosen kaufen nicht mehr«, scherzt Soares. »Bis 2010 gab es noch Bewegung im Immobiliengeschäft, weil sich die Preise im Rahmen hielten. Viele Häuser gingen vor allem an Franzosen und US-Amerikaner. Doch ab 2011 läuft so gut wie nichts mehr. Der Immobilienmarkt ist zum Erliegen gekommen.« Dabei seien die Preise in Santa Teresa noch nicht mal so hoch wie in der sogenannten Zona Sul, den strandnahen Stadtvierteln wie Botafogo, Copacabana, Ipanema und Leblon.

Stadtforscher Fábio Portela von der Universität Brasilia hat jüngst Tausende von Immobilienanzeigen in Rio de Janeiro ausgewertet. Die Mehrheit der angebotenen Ein- und Zwei-Zimmerapartments kosteten 400 000 und 600 000 Reais. Doch um einen Kredit für 400 000 Reais abbezahlen zu können, weiß Portela, braucht man mindestens ein sicheres Familieneinkommen von mehr als 10 000 Reais monatlich. Laut Brasiliens Statistischem Bundesamt IBGE verfügt aber lediglich eine kleine Minderheit von gerade mal einem Prozent der Bevölkerung über ein so hohes Einkommen. Und 600 000 Reais teure Apartments könnten sich höchsten 0,6 Prozent der brasilianischen Haushalte leisten.

Portela: »Das durchschnittliche Familieneinkommen der Cariocas liegt unter 2500 Reais, während 50 Prozent aller angebotenen Immobilien Rio de Janeiros mehr als 600 000 Reais kosten.« Dies sei ein klares Zeichen für eine Spekulationsblase. »Die Preise sind vom tatsächlichen Einkommen der Bevölkerung entkoppelt.« Angebot und Nachfrage stimmen nicht. »Brasilien ist heute am Ball. Die gesamte sich über den Globus verbreitende Immobilienspekulation, von Südostasien bis Spanien, ist heute hier«, sagt Luiz César Queiroz Ribeiro, Direktor des Forschungsinstituts für Stadtplanung (Ippur).

Die Immobilienspekulation in Santa Teresa sorgte für einen strukturellen Wandel: weniger Bewohner und mehr Touristen. Als erstes machte die traditionelle Bäckerei mit dem bezeichnenden Namen Padaria da Familia (Familienbäckerei) dicht. Touristen holen sich nicht um sieben Uhr morgens die frischen Semmeln selbst und trinken auch nicht den ersten Stehkaffee auf dem Weg zur Arbeit. Das Frühstück ist ja bereits im Pensions- oder Hotelpreis inbegriffen. Umgekehrt bestellen sich die Hotels nicht die Frühstücksbrötchen für ihre Gäste bei der lokalen Bäckerei, sondern kaufen bei einem in der Masse billigeren Mega-Supermarkt außerhalb Santa Teresas ein.

Inzwischen haben weitere kleine Krämer- und Tante-Emma-Läden, der Supermarkt Montreal und die einzige Post in Santa Teresa dicht gemacht. Dem Tourismus tat dies keinen Abbruch. Der floriert vor allem am Wochenende, wenn zu den internationalen Touristen auch die Cariocas aus der Zona Sul und der Zona Nord hinzustoßen. Die einstige Familienbäckerei ist heute eine Musikkneipe.

»Die Stadtregierung sagt, Santa Teresa sei im Prozess der Revitalisierung, doch wir haben heute hier weder eine Bäckerei noch eine Fleischerei, weder einen Krämer- noch einen Tante-Emma-Laden. Wir verlieren an Lebensqualität«, beklagt Paulo Saad, der Chef der Vereinigung der Freunde und Bewohner Santa Teresas (AMAST). Der AMAST-Chef hat zwar einen allerletzten Krämerladen an der Rua Aurea übersehen, aber dennoch recht. Die Lebensqualität der Bewohner Santa Teresas hat drastisch abgenommen, zumal Gouverneur Sérgio Cabral die traditionsreiche, ein Jahrhundert alte Straßenbahn, die rasche und bequeme Verbindung mit dem Geschäfts- und Bankenzentrum Rios, 2011 stillgelegt hat.

Bernhard Kubitzki, dessen Eltern einst aus Polen nach Brasilien einwanderten, hatte Glück. Er kaufte sein Haus am Rand Santa Teresas noch vor dem Boom, für rund 40 000 Reais. »Heute hat mein Haus einen Marktwert von 500 000 bis 600 000 Reais«, sagt er. »Ich bin nun theoretisch ein reicher Mann. Ich könnte ein Schild ›Zu verkaufen‹ aufstellen. Doch selbst, wenn ich einen Käufer fände, was kann ich schon mit dem Geld anfangen? Ein anderes Haus in Santa Teresa oder der Zona Sul kann ich mir davon nicht kaufen. Ich müsste an die entfernte Peripherie Rios ziehen, um dann täglich zwei bis drei Stunden im Bus oder im Stau zu verbringen. Nein, danke, da bleibe ich lieber in Santa Teresa.«

Dolmetscher Victor Silveira hatte weniger Glück. Der 50-Jährige wohnte zur Miete in einem der Wohnblocks an der Rua Alexandrina. Der nicht in Rio de Janeiro wohnhafte Vermieter aber wollte am Spekulationsboom teilhaben und verlängerte den Mietvertrag nicht. Victor Silveira musste aus Santa Teresa wegziehen. Er lebt heute im nördlichen Stadtteil Campo Grande, etwa 50 Kilometer entfernt von seinem Arbeitsplatz im Stadtzentrum.

Opfer der gestiegenen Wohnpreise ist zunächst die Mittelklasse, die aus ihren traditionellen Vierteln, der Zona Sul und Santa Teresa verdrängt werde, bestätigt der Ethnologe und Konfliktforscher Lênin Pires aus Rio. Wer nicht selbst glücklicher Hausbesitzer ist oder einen wasserfesten, langjährigen Mietvertrag in der Tasche hat, muss sich woanders eine Bleibe suchen. Doch für die Mittelschicht bezahlbaren Wohnraum gibt es fast nur noch an der Peripherie in der Nord- oder Ostzone. Noch härter betroffen seien aber jetzt die untersten Einkommensschichten. Pires: »Die Favelabewohner werden regelrecht aus der Stadt hinauskatapultiert.« Exemplarisch zu sehen am Beispiel der Favela Vidigal, die im November 2010 von Spezialeinheiten der Polizei UPP »befriedet« wurde. Die Entwicklung Santa Teresas wiederholt sich nun in Vidigal. Apartments in der inzwischen bei Ausländern und Touristen beliebten Favela mit Meeresblick, die noch vor einem Jahr für 50 000 Reais zu haben waren, kosten heute 250 000 Reais. Viel spricht dafür, dass diese Entwicklung in Vidigal nicht endet.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Juni 2013


Die Bewegung ist ein Schlachtfeld

Der brasilianische Historiker Miguel Borba de Sá über die Vereinnahmung der Proteste durch die Rechte und den Kampf um die Hegemonie **

Miguel Borba de Sá ist Dozent an der Bundesuniversität in Rio de Janeiro. Der Historiker schreibt zu indigenen Kämpfen in Lateinamerika. Er ist zudem politischer Aktivist in der Partei für Sozialismus und Freiheit (P-SOL), einer Linksabspaltung der regierenden Arbeiterpartei PT. Über die Proteste in Brasilien sprach mit Borba de Sá für »nd« Mark Bergfeld.

Die Demonstrationen in Brasilen haben an Stärke eingebüßt, halten aber an. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Vorab: Die Proteste an sich haben nicht erst in São Paulo kurz vor dem Confed Cup begonnen. Schon vor zwei Monaten wurde in Porto Alegre demonstriert und bereits seit anderthalb Jahren eskalieren die sozialen Kämpfe in den Städten, wo die Weltmeisterschaft ausgetragen wird. Die Bauvorhaben und die Unterhaltungsprojekte der konservativen und neoliberalen Bourgeoisie wie WM und Olympische Spiele schaffen mit ihren Begleitumständen Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Leute werden aus ihren Nachbarschaften vertrieben, arme Leute aus den Stadtzentren. Sie sind marginalisiert – ohne Arbeit oder Zugang zum öffentlichen Verkehr. Deshalb haben sich Jugendliche radikalisiert.

Wie organisieren und koordinieren die Menschen die Proteste?

Leute haben die Fotos und Berichte auf Facebook gesehen und ihre eigenen Demonstrationen ausgerufen. Seit Januar organisieren wir Versammlungen. Verschiedene Gruppen, Studenten und Studentinnen, aber auch unpolitische Menschen finden dort zusammen. In anderen Städten gibt es ähnliche Initiativen. Diese Versammlungen sind populär und haben meinen Ausblick auf radikale Politik verändert. Sie sind politisch hochwertig. Bisher habe ich noch nie an so etwas teilgenommen.

Was wird dort gefordert?

Insgesamt findet in der Gesellschaft ein Kampf um Hegemonie statt. Die radikale Linke, Anonymous und die Autonomen versuchen die Proteste in eine explizit antikapitalistische Richtung zu lenken. Sie fordern die Enteignung oder höhere Besteuerung der Reichen und kritisieren jede Regierung, die systematische Ungleichheit aufrecht erhält.

Was für eine Rolle spielen die Medien?

Wir beobachten eine historische Kehrtwende der überwiegend konservativen Medienanstalten. Die Medien blieben lange Zeit still. Wenn sie berichteten, dann nur negativ über die Unruhen. Dann verlor ein Journalist aus São Paulo ein Auge und sechs weitere wurden schwer verletzt. Es scheint, als ob einige herrschende Kreise einen Richtungswechsel bewirkt hätten. Die Medien fingen an, die Proteste zu unterstützen, und riefen sogar Leute dazu auf zu demonstrieren. Dies verleiht den Mobilisierungen Legitimität, aber stellt auch einen klaren Versuch dar, die Proteste zu vereinnahmen. Und die Medien sind von rechten Kräften dominiert.

Wie verhält sich die regierende Arbeiterpartei PT?

Zuerst mobilisierte die PT nicht. Erst als die liberalen konservativen Eliten den Rücktritt der Präsidentin Dilma Rousseff forderten, mobilisierte die PT ihre Mitglieder, damit die Proteste sich nicht gegen die Regierung wenden würden. Nun sind PT-Mitglieder auf der Straße, um Dilmas Regierung zu verteidigen.

Es soll Übergriffe auf linke Demonstranten gegeben haben. Können Sie das bestätigen?

Ja. Es gibt Berichte, dass rechtsradikale und nationalistische Gruppen mobilisieren. Mit Andauern der Bewegung offenbaren sich alle Widersprüchlichkeiten unserer Gesellschaft. In einigen Städten wurden unsere Genossen und Genossinnen körperlich bedroht. Leute mit linken Fahnen und roten T-Shirts wurden von der Demonstration verjagt. Die Leute haben keine klaren Forderungen, keinen gemeinsamen Feind und wenden sich gegen alle Parteien. Der »karnevalistische« Aspekt der Bewegung hilft indes feindlich gesinnten Kräften. So führte in Brasília die radikale Rechte die Unruhen an. Ich bin erstaunt, inwieweit die Rechten es geschafft haben, die Proteste zu vereinnahmen und mit ihrem Stempel zu versehen.

Wie reagiert die Linke?

Die hält zusammen: Aktivisten der Sozialistischen Arbeiterpartei PTSU, der PSOL und der Kommunistischen Partei Brasilien (PCB) verteidigen gemeinsam Menschen, die rote Fahnen und Banner auf den Demonstrationen tragen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Bewegung?

Die Bewegung ist ein Schlachtfeld. Die Leute haben immer noch sexistische, rassistische und homophobe Ideen in den Köpfen. Sie verschwinden nicht von selbst. Es gibt keine politische Kraft in der Linken, die eine Alternative zum Status quo artikulieren könnte. Die sozialen Bewegungen haben in den letzten Jahren an Einfluss verloren. Die radikale Linke hat nicht das politische Instrument, das wir so dringend benötigen. Und das obwohl die antielitären Gefühle der Massen fruchtbarer Nährboden für uns sein sollten. Es besteht die Möglichkeit, dass diese Bewegung mit einer rechten Konsolidierung endet. Noch ist alles offen.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Juni 2013


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