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Ein selbstverliebter Messias

Brasiliens Präsident Lula wird nicht müde, auf die historische Bedeutung seiner Präsidentschaft hinzuweisen

Von Idelber Avelar*

"Entsetzen für die Rechte und Erstaunen für die Linke" - mit diesem Wahlspruch ist Fernando Collor de Mello von der Partei des Nationalen Wiederaufbaus (PRN) 1989 in die Präsidentenwahl gegangen. Luiz Inácio "Lula" da Silva, der damals zum ersten Mal zu einem solchen Votum antrat und inzwischen auf die ersten zwei Jahre seiner Amtszeit als Staatschef zurückblickt, könnte das Gegenteil von sich behaupten: Die rechten Skeptiker staunen, und die linken Anhänger sind entsetzt.

In den zur Zeit äußerst hitzigen Debatten über Lulas Zwischenbilanz verweist die Regierung auf "Erfolge", die in Wahrheit nichts anderes sind, als eine detailgetreue Kopie der Politik des unmittelbaren Vorgängers im Amt, des sozialdemokratischen Politikers Fernando Enrique Cardoso. Sofern sich Lula überhaupt seinen Kritikern stellt, wiederholt er, Wort für Wort, den traditionellen Diskurs der konservativen brasilianischen Eliten. Es ist schon paradox, wenn ein Präsident in der ersten Hälfte seiner Amtszeit exakt die Politik in Kraft setzt, gegen die sich seine eigene Arbeiterpartei (Partido Trabalhadores/ PT) jahrzehntelang gewehrt hat.

Blicken wir zurück: 1980 wurde Lulas Partei von einer neuen Gewerkschaftsgeneration gegründet. Schon nach kurzer Zeit wirkte sie als Gravitationszentrum für die progressiven Teile der katholischen Kirche, für soziale Bewegungen, unabhängige Intellektuelle und den nichtkommunistischen Teil der Linken. Innerhalb der brasilianischen Politik wurde die PT dank ihrer innerparteilichen Demokratie zu einer einzigartigen Erscheinung: Nicht Führungszirkel in Hinterzimmern, sondern große transparente Parteikongresse hatten über alles zu entscheiden - zuvörderst das Programm und die Führung. Alle Mandatsträger der PT mussten stets 30 Prozent ihres Einkommens an die Parteikasse abführen. Die Mitglieder ihrerseits waren dafür berühmt, bei Wahlen sowohl das Parteiprogramm als auch die aufgestellten eigenen Kandidaten bedingungslos zu unterstützen. Bei nahezu jeder Abstimmung, die im Vorfeld einen knappen Ausgang verhieß, konnten sich Kandidaten der PT dank dieser Militanz fast immer durchsetzen.

So wurde die PT schon in den neunziger Jahren zur stärksten politischen Formation im urbanen Brasilien. Von Sao Paulo bis Porto Alegre, von Fortalezza bis Recife, von Belo Horizonte bis Santos - alle wichtigen Städte des Landes sind zumindest zeitweilig von PT-Bürgermeistern regiert worden. In manchen Kommunen herrschten oder herrschen bis heute regelrechte PT-Dynastien. Es gab dabei ausgesprochen progressive Ansätze, wie die Praxis der partizipativen Haushalte zeigte.

Der Marsch durch die Städte reichte allerdings nicht aus, um bei den Präsidentschaftswahlen 1994 und 1998 zu triumphieren. Deshalb - so forderte Lula von seiner Partei - sollte die Wahlkampagne 2002 anders ablaufen: "Alles für den Sieg - egal, was es kostet!" Schon vorher hatte sich ein gewisser "Realismus" der PT bemächtigt, was besonders José Dirceu, dem jetzigen Stabschef von Lula, zu verdanken war. Wie sich die "Korrekturen" vollzogen, offenbarte die Position der PT zur äußeren Verschuldung. Noch 1989 verlangte die Partei, dass sämtliche Schulden Brasiliens als "nicht rechtmäßig" zu betrachten seien. Fünf Jahre später wurde diese Position abgeschwächt, es ging nur noch um "ein Moratorium beim Bedienen des Schuldienstes". Dann gab es 1998 aus der Parteizentrale den Vorschlag, ein Referendum darüber abzuhalten, welche Teile der Verbindlichkeiten beglichen werden sollten. In der Wahlkampagne von 2002 schließlich versprach Lula in seinem berühmten "Brief an das brasilianische Volk" sämtliche Verträge - also auch die Schuldenvereinbarungen - einzuhalten. Heute muss dieses Dokument dafür herhalten, all das zu rechtfertigen, was Kritiker als Verrat an allen Prinzipien der Partei verurteilen.

Die Reformprojekte der Regierung sprechen eine eindeutige Sprache. Die Renten wurden drakonischer beschnitten als in den "neoliberalen" neunziger Jahren. Freiwillig hat die Regierung den für den Schuldendienst vorgesehenen Haushaltsüberschuss von 3,75 auf 4,25 Prozent erhöht und im Gegenzug auf keinerlei Konzessionen der Gläubiger rechnen können. Die Zentralbank erhielt eine bisher nie da gewesene Machtfülle und Enrique Meirelles - den früheren Chef einer privaten Geschäftsbank - als Präsidenten. Seither folgt die Geldpolitik des Landes derselben monetaristischen Orthodoxie, wie sie gerade von der PT immer verdammt wurde. Im Interesse der Spekulanten geht es nur noch darum, die Inflation zu dämpfen.

Auch in der Sozialpolitik, also dort, wo sich die PT-Wähler die größten Veränderungen erhofften, setzt der Präsident auf Programme, die entweder anachronistisch, schlecht gemanagt oder von korrupten Beamten ausgeführt werden. Kein einziger wichtiger sozialer Indikator hat sich in den vergangenen zwei Jahren signifikant verändert. Und nichts spricht dafür, das es in den folgenden zwei Jahren so sein wird.

Trotz dieser miserablen Bilanz wird Lula nicht müde, auf die historische Bedeutung seiner Präsidentschaft hinzuweisen - gerade dadurch erscheint die Situation hoffnungslos. Lula, der Metallarbeiter - die Hoffnung einer ganze Generation - spricht mittlerweile wie ein selbstverliebter Messias: Brasilianer, stärkt euer Selbstbewusstsein, ehrt eure Familien und vertraut auf Gott! Diese peinliche Mischung aus religiösem und konservativem Missionsgeist passt in der Tat wunderbar - zu Bush und Berlusconi.

* Der Autor war von 1981 bis 2004 Mitglied der PT und ist heute Professor für lateinamerikanische Literatur an der Tulane University in New Orleans.

Aus: Freitag 04, 28. Januar 2005



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