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Baustoff der Armen

Asbestverbot verschoben. Zehntausende Menschen sind in Brasilien von Krankheit und Tod durch Verwendung der Mineralfaser bedroht

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro *

Seit über 30 Jahren wissen Medizin und Wissenschaft um die Gefählichkeit von Asbest und seinen Verarbeitungsprodukten wie Eternit. Anfang des Jahres verurteilte die italienische Justiz die Exbesitzer des Eternit-Konzerns, den Belgier Jean-Louis de Cartier de Marchienne und den Schweizer Stephan Schmidheiny, zu 16 Jahren Gefängnis und 100 Millionen Euro Entschädigungszahlungen. Begründung: Die Geschäftsleute hätten die tödlichen Gefahren des feinfaserigen Silikats wider besseres Wissen verharmlost und vertuscht. Ähnlich verhält sich die Asbestlobby in Brasilien, wo bis heute das krebserregende Mineral abgebaut und im großen Stil verarbeitet wird. Ende Oktober sollte nun der Oberste Gerichtshof in Brasilia erstmals über ein bundesweites Asbestverbot entscheiden. Weil zwei der notwendigen acht Bundesminister der Abstimmung fernblieben, wurde die Entscheidung auf unbestimmte Zeit vertagt.

Asbest ist hochgradig umwelt- und gesundheitsschädlich. Seine Anwendung ist weltweit bereits in 66 Ländern verboten, nicht aber in Brasilien. Der größte Staat Lateinamerikas ist neben Kanada einer der letzten Hauptproduzenten und Hauptexporteure dieses Minerals. Brasiliens Asbestmine Canabrava bei Minaçú im Bundesstaat Goiás produziert jährlich 300000 Tonnen. Etwa die Hälfte davon geht in den Export. Der andere Teil wird vor allem in der heimischen Eternitbranche verwendet.

Ob Vorstadtsiedlung oder Slumviertel, Fischer- oder Indianerdorf: Das übliche Dach über dem Kopf der unteren Einkommensschichten Brasiliens besteht überwiegend aus Eternit. Auch für Wohnblocks, Fabrikgebäude, Schulen, Krankenhäuser und renovierte Altbauten sind die Faserzementplatten zum Dachdecken meist erste Wahl. Sie sind billig, leicht und erlaubt. Etwa 80 Prozent aller Haushalte nutzten Asbest in Form von Eternit-Trinkwasserkästen, so Expertenschätzungen.

Laut dem Konzern »Eternit Brasilien« tragen 25 Millionen Gebäude in der República Federativa ein derartiges Dach mit einem durchschnittlichen Anteil von acht Prozent Asbest. »Schätzungsweise 50 Prozent aller neuen Bauten im Land werden mit Faserzementplatten gedeckt – 250 Millionen Quadratmeter pro Jahr«, so das Unternehmen. Letztlich hätten diese Platten eine soziale Funktion in Brasilien, denn sie ermöglichten den einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen ein Dach auf Haus oder Hütte. Auf den Villen der Reichen und Schönen in Brasilien freilich hat Eternit keinen Platz. Sie wissen, warum.

Asbestkritiker nennen das eine Form von Umweltrassismus. Die konservative Weltgesundheitsorganisation (WHO) rechnet mit über 100000 Todesfällen jährlich durch Asbest. In Deutschland, wo das Material seit 1995 verboten ist, sterben derzeit jedes Jahr 1300 Menschen an einer der durch den Stoff ausgelösten Krankheiten – Folge der Faserzementherstellung und der Verwendung von deren Produkten in den 60er und 70er Jahren. Asbestfasern wirken wie Zeitbomben. Es kann 20 oder mehr Jahre dauern, ehe man erkrankt. Selbst wenn der Oberste Gerichtshof im Oktober gegen die Eternitlobby entschieden hätte, droht in Brasilien allein schon wegen riesiger Altlasten zahlreichen Bewohnern der Tod. Zwischen 2000 und 2010 starben in Brasilien 2400 Menschen an Krebs und anderen durch Asbest ausgelösten Krankheiten, so eine Studie der Stiftung Oswaldo Cruz (Fiocruz) und der Universitäten Campinas und Bahia. In elf Jahren wuchs die Zahl der Todesfälle durch Mesotheliome (Bindegewebstumoren) um 49 Prozent, Tendenz steigend. Das seien Folgen des Einsatzes von Asbest im großen Stil sowie der verbesserten Diagnostik in Brasilien, erläutert Hermano de Castro, Mediziner des zu Fiocruz gehörenden Centro de Estudos da Saúde do Trabalhador e Ecologia Humana.

Asbestose, ein Lungenleiden, ist die häufigste, durch das Mineral hervorgerufene Krankheit. Betroffen sind vor allem Arbeiter in Minen und Eternitfabriken. Je nach Schweregrad schränkt sie die Lebensqualität der Kranken stark ein und kann auch zum Tod führen. Außerdem kann das Mineral verschiedenste Krebsarten auslösen. Die feinen Fasern dringen vor allem durch Einatmen in den Körper ein. Mangelnder Arbeitsschutz – was in Brasilien die Regel ist – leistet dem Vorschub. Oft werden auch alte, zerbrochene Eternitplatten einfach unkontrolliert entsorgt. Und Alteternit ist das übliche Baumaterial von Favelas und stadtnahen Indianerdörfern. Dort spielen Kinder mit achtlos weggeworfenen Resten. Niemand ist informiert.

Die Asbestlobby, zu der auch die Ministerien für Energie, Bergbau und Entwicklung gehören, redet sich seit Jahren mit dem Argument heraus, daß in Brasilien nur der weiße, weniger gesundheitsschädliche Asbest, Chrysotil (Amianto Crisotila) verwendet und in Faserzement verarbeitet werde. Der blaue Asbest (Amianto anfibólico) sei 500 mal gefährlicher. Laut WHO allerdings können alle Arten von Asbest Krebs auslösen. Auch nach Meinung von Rolf Packroff von der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ist diese Argumentation Unsinn. Zahlreiche toxikologische Studien zeigten keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Asbestformen.

Erst jüngst verpflichtete ein Gericht im Bundesstaat Bahia die Firma »Eternit Brasilien« zu einer Entschädigungszahlung von 100000 Reais (rund 40000 Euro) an die erkrankten ehemaligen Arbeiter. Doch Carlos Mário da Silva Veloso, Repräsentant des brasilianischen Asbest-Instituts (Instituto Brasileiro do Crisotila) relativiert das Risiko. Der weiße Asbest sei nur eine von vielen Gesundheitsgefahren in unserer industrialisierten Welt. Auch Substanzen wie Nickel, Kohle, Chrom, radioaktive Mineralien und Quecksilber stellten ein signifikantes Risiko für den Menschen dar und seien dennoch nicht in Brasilien verboten.

Aktuell haben fünf brasilianische Bundesstaaten Gesetze zum Verbot von Asbest erlassen. Diese bleiben allerdings faktisch wirkungslos, solange das Bundesgesetz Abbau, Verarbeitung und Anwendung der krebserregenden Fasern erlaubt.

* Aus: junge Welt, Montag, 12. November 2012


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