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Ein riesiger kolonialer Bauernhof

Die brasilianische Landlosenbewegung kämpft gegen Agrosprit

Von Gisela Dürselen, Guararema *

Schlechte Zeiten für eine Landreform in Brasilien: Bei der Herstellung von Pflanzentreibstoffen arbeiten Großgrundbesitzer mit multinationalen Unternehmen der Agro- und Biotechnologie sowie der Energie- und Autobranche zusammen. Diese zementieren bestehende Machtverhältnisse. Welche Antworten die Landlosenbewegung »Movimento dos sem Terra« (MST) darauf hat, erfährt man in der Nationalen MST-Bundesschule Florestan Fernandes in Guararema.

Wer von São Paulo nach Guararema fährt, blickt auf eine Landschaft, die frisch, grün und friedlich erscheint: Rinder grasen, Kinder in kurzen Hosen spielen, und vor einem Haus weht frische Wäsche im Wind. Doch der Schein trügt: Die Region São Paulo ist schon lange kein Paradies mehr, keine stattlichen Baumriesen säumen die Autobahn. Stattdessen fällt der Blick nun auf überdimensionale Werbeschilder wie »Driving Emotion« – und daneben strampeln sich auf dem Standstreifen Menschen auf ihren Fahrrädern ab.

Zehntausende warten weiterhin auf ihr Land

Brasilien ist geteilt in Reich und Arm, und nirgendwo wird dies deutlicher als bei der Konzentration des Landbesitzes: Nur 1,6 Prozent der Landeigentümer gehören 46,8 Prozent der nutzbaren Flächen, einige der größten Besitztümer sind etwa so groß wie Dänemark. Dagegen lebten 2009 noch immer 100 000 Familien in Besetzungs-Siedlungen, in denen sie auf das Land warten, das ihnen nach der brasilianischen Verfassung zusteht. Gleichzeitig gab es 800 000 weitere Anträge auf Land, und mehrere Millionen interessierte Familien. Das berichtet die Organisation »Rede Social de Justiçia e Direitos Humanos« (»Netzwerk für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte«).

Soja, Mais und Zuckerrohr: Das sind die Hauptkulturen, die zu Biosprit verarbeitet werden und mit denen in Brasilien das große Geld gemacht wird. Mit den Agrartreibstoffen breiten sich die Monokulturen immer weiter ins zentrale Hinterland aus und verdrängen die Rinderfarmen bis ins Amazonasgebiet. Laut dem nationalen Statistikinstitut IBGE sind seit 1990 die Flächen für Zuckerrohr um 64 und für Soja um 122 Prozent gewachsen – die Flächen für das Grundnahrungsmittel Bohnen dagegen um 28 Prozent und für Reis um 32 Prozent geschrumpft.

Für das Agrobusiness gab es laut IBGE im Jahr 2010 satte 108 Milliarden Reais (etwa 46,5 Milliarden Euro) staatliche Kredite – Summen, die längst nicht alle zurückgezahlt werden. Im selben Jahr erhielt die familiäre Landwirtschaft bescheidene 15 Milliarden Reais (etwa 6,5 Milliarden Euro). »Die 50 größten Unternehmen auf dem Agrarmarkt haben die Kontrolle über 80 Prozent des gesamten Marktes. Die meisten von ihnen sind in ausländischer Hand, die sechs größten alle in ausländischem Besitz«, sagt Geraldo Gasparin, der seit 2004 Koordinator der Nationalen MST-Bundesschule ist.

Mit dem exportorientierten Agrobusiness habe Brasilien sein Wirtschaftsmodell seit der Kolonialzeit nicht geändert, kritisiert Maria Luisa Mendonça vom »Rede Social«. »Brasilien beutet Land und Menschen aus, um den reichen Norden mit billigen Rohstoffen zu versorgen – früher mit Zucker und Kaffee, heute mit Agrartreibstoffen.« Einen »riesigen kolonialen Bauernhof« nennt Geraldo Gasparin sein Land. Die MST reagiert darauf unter anderem mit der Beteiligung an der Initiative zur Begrenzung des Landbesitzes. Das Plebiszit ist 2010 gescheitert. Die Initiatoren machen trotzdem weiter.

»Biosprit vergiftet Boden und Wasser«

Ein Spaziergang durch die Florestan-Fernandes-Schule, benannt nach dem 1995 verstorbenen Politiker der Arbeiterpartei PT und Soziologie-Professor, macht deutlich, worum es den MST-Leuten bei ihrer Kritik am Agrobusiness geht. Die Gemüsefelder sind eingebettet in sanfte Hügel, die Erde ist locker und rot – ideal für einen Garten, in dem alles wächst, was der Mensch braucht. An der Schule werden Geschichte, Wirtschaft, Politik und Agrar-Fragen unterrichtet. Zudem wird beim nachhaltig-biologischen Ackerbau, bei der Aufzucht von Pflanzen aus eigener Samenproduktion und beim Anbau von Heilpflanzen selbst Hand angelegt.

»Es ist wichtig, zu zeigen, dass der ›Biosprit‹ gar nicht so bio ist, sondern Boden und Wasser vergiftet und viele Menschen vom Land in die Städte vertreibt«, sagt Geraldo Gasparin, der aus einer italienischen Kleinbauernfamilie stammt und in Südbrasilien mit dem Weinbau groß geworden ist. Gasparin geht es in seiner Kritik um die Art und Weise, wie Pflanzentreibstoffe hergestellt werden. Denn ein großes Problem der Monokulturen ist: Es wird in großem Stil gespritzt. »Brasilien ist derzeit der zweitgrößte Verbraucher von landwirtschaftlichen Giften«, sagt Gasparin. Das wirke sich auf die Gesundheit der Menschen aus. Denn die Gifte gelangten in die Luft und ins Grundwasser und verseuchten auch Felder, auf denen Lebensmittel angebaut werden. Die MST arbeitet deswegen nun auch intensiv mit Umweltverbänden zusammen.

Will sich die MST bei der Mehrheit der Gesellschaft Gehör verschaffen, muss sie auf das hinweisen, was jeden tangiert: die steigenden Preise bei Grundstücken und Lebensmitteln, verseuchtes Land und Essen – und den Fakt, dass in Monokulturen weder Lebensmittel produziert noch Arbeitsplätze geschaffen werden.

Zwar gibt es weiterhin Medienkampagnen der Agro-Lobby und die Mehrheit der Brasilianer ist für das Agrobusiness. Denn noch immer gilt die Devise: Entwicklung durch Export. Aber es gibt auch immer mehr Einsichten. Zum Beispiel war im Juni 2010 in der großen Zeitung »Correio Brasiliense« zu lesen, dass die großen Agrobetriebe nur 1,6 Millionen Menschen beschäftigen, die familiäre Landwirtschaft dagegen 16 Millionen. Auch Studien bestätigen, dass Agrobusiness nicht die erhoffte Entwicklung bringt. Professor Miguel Carter von der American University in Washington etwa sieht in der zügigen Umsetzung einer Landreform das zentrale Element für Entwicklung in Brasilien. Sie sorge für eine gerechtere Einkommensverteilung, dämme die Landflucht ein und stärke regionale Märkte.

Dafür engagiert sich auch die Florestan-Fernandes-Schule. Fünf Jahre lang setzten mehr als 1600 Freiwillige aus den Landbesetzungs-Siedlungen und aus vielen anderen Ländern Stein auf Stein, bis die ersten Gebäude standen. Am 23. Januar 2005 konnte Einweihung gefeiert werden. Geschaffen wurde ein Bildungszentrum, das aus geräumigen Seminargebäuden und einer Bibliothek, Kindergarten und Labors, Verwaltungs- und Versorgungsgebäude, Freizeiträumen und Gästehäusern und einem Haus für die eigene Samenzucht besteht. Beim Bau wurden nur selbstgebrannte Ziegel aus dem Lehm der Region verwendet. Wäscherei und Kläranlage funktionieren rein biologisch.

Mittlerweile haben rund 16 000 Schüler die Bildungsangebote durchlaufen, die Schule hat sich einen internationalen Ruf erarbeitet. Die Abschlüsse in Fächern wie Vermarktung und Verwaltung, Jura und Pädagogik sind staatlich anerkannt, und die vielseitigen kulturellen Angebote machen die Schule zum Anziehungspunkt auch für andere Organisationen.

Landlose setzen auf Emanzipation

Im Gemüsegarten der Bundesschule in Guararema herrscht fast immer geschäftiges Treiben. Alle, die hier leben und lernen, beteiligen sich an der Arbeit. Auch Pierre Dalinstry, der seit vier Monaten hier ist und mit seiner 65-köpfigen Haiti-Brigade all das lernt, was er braucht, um später Haiti aus eigener Kraft vorwärts zu bringen. »Haiti braucht kein Militär, sondern Wissen und Ziele. Dann können wir unsere Probleme selbst lösen«, sagt der 27-jährige Soziologe. Zwar ist er dankbar für Unterstützung – aber entscheiden sollen die Leute selbst. Das ist auch der Ansatz der Bundesschule, die viele prominente Unterstützer hat. Der brasilianische Philosoph Paulo Arantes etwa unterrichtet dort mit vielen anderen Professoren kostenlos. Die MST habe die Schule neu erfunden, sagt Arantes. »Sie bildet die Menschen, damit sie Akteure ihrer eigenen Emanzipation werden können.«

www.mstbrasilien.de/bundesschule.htm www.mstbrasilien.de/

* Aus: Neues Deutschland, 29. April 2011


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