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Der stille Riese erwacht

Rückblick 2010. Heute: Brasilien. Nach acht Jahren Lula: Zwischen regionalem Integrationsmotor und neuer Supermacht

Von Johannes Schulten *

Es war mehr als eine einfache Regierungsübergabe. Am 1. Januar streifte Brasiliens scheidender Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva seine Amtsschärpe ab und übergab sie an Dilma Rousseff. 30 Jahre nach ihrer Gründung geht die brasilianischen Arbeiterpartei (PT) in ihre dritte Regierungszeit. Auf den ehemaligen Arbeiterführer folgt die ehemalige Guerillera.

Die einstigen Gegensätze aus Zeiten der PT-Opposition sind nach acht Jahren Lula passé. Der Präsident hat sich als sozialdemokratischer Realpolitiker etabliert - aus dem von der Linken erhofften und der Rechten gefürchteten Neuanfang in der brasilianischen Politik wurde nichts. Lula praktizierte die Kunst des Machbaren, die jedoch nicht mit Ideenlosigkeit zu verwechseln ist. Die in Brasilien extrem ungleiche Verteilung von Eigentum blieb zwar unangetastet, nach dem marktradikalen Kahlschlag der vergangenen Dekade war es jedoch die PT-Regierung, die den Staat wieder handlungsfähig machte. Und diese neu gewonnenen Spielräume werden voll ausgenutzt. Während in anderen Ländern Konjunkturpakete im wesentlichen aus Steuersenkungen für einige Branchen bestehen, gilt in Brasilien: "big state big government". Der Staat reguliert, investiert und finanziert. Sozialpolitik und Industrieförderung sind die Achsen der Lulaschen Politik.

Die Erfolge sind beachtlich. Seit 2003 wächst Brasiliens Wirtschaft um jährlich fünf Prozent, für 2010 ist ein historischer Anstieg von 7,8 Prozent prognostiziert. Nicht einmal die globale Wirtschaftskrise konnte diesen Trend stoppen. Die Zustimmung zur Politik ist klassenübergreifend: Die Unternehmer sind zufrieden, weil sich ihre Gewinne während der Amtszeit Lulas verdreifacht haben, die Gewerkschaften, weil die Löhne und Mindestlöhne steigen, die Armen, weil gigantische Sozialprogramme 45 Millionen Menschen ein gesichertes, wenn auch geringes, Basiseinkommen garantieren. Und die Mittelklasse freut sich, weil sie sich endlich im Konsumparadies wähnt. In Brasilien werden 2010 erstmals mehr Neuwagen zugelassen als in Deutschland.

Wesentliche Grundlage dieser Erfolge ist die neue Außenpolitik. Wie nie zuvor pocht das Land auf seine nationale Souveränität. Zum Ärger der konservativen Politikeliten führten Lulas Auslandsreisen nicht mehr ausschließlich nach New York, London und Paris. Die neuen Ziele heißen Bagdad, Johannesburg, Peking und Moskau. Am häufigsten aber steuert die Präsidentenmaschine die Hauptstädte Lateinamerikas an. Immer mit an Bord: ein Troß brasilianischer Unternehmer.

Die neue Südausrichtung sorgte nicht nur im Inland für jede Menge Sprengstoff. Lula boykottierte den von Geoge W. Bush ausgerufenen "Krieg gegen den Terror" mit dessen Feldzügen gegen den Irak und Afghanistan. Als der demokratisch gewählte honduranische Präsident Manuel Zelaya durch Militärs gestürzt wurde, stellte da Silva sich genauso bedingungslos auf dessen Seite wie beim vom Polizeiapparat initiierten Putschversuch gegen Ecuadors Präsidenten Rafael Correa am 30. September. Und auch die Beerdigung des US-Freihandelsdiktats ALCA im Jahr 2005 in Mar de Plata wäre ohne das ökonomische Gewicht Brasiliens zum Scheitern verurteilt gewesen.

Gleichzeitig birgt der Aufstieg der Föderativen Republik zur Regionalmacht Probleme für die Nachbarstaaten. Nicht wenige linke Beobachter sprechen schon von einem "neuen Subimperialismus" des "stillen Riesen". Der uruguayische Journalist Raúl Zibechi warnte kürzlich davor, daß Brasilien den Platz der USA einnehmen und sich seinen eigenen "lateinamerikanischen Hinterhof" schaffen könnte.

Tatsächlich ist die Dominanz des Landes und der unter Lula zu "Multilatinas" aufgestiegenen Unternehmen gigantisch. 50 Prozent aller Direktinvestitionen in Lateinamerika stammen aus Brasilien. Firmen wie der staatliche Energieriese Petrobras, der drittgrößte Flugzeugbauer der Welt, Embraer, der Eisenkonzern Vale do Rio Doce oder der Baumulti Odebrecht sind in Europa nahezu unbekannt, in Südamerika befinden sie sich aber auf dem besten Weg, Siemens und Co. den Rang abzulaufen. Die Unternehmen der weitgehend deindustrialisierten Nachbarstaaten können sowieso nicht mithalten.

Diese Diskrepanz zwischen Integrationsmotor und ökonomischer Dominanz wird etwa im Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) deutlich. Innerhalb des Bündnisses, dem neben Argentinien und Brasilien auch Uruguay und Paraguay als Vollmitglieder angehören, bestreitet Brasilien 90 Prozent des industriellen Handels. Die restlichen Mitglieder müssen sich mit klassischen "Drittweltexporten" wie Soja und Bodenschätzen begnügen.

Sogar ein ökonomisches Schwergewicht wie Argentinien - immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft des Subkontinents - sieht sich ständig mit sich verschlechternden Handelsbilanzen konfrontiert. Noch schlimmer steht es um kleine Staaten wie Uruguay. Dort befinden sich inzwischen 50 Prozent der Fleischbetriebe und 40 Prozent der Reiseproduktion in brasilianischer Hand. Trotz aller politischen Freundschaftsbekundungen droht das Land regelmäßig damit, den Mercosur zugunsten eines Freihandelsvertrages mit den USA zu verlassen.

Ecuadors Präsident Rafael Correa sah sich Ende November sogar genötigt, ein bestehendes Abkommen mit dem Staatsbetrieb Petrobras zu kündigen. Weil sich der Erdölriese weigerte, neue staatliche Vorgaben zu akzeptieren, kündigte Correa den Rückzug des Unternehmens aus dem Land an. "Alle Ölkonzerne spielen die gemachten Investitionen zwei- oder dreifach wieder ein, niemand verliert hier Geld. (...) Aber sie wollen die gleichen Renditen wie vorher, und das werden wir nicht erlauben", so Ecuadors Staatschef. Die brasilianische Regierung betonte die Einvernehmlichkeit der Entscheidung.

Andere Länder wie Venezuela scheint die brasilianische Investitionsflut nicht zu stören. "Brasiliens Baukonzerne kommen mit der venezolanischen Regierung gut aus, zumal ihnen die Integrationspolitik der brasilianischen Regierung und die brasilianische Zentralbank (BNDES) den Rücken stärken", erklärte der Direktor der venezolanisch-brasilianischen Industrie- und Handelskammer, Fernando Portela, im November. Anders als die 220 in- und ausländischen Unternehmen, die die Regierung in Caracas allein im Laufe dieses Jahres nationalisiert hat, haben brasilianische Betriebe keine Verstaatlichung zu befürchten.

* Aus: junge Welt, 3. Januar 2011

Die erste Frau an der Spitze Brasiliens

Die frühere Guerillakämpferin Dilma Rousseff hat als erste Frau das Präsidentenamt in Brasilien übernommen. Die Nachfolgerin von Luiz Inácio "Lula" da Silva legte am Samstag in Brasília ihren Amtseid ab und versprach einen entschiedenen Kampf gegen die Armut. Sie wolle "die extreme Armut ausradieren", unter der rund 18 Millionen Brasilianer leiden, sagte Rousseff. Weiter kündigte sie eine Steuerreform, Umweltschutzmaßnahmen und eine Verbesserung des Gesundheitssystems an. Außerdem werde sie Maßnahmen gegen ausländische "Spekulation" ergreifen. Wiederholt dankte Rousseff auch ihrem Amtsvorgänger und Wegbereiter Lula, der nach zwei Amtszeiten in Folge nicht mehr kandidieren durfte.

An der Amtseinführung der 63jährigen nahmen auch zahlreiche ausländische Staatsgäste teil, unter ihnen Venezuelas Präsident Hugo Chávez, US-Außenministerin Hillary Clinton und der Chef der palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas. Rund 70 000 Menschen säumten trotz strömendem Regens die Straßen, als Rousseff zur Amtseinführung ins Kongreßgebäude in Brasília fuhr. Die als Tochter einer Brasilianerin und eines bulgarischen Einwanderers im südöstlichen Bundesstaat Minas Gerais geborene Rousseff kämpfte in ihrer Jugend in linksgerichteten Guerillagruppen gegen die Militärdiktatur (1964-1985). Knapp drei Jahre saß sie im Gefängnis und wurde dort gefoltert.

Rousseff erbt auch einen heftigen diplomatischen Streit mit Italien. Nach jahrelangem Tauziehen hatte Lula an seinem letzten Amtstag am Freitag das Gesuch Italiens abgelehnt, den ehemaligen Aktivisten der militanten Gruppe "Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus", Cesare Battisti, auszuliefern. Battisti war 1993 in Italien in Abwesenheit wegen vierfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der heute 56jährige bestreitet die Vorwürfe und ist seit 1981 auf der Flucht. (AFP/jW)

** Aus: junge Welt, 3. Januar 2011




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