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Minsk im Würgegriff

EU und Moskau umwerben und bedrohen Belarus gleichermaßen. Am Ende könnte es die wirtschaftliche Situation sein, die das Land zur Aufgabe zwingt

Von Tomasz Konicz *

Vor wenigen Tagen endete das jüngste Kapitel in der an Höhepunkten nicht gerade armen Geschichte russisch-belarussischer Konflikte. Am 18. Juni hob der Kreml ein Importverbot für nahezu 1300 Milchprodukte aus dem westlichen Nachbarland auf, das wenige Tage zuvor verhängt worden war. Dieses Embargo traf die belarussische Lebensmittelindustrie hart, da Rußland ihr wichtigster Exportmarkt ist. Minsk reagierte darauf mit verschärften Zollkontrollen an seinen Grenzen zu Rußland. Zudem sagte Präsident Alexander Lukaschenko in letzter Minute seine Teilnahme an einem verteidigungspolitischen Gipfeltreffen von GUS-Staaten in Moskau ab, bei dem die Formierung einer östlichen »Gegen-NATO« besprochen werden sollte.

Die Liste der Streitpunkte zwischen den ehemals verbündeten Brudernationen wird immer länger. Neben politischen Differenzen, wie der Minsker Verzögerungstaktik bei der Anerkennung Südossetiens und Abchasiens, sind es vor allem handfeste ökonomische Interessen, die zu bilateralen Spannungen beigetragen haben. Seit den Preiserhöhungen für russisches Erdgas ist Belarus auf Kredite angewiesen, um seine Zahlungsfähigkeit weiter aufrechtzuerhalten. Zwischen Ende 2006 und 2009 stieg der Preis für 1000 Kubikmeter russisches Erdgas von umgerechnet 47 auf 140 US-Dollar.

Der Kreml ging dazu über, Minsk mehrere milliardenschwere Kredite zur Finanzierung der Defizite zu geben. Doch die letzte Tranche eines sich auf zwei Milliarden US-Dollar belaufenden Kredits hat Moskau nun eingefroren. Der Kreml versucht, mit ökonomischem Druck den seit 1997 initiierten Unionsprozeß zwischen beiden Staaten zu forcieren. Ganz in diesem Sinne argumentierte der russische Regierungschef Wladimir Putin im Vorfeld der Aufhebung des Embargos: »Was auch immer passiert, wir sind eine Familie mit Belarus. Es kann Streit und Skandale in einer Familie geben, aber das Leben nimmt seinen Lauf, und wir müssen zusammenarbeiten.«

»Gebe Gott, es ist nicht die letzte Visite«, fiel Lukaschenko der EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner ins Wort, als diese sich am 22. Juni in Minsk freute, zum ersten Mal in Belarus zu weilen. Probleme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der EU dominierten diese Gespräche, so der der Präsident: »Finanzielle Instrumente, Kredite, das sind für uns die wichtigsten Faktoren.« Belarus wurde bereits in das EU-Programm der »östlichen Partnerschaft« aufgenommen. Mit dem sollen etliche ehemalige Sowjetrepubliken enger an die EU gebunden werden. Tatsächlich bemüht der Westen sich in letzter verstärkt, Belarus durch Kreditvergabe aus der geopolitischen Umlaufbahn um Rußland zu lösen. Anfang Juni kamen einem Bericht des Wall Street Journal zufolge der Internationale Währungsfonds (IWF) und Belarus darin überein, einen bereits gewährten Kredit in Höhe von 2,5 Milliarden US-Dollar um eine weitere Milliarde aufzustocken. »Diese Erhöhung ist gerechtfertigt, weil die aus der globalen ökonomischen Krise resultierenden Finanzierungsbedürfnisse von Belarus sich erhöht haben und weil die Regierung und die Zentralbank sich bemühen, ihre Probleme zu lösen«, erklärte der Vorsitzende der belarussischen Außenstelle des IWF, Chris Jarvis.

Die »Probleme« macht der IWF selbstverständlich vor allem in der »mangelnden Liberalisierung« aus. Die Kreditvergabe des Währungsfonds geht mit der üblichem Forderungen einher, die meisten Industriezweige zu privatisieren. Ähnlich agiert auch Rußland, das darauf drängt, belarussische Betriebe aufkaufen zu können. Das Land werde seine staatlichen Unternehmen »nicht zur Schleuderpreisen« verscherbeln, sagte Lukaschenko noch vor wenigen Tagen. Dennoch kann Belarus bei gleichbleibend hohen Energiepreisen den Ausverkauf seines Landes nur hinauszögern, nicht verhindern. Derzeit kaufen sich einem Bericht des österreichischen Wirtschaftsblattes zufolge z. B. westliche Investoren in den Agrarsektor ein.

Lukaschenko, der verzweifelt bemüht ist, die Unabhängigkeit zu wahren, kann sich längerfristig nur bemühen, möglichst gute Kapitulationsbedingungen auszuhandeln. Er wird sich auch für Ost oder West entscheiden müssen.

Bis Ende 2008 schien es so, als träfe die Weltwirtschaftskrise Belarus nicht. Laut staatlichen Angaben belief sich das Wachstum 2008 auf beeindruckende zehn Prozent. Selbst im Februar 2009 ging Minsk in einer Prognose davon aus, in diesem Jahr noch ein moderates Wachstum von zwei Prozent erzielen zu können. Doch inzwischen brechen vor allem die Exporte nach Rußland ein. Das Defizit im Außenhandel betrug 2008 6,2 Milliarden US-Dollar, hatte das staatliche Zollkomitees im Januar mitgeteilt. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sank die Industrieproduktion auf 96,6 Prozent der Vorjahreswerte. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs allerdings zwischen Januar und Mai - verglichen mit der gleichen Periode des Vorjahres - um 1,4 Prozent.

Immerhin können die diversen öffentlichen Beschäftigungsprogramme die Arbeitslosenrate auf äußerst niedrigem Niveau halten. Nur 0,9 Prozent aller arbeitsfähigen Lohnabhängigen sollen laut amtlicher Statistik am 1. Juni 2009 erwerbslos gewesen sein. Mit einem »Staatsprogramm der Beschäftigungsförderung der Bevölkerung der Republik Belarus für 2009-2010« soll garantiert werden, daß das im Wesentlichen so bleibt. Es sind solche kostspieligeren Arbeitsbeschaffung- und Sozialprogramme, deren Abschaffung sich die Führung verweigert und die zur angespannten Finanzlage des Landes beitragen.

* Aus: junge Welt, 25. Juni 2009


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