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Schwankende Brücke

Hintergrund. Belarus im Spannungsfeld zwischen Rußland und EU. Zu einigen Aspekten der belorussischen Außenpolitik

Von Willi Gerns *

Ende April verkündete Präsident Alexander Lukaschenko vor der Nationalversammlung der Republik Belarus seine diesjährige Botschaft an das belorussische Volk. Darin nahmen Fragen der Außenpolitik und insbesondere das Verhältnis von Belarus zu seinen Nachbarn EU und Rußland breiten Raum ein. Die dazu geäußerten Gedanken sind angesichts gewisser Korrekturen im Verhältnis von EU und Belarus von besonderem Interesse.

Alexander Lukaschenko steht seit nunmehr 15 Jahren an der Spitze der Republik Belarus. Er wurde 1994 zum Präsidenten gewählt und bei den nachfolgenden Urnengängen für das höchste Staatsamt seines Landes mit überwältigender Mehrheit von den Wählerinnen und Wählern bestätigt. Die Ursachen dafür sehen unvoreingenommene Beobachter darin, daß unter seiner Führung die Außenpolitik auf eine enge Verbindung mit Rußland ausgerichtet und die kriminelle Privatisierung gestoppt wurde, die andere ehemalige Sowjetrepubliken ins wirtschaftliche Chaos stürzte. Belarus ist jener Nachfolgestaat der UdSSR, in dem am meisten von den Errungenschaften des Sozialismus hinsichtlich staatlicher und kollektiver Eigentumsstrukturen an den entscheidenden Produktionsmitteln, der Planwirtschaft und einem vergleichsweise hohen Niveau sozialer Sicherheit erhalten werden konnte.

»Partnerschaft« gegen Rußland

Die genannten Ursachen für die Unterstützung Lukaschenkos durch die große Mehrheit der Menschen in seinem Lande sind zugleich die Gründe dafür, daß der belorussische Präsident von westlichen Politikern und Medien als »letzter Diktator« und Belarus als »letzte Diktatur in Europa« verteufelt wurde. Washington und Brüssel verhängten sogar Sanktionen gegen ihn und sein Land wegen angeblicher Verletzungen der Menschenrechte.

In jüngster Zeit ist es allerdings wesentlich ruhiger um diese Vorwürfe geworden. Im Oktober 2008 wurde das Einreiseverbot für führende belorussische Politiker in die Europäische Union ausgesetzt. Und nunmehr wurde Belarus sogar in die sogenannte Ostpartnerschaft der EU einbezogen, die am 7. Mai in Prag aus der Taufe gehoben wurde. Neben Belarus gehören diesem Programm der EU auch die zwischen der EU und Rußland gelegenen Staaten Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien und die Ukraine an.

Die »Ostpartnerschaft« ist ein Projekt, das in Moskau keineswegs mit Wohlwollen aufgenommen wird. So erklärte Präsident Dmitri Medwedew während des Gipfeltreffens Rußland-EU Ende Mai in Chabarowsk trotz der Versicherungen von EU-Oberen, daß sie nicht gegen Rußland gerichtet sei: »Spricht man über die Ostpartnerschaft, so versteht die russische Seite bislang nicht ganz, in welcher Form diese Partnerschaft umgesetzt wird. Man sollte meinen, daß der Sinn dieser Partnerschaft in der Entwicklung gerade des Wirtschaftsbereichs und in verschiedenen Möglichkeiten für eine Reihe von Staaten Osteuropas besteht. Doch beunruhigend ist, daß diese Partnerschaft von einigen Staaten als Partnerschaft gegen Rußland aufgefaßt wird.« Und dazu gehöre auch, wie russische Kommentatoren betonen, daß Brüssel die Partnerschaft mit Forderungen an ihre Teilnehmer verbinde, stärker untereinander und mit der EU zusammenzuarbeiten, was natürlich eine Umorientierung dieser Länder und ihrer Volkswirtschaften nach Westen, weg von den geschichtlich gewachsenen Verbindungen zu Rußland bedeute. Insbesondere gehe es dabei auch darum, die Infrastruktur für den Transit russischer Energieträger durch die Ukraine und Belarus unter die Kontrolle der EU zu bringen.

Die Teilnahme von Belarus, des engsten Verbündeten Rußlands, an der »Ostpartnerschaft« ist in der Europäischen Union dabei keineswegs unumstritten. In einigen EU-Staaten Osteuropas gibt es Vorbehalte dagegen. Dies gilt besonders für Tschechien, das gegenwärtig die Präsidentschaft der EU ausübt. So verstieg sich der tschechische Außenminister Karl zu Schwarzenberg zu der Aussage, wenn Lukaschenko am Prager Treffen teilnehmen sollte, werde er diesem nicht die Hand geben. Nun, der belorussische Präsident hat ihm zu diesem Affront keine Gelegenheit gegeben.

Auf Filzlatschen ...

Wenn man nach den Gründen für die leiseren Töne aus Brüssel und das Zugehen auf Minsk fragt, so ist einer ganz sicher darin zu suchen, daß die jahrelangen Bemühungen von USA und EU, eine »bunte Revolution« in Belarus zu inszenieren, um Lukaschenko zu stürzen und eine prowestliche Marionette ins Präsidentenamt zu hieven, ganz offensichtlich gescheitert sind. Lukaschenko sitzt fest im Sattel, der Einfluß der prowestlichen Opposition ist dagegen, abgesehen von Teilen der Intelligenz und der Studentenschaft, verschwindend gering.

Vieles deutet darauf hin, daß man nunmehr versuchen möchte, die Ziele, die mit Diversion und offener Konterrevolution nicht zu erreichen waren, mit der Strategie einer Konterrevolution auf Filzlatschen durchzusetzen. Schließlich war diese Strategie im Kampf gegen den realen Sozialismus durchaus erfolgreich. Belarus soll wirtschaftlich stärker eingebunden und möglichst abhängig gemacht, ideologisch aufgeweicht und so längerfristig sturmreif geschossen werden.

Signale für ein gewisses Aufeinanderzugehen gibt es seit einiger Zeit allerdings nicht nur von der EU, sondern auch von belarussischer Seite. Ein prägnantes Beispiel dafür war der Berlin-Besuch des belorussischen Außenministers Sergej Martynow im Februar dieses Jahres. Als Gast der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft hielt er vor ausgewählten Experten einen Vortrag über strategische Aspekte der Außenpolitik seines Landes. Im Rahmen dieser Visite hat zudem ein Treffen mit seinem deutschen Amtskollegen stattgefunden. Der Besuch des Chefdiplomaten aus Minsk - eigentlich ein ganz gewöhnliches Ereignis in den Beziehungen zwischen Staaten - erhielt dadurch besonderes Gewicht, daß 14 Jahre vergangen waren, seit zum letzten Mal ein belorussischer Minister in Deutschland weilte.

Im Zentrum des Vortrages von Martynow standen der Platz seines Landes zwischen Rußland und der EU sowie die Perspektiven für die Entwicklung engerer Beziehungen zwischen seinem Land und der Europäischen Union. »Eingequetscht« zwischen Rußland und der EU - so der Außenminister - habe man überhaupt keine andere Wahl, als sich um gute Beziehungen zu den beiden großen Nachbarn zu bemühen. »Wir suchen uns nicht einen außenpolitischen Vektor, sondern die gleiche Nähe zu Ost und West.« Er fügte hinzu, daß Belarus - wie die europäischen Importeure russischer Energieträger auch - nach Möglichkeiten suche, sich aus der übermäßigen Abhängigkeit von Rußland zu lösen.

Betont wurde die Rolle von Belarus als Transitland zwischen der EU und Rußland. Der kürzeste Weg zwischen Berlin und Moskau führe nicht über Kiew, sondern über Minsk. Zuvor hatte bereits Präsident Lukaschenko in einem am 6. Februar veröffentlichten Interview mit Euro­news hervorgehoben, daß durch sein Land 30 Prozent des von Rußland an die EU gelieferten Gases und 75 bis 80 Prozent des Erdöls fließen. Und dieser Transit sei weit günstiger als die geplante Ostseepipeline, die er als »unprofitabel« bezeichnete. Wesentlich billiger und schneller könne ein zweiter Strang der bestehenden Pipeline Jamal-Europa verwirklicht werden, für den auch bereits weitgehend die Infrastruktur vorhanden sei. Sowohl Lukaschenko als auch Martynow wiesen zugleich auf weitere Felder einer möglichen Zusammenarbeit zwischen Belarus und der EU hin. Genannt wurden der Kampf gegen die organisierte Kriminalität, gegen Waffen- und Drogenhandel, die Zusammenarbeit im Umweltschutz u.a.

Vor allem geht es der belorussischen Führung natürlich um den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen. Hier liegt das Handelsvolumen zwischen Belarus und der EU hinter dem belorussisch-russischen Warenaustausch zurück. Auch an mehr Investitionen aus den EU-Ländern ist man in Minsk interessiert. Als Anreiz verkündete Martynow denn auch, daß gegenwärtig 500 Betriebe in seinem Land für die Privatisierung vorbereitet würden.

Gasstreit mit Moskau

Ausgangspunkt für das belorussische Streben nach größerer Unabhängigkeit von Rußland durch Diversifizierung der wirtschaftlichen Beziehungen und intensivere Kontakte zur EU war das russische Preisdiktat für die Lieferung von Energieträgern. So wurde den Belorussen im Winter 2004/2005 bei 25 Grad Frost der Hahn abgedreht, um eine Verdoppelung des Gaspreises und die Kontrolle über die belorussischen Pipelines durchzudrücken. Im Winter 2006/2007 wurde der Preis dann noch einmal auf mehr als das Doppelte erhöht. Zugleich wurde der Ölpreis rigoros heraufgesetzt. Der russischen Seite geht es dabei natürlich um die Profite ihrer Gas- und Ölkonzerne.

Aber das ist nicht alles. Der Kreml will dieses Instrument auch dazu nutzen, Belarus zu zwingen, seine Bedingungen für das Projekt eines gemeinsamen Unionsstaates zu akzeptieren. Diese laufen mehr oder weniger auf ein schlichtes Aufsaugen durch Rußland hinaus. Unmißverständlich hat dies Präsident Wladimir Putin 2002 deutlich gemacht, als er im Zusammenhang mit dem Projekt des gemeinsamen Unionsstaates Rußland-Belarus erklärte, Belarus könne ja auf der Rechtsgrundlage von sechs einzelnen Gebiets­einheiten in die Russische Föderation eintreten. Das würde die Liquidierung der belorussischen Staatlichkeit und damit einen Rückschritt in die Zeit des russischen Zarenreiches bedeuten, was natürlich für Belarus völlig unannehmbar ist.

Durch solche großrussischen Ambitionen wurde das Projekt des Unionsstaats immer mehr belastet. Das jüngste Beispiel dafür hat der russische Finanzminister Alexej Kudrin geliefert, als er anläßlich der jüngsten Ministerratstagung des Unionsstaats in Minsk auf einer Pressekonferenz den finanziellen Bankrott von Belarus für das Jahresende prophezeite. Moskau sei bereit, Minsk einen weiteren Kredit von 500 Millionen Dollar zur Verfügung zu stellen, allerdings nicht - wie zuvor vereinbart - in Dollar, sondern in russischen Rubeln. Und dies nur unter der Bedingung eines defizitfreien Haushalts, eines Lohnstopps, der Erhöhung der Dienstleistungstarife und der Abwertung der belarussischen Währung. Kudrin will also Belarus die Finanzpolitik diktieren und zugleich zu einer unsozialen Abwälzung der Krisenlasten zwingen.

Lukaschenko reagierte empört und empfahl seiner Regierung: »Es bringt nichts, in Rußland zu bitten, zu jammern oder zu weinen, man muß sein Glück in einem anderen Teil des Planeten suchen.« Den Sinn dieser Worte interpretierten Journalisten denn auch gleich dahingehend, daß Belarus nun reif dafür sei, die Priorität seiner Zusammenarbeit auf den Westen zu orientieren und die Kontakte zu Rußland abzubauen. Selbst über die Möglichkeit eines Dialogs zwischen Minsk und Washington hinsichtlich der Stationierung von Elementen des geplanten Raketenabwehrsystems der USA wurde spekuliert. In der KPRF-Zeitung Sowjetskaja Rossija werden solche Ausdeutungen zurückgewiesen, zugleich aber Verständnis für die Empörung Lukaschenkos gezeigt.

Auch Tatjana Golubewa, die Vorsitzende der Kommunistischen Partei von Belarus, äußerte sich befremdet über den provokatorischen Auftritt Kudrins und fragt: »Warum passiert das zu diesem Zeitpunkt, wo es besonders notwendig ist zusammenzustehen, da die Krise weder um Rußland noch um Belarus einen Bogen macht? Wer, wenn nicht wir soll sich ihr gemeinsam entgegenstellen, im Interesse unserer Länder und Völker? Wir Belorussen tun alles, damit es zwischen unseren Ländern gegenseitiges Verständnis gibt, damit der Unionsstaat existiert und unterstützen alles, was am Anfang dieses Prozesses von unseren Staatschefs in den unterzeichneten Dokumenten vereinbart wurde.«

Trotz gewisser Fortschritte der Integration im wirtschaftlichen und vor allem im militärischen Bereich tritt das Projekt des Unionsstaates insgesamt seit einiger Zeit mehr oder weniger auf der Stelle. Wenn Moskau weiterhin auf Preisdiktate und großrussische Ambitionen im Umgang mit seinem engsten Verbündeten setzen sollte und es zugleich zu substantiellen Fortschritten in den Beziehungen zwischen Belarus und der EU käme, bestünde die Gefahr, daß aus dem Unions­staat ganz und gar ein Potemkinsches Dorf werden könnte.

Zuckerbrot und Peitsche

Bei der Einbeziehung von Belarus in die »Ostpartnerschaft« der EU spielt über die dargelegten Gründe für das Zugehen Brüssels auf Minsk hinaus auch die im Ergebnis des georgischen Überfalls auf Südossetien erfolgte Anerkennung Süsossetiens und Abchasiens durch Rußland eine Rolle. Mit dem Zuckerbrot engerer Beziehungen zur EU soll Belarus davon abgehalten werden, dem russischen Beispiel zu folgen. Zugleich wird aber auch die Peitsche gezeigt. So drohte der tschechische Außenminister Schwarzenberg damit, daß Belarus im Falle einer Anerkennung der beiden südkaukasischen Republiken ernste Probleme bei der Teilnahme an der »Ostpartnerschaft« bekommen werde, denn Minsk stelle sich damit »außerhalb des europäischen Kontextes«. In ähnlicher Weise äußerte sich auch EU-Kommissarin Benito Ferrero-Waldner.

Auf diese Versuche der EU, Belarus mit einer Politik von »Zuckerbrot und Peitsche« vor die Alternative zu stellen, sich entweder für gute Beziehungen zu Rußland oder zur EU entscheiden zu müssen, antwortete Lukaschenko in seiner Botschaft: »Wir sind niemals am Gängelband derjenigen gegangen, die uns beharrlich einreden wollen, daß Belarus vor dem Dilemma stünde, es entweder mit dem Osten (Rußland) oder dem Westen (Europa) halten zu müssen, und wir werden das auch in Zukunft nicht tun. Unsere Aufgabe sehen wir vielmehr darin, verbindende Brücke zwischen Ost und West zu sein.«

Hinsichtlich der Beziehungen zur EU betonte er, daß diese nicht einfach seien. Belarus habe diese Situation nicht herbeigeführt und könne diese auch nicht allein in Ordnung bringen. Das sei ein zweiseitiger Prozeß. Belarus sei dazu bereit. Er fügte unmißverständlich hinzu: »Wir werden uns dabei jedoch weder verbiegen noch erniedrigen!« Er begrüßte in diesem Zusammenhang die Einladung seines Landes zur »Ostpartnerschaft«. Belarus müsse natürlich davon ausgehen, daß die Teilnahme an dieser Initiative nicht zum Nachteil seiner souveränen außenpolitischen Interessen gehen dürfe.

Zu den Versuchen der EU, in der Frage der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens Druck auf Belarus auszuüben, führte Lukascheko aus: »Im Westen hört man Stimmen: Wenn Belarus Ossetien und Abchasien anerkennt, so werden wir es bestrafen. Und was ist mit Rußland? Es hat doch Südossetien und Abchasien bereits anerkannt. Warum bestraft Ihr es nicht? Wieder doppelte Standards.« Er betonte, Belarus werde das tun, was es nicht nur einmal deklariert habe. Und dabei gehe es nicht um Rußland, sondern um die Interessen seines Landes. Man solle Belarus in Ruhe eine Politik durchführen lassen, die weder der einen noch der anderen Seite Schaden bringe.

Und so läßt sich Belarus denn auch weder von der EU noch von Rußland zu einer schnellen Entscheidung hinsichtlich einer Anerkennung der beiden Kaukasusrepubliken drängen. Nachdem zunächst erwartet worden war, daß es während der Sitzungsperiode des belorussischen Parlaments im Mai zu einem Beschluß kommen werde, erklärte der Vorsitzende der Parlamentskommission für internationale Angelegenheiten Sergej Maskewitsch nach einem Bericht der Agentur BelaPAN am 20. Mai, daß diese Frage nicht auf der Tagesordnung der gegenwärtigen Sitzung stehe. Nach seinen Worten gehöre sie nicht in den Kompetenzbereich des Parlaments. Präsident Lukaschenko habe das Parlament nur darum gebeten, seine Meinung zu äußern. Nach Maskewitsch werde die Frage der Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens »früher oder später erörtert«, allerdings »möchten wir, daß ihre Bedeutung nicht in unerreichbare Höhen gehoben wird«. Der Parlamentarier warnte in diesem Zusammenhang die »Ländergiganten« davor, Druck auf Belarus auszuüben.

Wer die Adressaten dieser Warnung sind, liegt auf der Hand. Dazu gehören auch bestimmte Kräfte in Rußland. Daran hatte einen Tag zuvor schon der Abgeordnete Viktor Guminski keinen Zweifel gelassen. Nach seinen Worten handelt es sich bei der Anerkennung der beiden kaukasischen Republiken nicht um ein alltägliches Problem, sondern um eines, das weitgehende Folgen habe. »Deshalb können wir heute die Frage stellen, inwieweit die eine Seite, Belarus, dazu bereit ist, die möglichen Folgen auf sich zunehmen, die dieser Schritt nach sich ziehen kann. Und ist die andere Seite, ich meine Rußland, dazu bereit, das zu kompensieren, was sich für unser Land daraus ergeben kann?« Bis in alle Ewigkeit kann bei der Anerkennung oder Nichtanerkennung der beiden Republiken allerdings nicht laviert werden. Und so wird sich Belarus in dieser Frage doch zwischen Rußland und der EU entscheiden müssen.

Strategischer Partner Rußland

An dem strategischen Interesse seines Landes an engen Beziehungen zu Rußland hat Präsident Lukaschenko in seiner Botschaft keinen Zweifel gelassen. Jenen, die davon träumen, einen Keil zwischen Belarus und Rußland zu treiben, hat er ins Stammbuch geschrieben: »Das ist unser Rußland, und wir haben nicht vor, es irgend jemandem zu opfern!« Er unterstrich, im Dialog mit den Führungen anderer Länder betone Belarus stets, daß eine Politik nach dem Motto »Gehen Sie mit uns - aber gegen Rußland!« unannehmbar sei.

Und weiter: »Außer Zweifel steht die strategische Bedeutung unserer Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation, das unterstreiche ich noch einmal. Die Ergebnisse unserer Zusammenarbeit sind beeindruckend: Der Warenaustausch machte im vergangenen Jahr fast 35 Milliarden Dollar aus. Das Spektrum der Zusammenarbeit ist äußerst breit gefächert, es findet ein intensiver Dialog auf allen Gebieten statt.« Besonders hervorgehoben wurden die auf der letzten Sitzung des Obersten Rats des Unionsstaates getroffenen Entscheidungen für ein gemeinsames Antikrisenprogramm. Jetzt, so der Präsident, sei das Wichtigste, beständig die Qualität der integrativen Zusammenarbeit zu erhöhen und alle früher vereinbarten Pläne zu verwirklichen.

Die Ausführungen zum Platz seines Landes im Spannungsfeld zwischen Rußland und der EU zusammenfassend, resümierte Lukaschenko: »Wir wollen mit euch sein, mit unserem historischen Freund, mit Rußland. Wir wollen Europa nicht scheel ansehen, wir wollen in Freundschaft mit Europa leben.« Ob sich diese Absichten angesichts der Rivalitäten zwischen der EU und Rußland auf längere Sicht durchhalten lassen, muß sich erst herausstellen.

Ungeachtet aller Versicherungen sowohl der belorussischen wie der russischen Führung über die strategische Partnerschaft zwischen ihren Ländern sind Spannungen zwischen Moskau und Minsk nicht zu übersehen, und die EU versucht, diese zu nutzen. Russische Kommentatoren weisen auf ernste Gefahren hin, die aus der Entfremdung zwischen den Bruderstaaten und einer Annäherung von Belarus an die EU sowohl für Rußland als auch für Belarus erwachsen können. Modest Koljerow und Wladimir Zotow benennen dabei in einem gemeinsamen Beitrag auf der Website regnum.ru an erster Stelle die militärische Sicherheit: »Heute ist die belorussische Luftverteidigung ein alternativloses Element der russischen Luftverteidigung (...) Selbst ein teilweises Ausscheiden von Belarus aus dem militärischen Bündnis mit Rußland machte Rußland schutzlos gegenüber einer militärischen Bedrohung von Westen.« Und das gilt natürlich ebenso für Belarus.

Mit Blick auf das Techtelmechtel der EU mit Minsk stellen sie fest: »Der Druck auf Lukaschenko wird wachsen. Und wenn Lukaschenko wirklich die Zusammenarbeit mit der EU aktiv entwickeln will, wird er gezwungen sein, die Macht zu teilen. Sollte das passieren und der belorussische Präsident sich tatsächlich zu wesentlichen Zugeständnissen an die Opposition oder irgendwelche äußeren Kräfte entscheiden, so würde der politische Status von Belarus eine gefährliche Transformation erfahren. Dabei geht es nicht nur um eine Umorientierung und einen einfachen Wechsel bei den außenpolitischen Prioritäten. (...) Die Aufnahme von Belarus in die 'Familie der europäischen Völker' erfordert eine vollständige Demontage des belorussischen staatlichen Systems sowie die Zerstörung der sozialen und staatlichen Ökonomie. Das würde faktisch zu einer Miniaturausgabe der Vernichtung der UdSSR Ende der 80er - Anfang der 90er Jahre führen.« Von den strategischen Planern in EU und NATO dürfte dieses Szenario sicher so oder ähnlich vor dem Zugehen auf Belarus durchgespielt worden sein. Wenn es verhindert werden soll, ist es hohe Zeit, daß Rußland und Belarus zu wirklicher strategischer Partnerschaft finden.

* Willi Gerns ist Redaktionsmitglied der Marxistischen Blätter

Aus: junge Welt, 10. Juni 2009



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