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Neue Weichenstellungen in Asien von weltweiter Bedeutung

Historische Annäherung zwischen Indien und China - Japan ins Abseits?

Es tut sich was in Asien: Zuerst macht die VR China durch spontan erscheinende Demonstrationen gegen Japan von sich reden (die Chinesen protestierten damit gegen die andauernde Weigerung Japans, die Verbrechen ihrer Kolonialbesatzung gegen das chinesische Volk aufzuarbeiten), dann treffen sich die Repräsentanten Chinas und Indiens in Delhi und unterzeichnen ein historisches Abkommen, womit beide Seiten ihre uralten Grenzstreitigkeiten zu beseitigen suchen, und schließlich besiegeln beide Seiten auch noch eine "strategischen Partnerschaft für Frieden und Wohlstand". Die folgenden Beiträge beleuchten ein paar weltpolitische Aspekte des Geschehens um China, Indien und Japan.



Doch zunächst die Tickermeldungen aus den Agenturen vom 11. April 2005:

Nach jahrzehntelangem Streit haben sich Indien und China auf eine Lösung ihres Grenzkonflikts geeinigt: Die Regierungen unterzeichneten ein Abkommen, in dem die "grundsätzlichen Leitlinien" zur Lösung des Konflikts festgehalten wurden. Beide Länder wollen die Grenzfrage "friedlich und freundschaftlich lösen" und auf Waffengewalt künftig verzichten, hieß es. Die Festsetzung des gesamten Grenzverlaufs müsse "endgültig" ausfallen.
Indien und China hatten sich 1962 einen kurzen Krieg geliefert; seitdem war der offizielle Verlauf der Grenze zwischen den beiden Ländern strittig. China erhebt Anspruch auf das rund 90.000 Quadratkilometer große Verwaltungsgebiet Arunachal Pradesh. Indien beschuldigt dagegen China, ein rund 38.000 Quadratkilometer großes Landstück in Kaschmir besetzt zu halten.
Nach indischen Angaben soll das Abkommen nunmehr als Grundlage für weitere Verhandlungen dienen, in denen der Grenzverlauf im Einzelnen bestimmt werden soll. Beide Länder hatten vor zwei Jahren entsprechende Unterhändler hierfür ernannt. "Zum ersten Mal haben wir eine Gemeinsamkeit auf beiden Seiten, um eine Lösung zu finden", kommentierte Narayanan am 11. April das Abkommen im Fernsehsender Star TV. Seit 1988 seien 15 Verhandlungsrunden ergebnislos verlaufen, fügte er hinzu.
(AFP, 11. April 2005)

Indien und China haben am 11. April eine strategische Partnerschaft vereinbart. Eine entsprechende Erklärung unterzeichneten der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao und sein indischer Kollege Manmohan Singh in Neu-Delhi. Ferner wurden eine Reihe weiterer Abkommen besiegelt, mit denen unter anderem ein seit langem schwelender Grenzkonflikt beigelegt sowie Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert werden sollen. Beide Staaten wollten mit ihrer «strategischen Partnerschaft für Frieden und Wohlstand» gemeinsam dazu beitragen, weltweiten Bedrohungen und Herausforderungen zu begegnen, hieß es in der Erklärung.
(AP, 11. April 2005)

Die anti-japanischen Proteste im wichtigsten Exportland China haben am 11. April auf die Stimmung an der Tokioter Börse gedrückt. Der Nikkei-Index fiel um 1,09 Prozent auf 11.745,64 Zähler. "Angesichts der Ungewissheit darüber, ob die anti-japanischen Proteste bald wieder vorüber sein werden, berechnet die Börse eine mögliche Verschlechterung der Verkäufe japanischer Firmen in China ein", sagte Norihiro Fujito von Mitsubishi Securities. Vor allem die Auto- und die Stahlbranche, für die die Volksrepublik ein zentraler Absatzmarkt ist, standen am Montag unter Druck. Allerdings hielten sich die Verluste noch in Grenzen. China ist der wichtigste Handelspartner Japans.
(AFP, 11. April 2005)




Asiens Kraftfelder

VON KARL GROBE

Streit, Konflikt, Krieg erregen Aufsehen. Friedliche Annäherungen großer Mächte werden hingegen eher beiläufig, freundlich, auch freudig zur Kenntnis genommen. Das sich anbahnende neue Verständnis Indiens für China - und umgekehrt - ist ein Beispiel. Es gab Nachrichtenstoff für einen Tag her. Aber es enthält ein weltweit wirkendes Potential zur Veränderung, selbst wenn nicht alle Träume vom Zusammenwirken der beiden asiatischen Großstaaten wahr werden.

Ein Drittel der Menschheit lebt in den beiden Staaten, beide werden der Dritten Welt zugerechnet und als konkurrierende Modelle für den Aufbruch aus deren Fesseln und Beschränkungen wahrgenommen. In beiden bestehen weite Regionen und soziale Sektoren bitterer Armut neben Gebieten und Gesellschaftsklassen, die der Ersten Welt zugehören. Nur diese sind global players, weltwirtschaftliche Kräfte, und zwar mit unerhörter Dynamik; und nur diese definieren das staatliche Interesse, nur diese bestimmen, ob Konfrontation oder Kooperation zum Ziel der nationalen Größe führt.

Das jeweilige Hinterland - nahezu kontinentgroße abgelegene Gegenden, Hunderttausende Dörfer - stellt das Reservoir billiger Arbeitskraft. Dass solche industriellen Reservearmeen bestehen, ist eine Wachstumsbedingung des hoch entwickelten Sektors. Der braucht indessen weitere Zufuhren an Kapital und Rohstoffen, und der muss Märkte finden.

Chinas Regierungschef und seine indischen Gastgeber haben die Synergie entdeckt, die Faktoren gegenseitiger Ergänzung und Stärkung zum Beispiel in den wissensintensiven Bereichen wie der Computertechnik. Sie sind sich gleichzeitig der Konkurrenzsituation bewusst, die aus ihrer Abhängigkeit von Rohstoff-Importen und besonders vom Erdöl besteht und rasch zunimmt. Die Strategie bietet sich an, gemeinsam den Zugang zu den Quellen zu sichern.

Das wirkt sich, wenn es denn so kommen sollte, auf die Weltwirtschaft aus - und auf die Weltpolitik. Chinesisch-indische strategische Partnerschaft, wie Wen Jiabao und Manmohan Singh sie in Delhi beschworen haben, stutzt die Pflanze der US-Vorherrschaft, wenn nicht sofort, dann auf Dauer; und sie lässt dann die mehr oder weniger noch blühenden europäischen und japanischen Wirtschaftslandschaften in der Konsequenz wie Bonsai-Gärten erscheinen.

China befürwortet die Aufwertung Indiens zum ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrates, stemmt sich gegen die einschlägigen Wünsche Japans und hält sich eher bedeckt, was die Mitbewerber Brasilien und Deutschland angeht. Den Status der USA greifen die neuen Freunde in Peking und Delhi nicht an; sie wollen damit in naher Zukunft gleichziehen.

Die Konfrontation, die sich zwischen Japan einerseits, China und Südkorea andererseits zur Stunde aufschaukelt, ist das Gegenstück. Zur Schau gestellt wird - von China, nicht von Indien, das von der Geschichte weniger betroffen war - die Umdeutung der Historie durch Tokioter Geschichtsrevisionisten, als wären einseitige Deuter nicht gerade in China im staatlichen Auftrag ständig am Werk. Das ist Beiwerk. Territoriale Ansprüche und militärische Ambitionen sind Kern der Sache. Und selbstverständlich geht es da um Erdöl, Erdgas und Transportwege und um die Rolle, die Japan als Stellvertreter der USA in Ostasien spielen kann.

In gebührender Kürze zusammengefasst: Trägt die chinesisch-indische Zusammenarbeit Früchte, so bildet sich ein weiteres weltpolitisches Zentrum heraus. Dass beide von einer multipolaren Welt nicht nur reden, sondern sie auch wollen, ist der rhetorische Ausdruck der faktischen Entwicklung.

Wo bleiben da die anderen? Russland, dessen autoritärer Präsident Wladimir Putin ebenfalls auf Großmachtstatus beharrt und von Multipolarität spricht, ist noch eine Großmacht als Atomwaffenstaat, darüber hinaus als Rohstoffbesitzer Gegenstand der Begierde seiner Kunden. Es kann eine wirklich bedeutende politische Rolle nur in Partnerschaft mit anderen spielen und fürchtet mit Gründen, gegenüber China eher nur Juniorpartner sein zu können. Anders im Einvernehmen mit Europa, das jedoch aus vielen Gründen Union erst nur dem Namen nach ist. Es ist dazu gezwungen, mehr daraus zu machen. Jeder einzelne Nationalstaat des alten Kontinents kann ja nicht mehr sein als eine marginale Größe. Folglich die - oft recht ungeschickten - Versuche, sich als Partner etwa in chinesischen Waffengeschäft mit der Hoffnung auf Weiteres anzudienen, unabhängig von menschenrechtlichen oder sozialpolitischen Problem. Doch die sind die Achillesferse der neuen Asien-Allianz.

Aus: Frankfurter Rundschau, 15. April 2005


Ende der Eiszeit

Von Hilmar König, Neu Delhi

Indien und China haben sich nicht nur auf Leitlinien zur Regelung ihres Grenzkonflikts geeinigt, sondern auch nächste Ziele der Wirtschaftskooperation fixiert

»Indien und China sind Brüder.« Solche Sprüche hat man seit dem Krieg von 1962 weder in Neu-Delhi noch in Peking vernommen. Davor, zu Jawaharlal Nehrus und Tschou Enlais Zeiten, war die »Hindi-Chini-Bhai-Bhai« – die indisch-chinesische Brüderschaft – ein gängiger Slogan. Zum Ende seines viertägigen Besuchs in Indien am Montag griff der chinesische Premier Wen Jiabao nun wieder zu dieser Formulierung, verbunden mit der Bemerkung, er habe eine »historische Visite« absolviert. Indiens Premier Manmohan Singh stand dem nicht viel nach und schwärmte: Wenn Indien und China zusammenarbeiten, »können sie die Weltordnung umkrempeln«.

Die Euphorie ist verständlich und bis zu einem gewissen Grad auch gerechtfertigt. Denn beide Seiten scheinen nach mehr als 40 Jahre endlich gewillt, ihr Verhältnis in Ordnung zu bringen. Davon künden ein Dutzend Verträge, Abkommen und Absichtserklärungen. Von besonderem Gewicht ist die Einigung auf »politische Leitlinien« zur Lösung des Grenzkonflikts. Seit 1962 verlangen die Inder 38000 Quadratkilometer von China besetztes Gebiet (Aksai Chin) zurück. Die Gegenforderung beläuft sich gar auf 90000 Quadratkilometer, das gesamte Gebiet des indischen Bundesstaates Arunachal Pradesh. An diesem Streit schieden sich bisher die Geister. Nun glaubt man, mit den Leitlinien eine »faire, vernünftige und gegenseitig akzeptable Regelung durch gleichberechtigte und freundschaftliche Verhandlungen« finden zu können. Schon die Absicht ist in der Tat ein gewaltiger Fortschritt, wenn natürlich noch längst nicht die Lösung. Denn der Teufel steckt auch hier im Detail. Deshalb, so Wen, könne die rund 3500 Kilometer lange gemeinsame Grenze nur dann zu einer Zone des Friedens werden, wenn »beide Seiten Ernsthaftigkeit, Geduld und Durchhaltevermögen demonstrieren«.

Er betonte das gegenseitige Interesse an Stabilität, Entwicklung und Prosperität des anderen und nannte als wichtigste Ergebnisse seiner Reise die gemeinsame Erklärung zur Schaffung einer »strategischen und kooperativen Partnerschaft für Frieden und Wohlstand«, die Einigung auf die politischen Leitlinien zum Grenzkonflikt sowie die Annahme eines Fünfjahrplanes zur ökonomischen Zusammenarbeit und zum Handel. Allerdings muß man dabei nicht bei Null anfangen. Bei allen Problemen hat sich im Verlaufe von 55 Jahren diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden asiatischen Riesen vor allem im letzten Jahrzehnt auf ökonomischem Gebiet einiges getan.

Das Handelsvolumen erreichte 2004 immerhin 13,6 Milliarden Dollar, 79 Prozent mehr als im Jahr 2003 – bei einem Handelsüberschuß von 1, 75 Milliarden Dollar für Indien. Angesichts des gemeinsamen gewaltigen Marktes von weit mehr als zwei Milliarden Menschen drängt Peking den Nachbarn zu einer Freihandelszone. Gegenwärtig liegen die indischen Importzölle noch bei 15 Prozent, die chinesischen bei zehn Prozent. Wen Jiabao rang den Indern jetzt wenigstens ab, ein Gremium zu bilden, das alle Aspekte des Freihandelsvorschlags prüft. Die gemeinsame Erklärung fixiert jedenfalls schon als Ziele, bis zum Jahr 2008 das Handelsvolumen auf 20 Milliarden Dollar und bis 2010 auf 30 Milliarden zu erhöhen. Allein das deutet an, welches Potential in den bilateralen Beziehungen steckt. Dieses soll, wie es in der Erklärung steht, nicht zuletzt eingesetzt werden, um gemeinsam mit anderen Nationen »globalen Herausforderungen und Bedrohungen« zu begegnen.

Aus: junge Welt, 14. April 2005


Götterdämmerung

Von Jürgen Elsässer

Die letzten Tage brachten Nachrichten aus dem asiatischen Kontinent, die auf epochale Kräfteverschiebungen hinweisen. Während sich Europa mühsam zu einer Einheit quält, die eigentlich keiner mehr will, und die USA im Nahen und Mittleren Osten einen Pyrrhussieg nach dem anderen erringen, dämmert ein pazifisches Zeitalter herauf.

Zuerst stürmten Zehntausende Kids am Wochenende durch Peking und andere chinesische Millionenstädte und griffen mit Steinen japanische Einrichtungen an. Beim seinem Staatsbesuch fast zu gleicher Zeit in Berlin kritisierte der südkoreanische Präsidenten Roh Moo-hyun dasselbe wie die Kulturrevolutionäre im Reich der Mitte. »Die Japaner wollen ihre Aggressionskriege rechtfertigen«, meinte er mit Verweis auf den Geschichtsdiskurs in Nippon, insbesondere in bezug auf die japanischen Greuel im Zweiten Weltkrieg. Schließlich besuchte zu Wochenanfang der chinesische Premier Wen Jiabao Neu-Delhi und kündigte eine strategische Zusammenarbeit an. Indische Software in chinesischer Hardware soll den High-Tech-Weltmarkt aufrollen, eine Freihandelszone den bilateralen Warenaustausch – der sich in den letzten fünf Jahren ohnedies verzehnfacht hat – weiter vorantreiben. Das Duo hat schon auf der Welthandelskonferenz in Cancun die westliche Strategie durchkreuzt, nun soll Indien mit der Hilfe der Volksrepublik auch in den Weltsicherheitsrat einziehen. Wer wollte dort Beschlüsse gegen Regierungen durchsetzen, die ein Drittel der Menschheit repräsentieren?

Peking und Neu-Delhi haben auch die Zusammenarbeit mit Moskau intensiviert. Die Russen liefern an beide strategische Rüstungsgüter wie Raketen und Atom-U-Boote, umgekehrt haben die Chinesen dem Kreml mit vielen Milliarden Dollar den Rückkauf von Jukos ermöglicht. Last not least stehen die feinsten Adressen der deutschen Industrie in den Startlöchern, um die Volksarmee des einstigen Klassenfeinds zu modernisieren.

Selbst Japan ist kein zuverlässiger Alliierter für die USA mehr, da der chinesische Exportmarkt mittlerweile für Sony und Toyota wichtiger ist als der amerikanische. Kein Wunder also, daß der Protest Tokios gegen die Jugendkrawalle in Peking zahnlos blieb – am kommenden Sonntag will Außenminister Machimura in die Volksrepublik reisen, um dort »den Dialog zu suchen«. Der rote Drache und der dicke Buddha, drumherum spielen die kleinen Tiger unter Kirschblüten. Um dieses asiatische Idyll zu verhindern, bleibt den USA nur die Schürung neuer Spannungen: die Bedrohung Nordkoreas, die Aufrüstung Pakistans, die Anstachelung Taiwans. Irgend etwas wird passieren.

Aus: junge Welt, 14. April 2005


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