Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Verwundete und Unverwundenes

Von der übrigen Welt fast vergessen: Opfer des armenisch-aserbaidshanischen Krieges um Berg-Karabach

Von André Widmer *

Europa dürfe den Konflikt um Berg- Karabach 2013 nicht länger ignorieren, verlautete zu Jahresbeginn aus der aserbaidshanischen Hauptstadt Baku. Obwohl Europarat, Europäisches Parlament, OSZE und UN-Sicherheitsrat an einer Lösung beteiligt seien, mangele es an konkreten Ergebnissen. Eine Ortsbesichtigung bestätigt mehr als das.

»Sehr oft, praktisch jeden Tag gibt es Schusswechsel«, erzählen die Bewohner des Dorfes Alkhanli in der Nähe eines Kontrollpunkts der aserbaidshanischen Armee. In einem Teil des Dorfes im Bezirk Fizuli darf niemand mehr wohnen. Ein paar Hundert Meter entfernt von der Waffenstillstandslinie zwischen Aserbaidshan und den von Armeniern besetzten Gebieten ist es für Zivilisten zu gefährlich. Am Checkpoint der Armee wird der Verkehr ins Niemandsland und zum dahinter liegenden Militärposten deshalb kontrolliert. Zwischen den fenster- und dachlosen Ruinen des menschenleeren Siedlungsteils wuchern Pflanzen. Eine eigenartige Stimmung liegt über dem Gebiet, erst recht, als Sonnenstrahlen nur noch durch ein Loch in der Wolkendecke dringen.

Schützengräben durchfurchen das Land

Neun Kilometer südlich, in Ashagi Abdurrahmanli, sieht es nicht besser aus. Nur liegt das ganze Dorf noch ungünstiger zu den armenischen Stellungen. Die Spuren des Krieges und der zeitweiligen Besatzung sind ausgeprägter. Der Ort ist eine einzige Ruinenlandschaft. Die Decke im Parterre des zweigeschossigen Schulgebäudes ist rußgeschwärzt. Brandschatzungen waren Teil der Kriegführung der Armenier, die eine Politik der verbrannten Erde verfolgten, um eine Rückkehr der früheren Bevölkerung auszuschließen.

Im Krieg um Berg-Karabach zu Beginn der 90er-Jahre, als die Armenier über das eigentliche frühere »Autonome Gebiet Nagorno Karabach« hinaus weitere Territorien zu erobern begannen, tobte im Bezirk Fizuli nahe der Grenze zu Iran ein erbitterter Kampf. Nach wie vor halten die armenischen Separatisten 500 von 1394 Quadratkilometern des Bezirks besetzt, darin 62 Siedlungen. Dörfer wie Alkhanli und Ashagi Abdurrahmanli und über zwei Dutzend weitere Ortschaften wurden 1994 bei einer Gegenoffensive von den Aserbaidshanern zurückerobert. »Hier standen nach dem Krieg noch 17 von 1850 Häusern, die meisten Gebäude wurden während der Besatzung niedergebrannt «, erinnert sich Rahmiz Behbudow, Bürgermeister von Horadiz. Sein Städtchen dient derzeit als Hauptort des Bezirks Fizuli, denn die gleichnamige frühere Bezirksstadt liegt jenseits der Waffenstillstandslinie. In fast einem Dutzend Siedlungen außerhalb von Horadiz wurden Tausende von Flüchtlingen aus benachbarten besetzten Gebieten angesiedelt.

Über rund 300 Kilometer erstreckt sich die Waffenstillstandslinie zwischen Horadiz nahe Iran und dem Berg Böyuk Hinaldag nordöstlich Karabachs. Die Situation entlang dieser »Grenze« ist alles andere als stabil. Die Schützengräben beider Konfliktparteien liegen oft nur ein paar Hundert Meter voneinander entfernt, teilweise gar weniger. Zwar besteht seit 1994 ein Waffenstillstand, doch kommen nach offiziellen Angaben jährlich etwa 30 Soldaten und Zivilisten bei Schusswechseln ums Leben. Beide Seiten machen einander für die Verletzung des Waffenstillstands verantwortlich.

Experten befürchten eine Zuspitzung des Konflikts, sollten die Armenier in Berg-Karabach den Flughafen von Stepanakert wieder in Betrieb nehmen. Nach mehr als zwei Jahren Bauzeit wurde er 2012 fertiggestellt. Aserbaidshan warnt vor der Aufnahme des Flugbetriebs auf dem international als aserbaidshanisches Territorium anerkannten Gebiet. Für Unruhe sorgte letztes Jahr auch die Freilassung Ramil Safarows. Der aserbaidshanische Offizier hatte 2004 bei einem NATO-Kurs in Budapest einen Armenier ermordet. Nach acht Jahren Haft in Ungarn wurde er an seine Heimat ausgeliefert – und umgehend begnadigt.

Kucerli – Endstation der Eisenbahn

Unsere Fahrt führt weiter nach Norden zum Dorf Chirakli im Rayon Agdam. Chirakli ist wie Alkhanli zweigeteilt. Das Gelände ist flach; die Waffenstillstandslinie ist hier kein gerader Strich. Schützengräben zerfurchen das Land. Ein etwa zwei Meter hoher Wall aus aufgeschütteter Erde, der die Einwohner gegen armenische Scharfschützen abschirmen soll, zieht sich mitten durch das Dorf. Die jenseits dieses Damms liegenden Felder können nicht bearbeitet werden.

Im unweit gelegenen Orta Qarvand wurde 2011 der neunjährige Fariz Badalow in der Nähe seines Elternhauses von einer Kugel getroffen. Inzwischen wurde eine drei Meter hohe Mauer errichtet, die das Land der Badalows umgibt. Der Friedhof, auf dessen vorderem Teil sich Fariz' Grab befindet, ist ebenfalls nur wenige Hundert Meter von der Frontlinie entfernt. Wer in geduckter Haltung den hinteren Teil des Friedhofs betritt, sieht auf der Rückseite neuerer Grabsteine Einschusslöcher. Nicht einmal diese letzte Ruhestätte wird verschont.

Die Bezirke entlang der Waffenstillstandslinie sind nicht nur immer noch von der zeitweiligen Besetzung durch armenische Truppen vor fast 20 Jahren geprägt, auch nicht nur von der Gefahr neuerlicher Schusswechsel. Viele Flüchtlinge aus dem eigentlichen Berg-Karabach und den umliegenden, ebenfalls armenisch besetzten Gebieten haben sich in den Regionen entlang der »Line of Contact«, wie die gefährliche Grenze auch genannt wird, niedergelassen oder wurden dort angesiedelt. Im Laufe der vergangenen Jahre hat das durch Einnahmen aus Erdölverkäufen gesegnete Aserbaidshan zwar auch in den Bau neuer Flüchtlingsdörfer investiert. Doch noch immer leben viele der insgesamt 586 000 Vertriebenen unter menschenunwürdigen Bedingungen.

In Kucerli existiert eine dieser armseligen Siedlungen. Unmittelbar nach dem Krieg wohnten Flüchtlinge in Güterwaggons. Jetzt säumen Lehmhütten die Bahnlinie. Kucerli ist die Endstation, weiter westwärts geht es nicht, dort liegt besetztes Gebiet.

In der benachbarten Kleinstadt Barda wurden öffentliche Gebäude wie Schulen oder eine Turnhalle zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert. So hausen in einer alten, kleinen Sporthalle neun Familien – alles in allem 35 Personen – in Holzverschlägen. Die Bewohner klagen über die misslichen Umstände: Die Wasserleitung funktioniert nicht, die sanitären Einrichtungen sind ungenügend, es gibt Insekten und Ratten.

Und in Hasankaya im Bezirk Terter könnte man meinen, der Krieg sei erst vor Kurzem zu Ende gegangen. Häuserskelette ragen aus der trostlosen, kargen Landschaft. In behelfsmäßigen Hütten haben sich ein paar Familien mehr schlecht als recht eingerichtet, in unmittelbarer Nachbarschaft zerstörter Häuser.

Nach der Flucht über die Berge des Murovdag

Vor einer Ruine ein Autowrack, Rauch steigt empor. Eine Frau schaufelt einen kleinen Graben für eine Leitung, neben sich drei Kinder. Ihr Zuhause ist die Ruine. Im Erdgeschoss des Gebäudes haben sie sich eingerichtet, vom Obergeschoss fehlen etliche Wände und das Dach, sodass es unbewohnbar ist. In der Nähe steht ein Mann mit seiner Tochter. Sie ist 24 Jahre alt. Als sie vier Jahre war, explodierte direkt neben ihr eine Granate; seither hört sie nichts mehr. Die junge Frau hat nie die Gebärdensprache gelernt. Aserbaidshans Hauptstadt Baku, die Vorteile der Zivilisation und eine adäquate Betreuung für die Versehrte sind zu weit entfernt.

Die Szenerie in Hasankaya, das etwa einen Kilometer von der Waffenstillstandslinie entfernt liegt, mutet für Besucher wahrlich apokalyptisch an. 20 Jahre sind vergangen seit dem Krieg und den Kämpfen in dieser Gegend. Fast die ganze frühere Bevölkerung hat die Ortschaft verlassen. Die meisten der wenigen heutigen Einwohner sind Flüchtlinge aus der Region Kelbajar, die unmittelbar an der Grenze zu Armenien liegt. Im Frühling 1993 sind sie mühevoll über die schneebedeckten Berge des Murovdag vor der Besetzung ihrer Heimat geflohen. Hier haben sie Zuflucht gefunden, fristen jedoch seit Jahren eine karge Existenz zwischen Ruinen. Der trockene Boden lässt wenig Leben sprießen. Es sind Vertriebene, die sich von der übrigen Welt vergessen glauben. Nur ein großer Wassertank des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zeugt davon, dass man sich ihrer erbarmt.

Bei Hasankaya war früher eine landwirtschaftliche Forschungsanstalt angesiedelt. Zwei der drei Hauptbauten wurden dem Erdboden gleichgemacht. Das dritte Gebäude steht einsam in der Landschaft. Der kleine eingezäunte Vorgarten gibt nichts mehr her. Er ist braun. Keine Pflanze wächst. Das Gebäude selbst weist Spuren der Kämpfe auf: Einschusslöcher, Brandspuren. In einer Hälfte des Erdgeschosses haben sich Flüchtlinge einquartiert. Von diesem Gebäude aus bietet sich ein imposanter Blick über die tiefer liegende grüne Ebene des Flusses Terter hin zu den Bergen Karabachs, den Ausläufern des Murovdag. Das Gebirge liegt im armenisch besetzten Teil des Distrikts Terter. Nah und doch unerreichbar.

* Dieser Beitrag, den uns der Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, erschien in der Freitagsausgabe des "neuen deutschland" (11. Januar 2013), Seite 3.


Zurück zur Aserbeidshan-Seite

Zur Armenien-Seite

Zurück zur Homepage