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Im Schützengraben und dahinter

Bei den Verlierern des Konflikts um Berg-Karabach

Von André Widmer, Baku *

17 Jahre nach dem Krieg um Berg-Karabach warten Hunderttausende Aserbaidshaner immer noch auf ihre Rückkehr in die armenisch besetzten Gebiete. Nach wie vor gibt es kein Friedensabkommen, nur einen brüchigen Waffenstillstand. Ein Augenschein an der Frontlinie und bei Flüchtlingen.

Es scheint, als hätte sich die aserbaidshanische Armee hier für die Ewigkeit eingerichtet. Am Ende des Schützengrabens steht eine kleine Truppenunterkunft. Ein stabiler Betonbau mit einem spärlich eingerichteten Bettenzimmer. Irgendwo im Bezirk Fizuli im Westen Aserbaidshans trennen die Soldaten nur etwa 200 Meter von den Linien der gegnerischen Karabach-Armenier. Dazwischen liegt die Waffenstillstandslinie, die 1994 nach dem Krieg um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidshan festgelegt wurde.

Mit kugelsicherer Weste, das Gewehr geschultert, den Helm tief im Gesicht, stapfen die jungen Soldaten durch den etwa zwei Meter tiefen Graben. Durch einen kleinen Schlitz in einem Schützenstand sieht man das besetzte Land gegenüber. Weit hinten unter dem stahlblauen Himmel sind die schneebedeckten, fast 3000 Meter hohen Berge Karabachs erkennbar. Davor flacht das Gelände ab.

In Sichtweite, nahe der Frontlinie und einer armenischen Stellung, stehen Ruinen. Dort lebt schon lange niemand mehr. Die dort einst wohnten, Aserbaidshaner, leben jetzt in Flüchtlingssiedlungen.

»Gefühle explodieren irgendwann«

Bevor das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, besetzten die nach Unabhängigkeit strebenden Paramilitärs der Karabacharmenier nicht nur das eigentliche Berg-Karabach, sondern auch sieben weitere Distrikte Aserbaidshans. Die dortige Bevölkerung, etwa 586 000 Menschen, floh. In zwei Bezirken – Fizuli und Agdam – gelang es den Aseris vor Kriegsende, einen Teil des Territoriums zurückzugewinnen. Doch mehr als 11 000 Quadratkilometer, 13,5 Prozent des aserbaidshanischen Staatsgebiets, bleiben nach wie vor armenisch okkupiert.

»Wir können nicht vergessen, was sie uns angetan haben. Wie könnten wir je wieder mit Leuten zusammenleben, die unsere Verwandten getötet haben? Ich möchte das nicht«, sagt Samir Aliev. Der 23-Jährige gehört zum kleinen Trupp, der in der entlegenen Stellung an der Front Dienst tut, jeweils zwei Wochen am Stück. Samir Aliev ist, anders als seine Kameraden, selbst Flüchtling. Seine Heimat lag weit jenseits der Berge Karabachs: Als Fünfjähriger musste er mit der Familie aus Latschin flüchten – aus jenem einst aserbaidshanisch und kurdisch bewohnten Gebiet, das zwischen dem hauptsächlich armenisch besiedelten Zentralkarabach und Armenien liegt. Es ist eine hügelige Region mit grünen Talböden und klarem Wasser in Bächen und Flüsschen, nicht so trocken wie die fast wüstenartigen Landstriche Aserbaidshans, in denen viele Flüchtlinge heute ihr Dasein in stereotypen Siedlungen oder ärmlichen Dörfern fristen. Latschin, von den Armeniern nach dem Krieg Berdzor getauft, ist ein Ort der Sehnsucht für alle, die von dort flohen.

In der Nacht vom 16. zum 17. Mai 1992 fiel die Region. »Ich erinnere mich nicht mehr an die Flucht, aber an unser Haus neben der Moschee und an die Natur in Latschin. Ich erinnere mich an die Kinder, an die Menschen.« In Alievs Familie reden sie noch oft über das frühere Leben in der verlorenen Heimat, denn »wenn man seine Gefühle in sich drinnen lässt, explodieren sie irgendwann«, glaubt der junge Aserbaidshaner.

Immer wieder kommen an der 120 Kilometer langen Frontlinie bei Schusswechseln Soldaten ums Leben. Alleine 2010 zählte man rund 30 Gefallene auf beiden Seiten. Aber für Samir Aliev ist der Dienst im vordersten Schützengraben Ehrensache. Er verzieht keine Miene während unseres Gesprächs. Er blickt dem Gegenüber nicht in die Augen. Seine Stimme, zu Beginn noch leicht stotternd, ist jetzt gefestigt. »Ich würde mein Leben geben für die Befreiung des Landes«, versichert er.

Aber nicht nur aus den besetzten Gebieten flohen die Menschen. Zwischen 1988 und 1994 flüchteten schätzungsweise weitere rund 300 000 Aserbaidshaner aus Armenien – und etwa 300 000 Armenier aus Aserbaidshan. Plötzlich sah sich die junge Republik in den ohnehin großen Wirren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit einer riesigen Flüchtlingswelle konfrontiert. Lange Zeit waren die Entwurzelten in Zeltlagern, ausrangierten Zugwaggons und anderen Notunterkünften untergebracht. In den vergangenen Jahren, als Aserbaidshan dank der Erdöl- und Gasvorkommen seine Staatseinnahmen enorm steigern konnte, wurden neue Dörfer für die Flüchtlinge aus dem Boden gestampft. In sich geschlossen, verfügen sie über eigene Schulen, Gesundheitszentren und Verwaltungen. Die Regionen nahe den Waffenstillstandslinien sind übersät mit solchen Siedlungen, die die Namen der Herkunftsorte ihrer Bewohner tragen. Die neuen Dörfer sind zwar relativ modern, doch viele liegen in wenig fruchtbaren Gegenden.

Neue Häuser sind kein guter Ersatz

In der Region Aghjabedi aber leben längst noch nicht alle in neueren Häusern. Die Provinz hat rund 120 000 Einwohner, davon allein 30 000 Flüchtlinge aus den besetzten Regionen. Eine staubige Piste etwas außerhalb der neuen Flüchtlingssiedlung Latschin führt vorbei an einem im Bau befindlichen Wohngebiet. In Sichtweite der Baustelle leben Familien noch unter erbärmlichen Bedingungen, in Behausungen, die notdürftig aus Abdeckplatten, Lehm und Holz zusammengezimmert wurden. Immerhin versorgt eine Stromleitung das Wohngebiet.

Hier wohnt auch Asgar Bagitov mit seiner vielköpfigen Familie. Er führt die Besucher in den Wohnraum, der unter der Erde liegt. Die Wände sind ausstaffiert mit Tüchern, der Boden ist mit Teppichen belegt. Die Decke wird von einem verkleideten Baumstamm gestützt. Seit 1992 leben Bagitovs hier. »Unsere Lebensumstände in der Heimat waren viel besser. Wir hatten Wasser vor dem Haus, jetzt muss ich bis zu vier Kilometer gehen, um an ein Wasserloch zu kommen«, erzählt Bagitov. Auch die medizinische Versorgung sei kümmerlich. Wenn seine Frau krank sei, komme manchmal ein Arzt vorbei, »die Medikamente muss ich aber selber kaufen«. Es gibt zwar eine Schule, aber keinen Kindergarten.

Bagitov geht die Treppe hinauf, tritt vor die Hütte, lädt Wasserkanister von einem Eselskarren ab. Er ist der Regierung zwar für das Wenige an Unterstützung dankbar, hofft aber zugleich auf baldige Besserung seiner Lebensumstände. In sechs Monaten soll die Familie ein neues Haus bekommen – fast 20 Jahre nach der Flucht. »Aber eigentlich brauchen wir kein neues Haus, wir wollen unser altes Land zurück«, sagt er. Ähnlich geht es zwei Frauen, die uns auf der Straße entgegenkommen. Man lebe hier von selbstversorgender Landwirtschaft und 15 Manat – etwa 12 Euro – monatlich. Nächstes Jahr sollen auch sie zwar ein neues Haus bekommen, doch eigentlich wollen sie nur zurück in ihre alte Heimat, nach Vagazin, einem Dorf etwa 50 Kilometer nördlich der Stadt Latschin.

Bitter sind ihre Erinnerungen an die Flucht im Jahre 1992. »Vater und Bruder wurden als Geiseln genommen und folgten uns erst nach zwei Jahren«, erzählen die beiden Frauen. Marodierende Armenier hatten den Flüchtlingen die mitgeführten Schafe, Kleider und Schuhe geraubt. Nach drei Wochen auf den Beinen war Aghjabedi erreicht. Geblieben ist ihnen wie vielen anderen die Sehnsucht nach den besetzten Heimatdörfern – die heute zum größten Teil in Trümmern liegen.

Einigen ist der Geduldsfaden schon gerissen. Wie den rund 5000 Mitgliedern der in Baku ansässigen Organisation zur Befreiung Karabachs. In einem kleinen Büro auf einem schäbigen Hinterhof sitzen der Vorsitzende Akif Nagi und einige seiner Mitstreiter. Die meisten stammen aus der zerstörten Stadt Agdam. Sie erzählen von Krieg und Flucht, von Gräueltaten der Besatzer und von Verletzungen durch Streubomben.

Alle nach dem Waffenstillstand 1994 zwischen Armenien und Aserbaidshan geführten Verhandlungen seien ergebnislos verlaufen, klagt Akif Nagi und schließt daraus: »Der einzige Weg ist die militärische Lösung.« Das Ziel seiner Organisation sei es, die Bevölkerung zu bewegen, entsprechenden Druck auf die Regierung auszuüben.

»Als Mutter möchte ich keinen Krieg, aber...«

Natürlich kennt auch Nagi die politische Großwetterlage und weiß, dass die internationale Gemeinschaft Aserbaidshan vor einem Krieg warnt. »Wenn die Regierung aber unter genügend starkem Druck steht und das Militär bereit ist, kann es losgehen.« Und für die ehemalige Krankenschwester Gultagin Guliev aus dem Distrikt Terter ist klar: »Ich als Mutter möchte zwar einerseits keinen Krieg, aber ohne scheint es keine Bewegung zu geben.«

In der Tat ist Aserbaidshans Militärbudget heute ungefähr so groß wie Armeniens gesamter Staatshaushalt. Und Präsident Ilham Aliev hat mehrfach gedroht, die Geduld seiner Landsleute sei nicht endlos. Der stellvertretende aserbaidshanische Außenminister Araz Azimov glaubt dennoch nicht an einen baldigen Wiederausbruch des Krieges: »Wir wollen keinen Krieg, denn wir würden dadurch unsere großen wirtschaftlichen Fortschritte aufs Spiel setzen.«

* Aus: Neues Deutschland, 17. Mai 2011


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