Fußballdiplomatie in Jerewan
Historisches Treffen Türkei – Armenien
Von Jan Keetman, Istanbul *
Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül reist heute (6. September) anlässlich des WM-Qualifikationsspiels der
Türkei gegen Armenien erstmals nach Jerewan. Die türkische Opposition kritisiert die Reise ebenso
wie einige Politiker aus Aserbaidshan, das mit Armenien wegen des Streits um die Enklave Berg-
Karabach verfeindet ist.
Nachdem zunächst die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) Güls Armenien-Reise kritisiert
hatte, stimmte auch die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) in den Chor der Kritiker
ein. »Wenn er schon noch Jerewan geht, sollte er wenigstens einen Kranz am Völkermorddenkmal
niederlegen«, höhnte der CHP-Vorsitzende Deniz Baykal. In den Augen der Opposition kommt Güls
Reise nämlich einem Kniefall vor Armenien, den USA und der EU gleich.
Auch in Aserbaidshan wird Kritik vor allem aus den Reihen der Opposition laut, die in dem autoritär
geführten Staat allerdings ein Schattendasein führt. Für die Regierungspartei Neues Aserbaidshan
meldete sich die Abgeordnete Güler Achmedowa zu Wort und sagte, dass sie die Nachricht von der
Reise Güls nach Jerewan wie viele ihrer Landsleute mit Betrübnis gehört habe. Doch sogleich fügte
sie hinzu, dass ein solcher Besuch die Beziehungen zwischen Aserbaidshan und der Türkei nicht
gefährden könne. Aserbaidshans Außenminister Elmar Memmedjarow hatte schon vor Tagen
abgewiegelt: Es handle sich um eine »innere Angelegenheit der Türkei«.
In Wirklichkeit sieht die Regierung in Baku die Reise gar nicht so ungern. Die rasche und
»entschlossene« Antwort Russlands auf Georgiens Versuch, das abtrünnige Südossetien
»heimzuholen«, hat auch in Aserbaidshan Nachdenken ausgelöst. Georgien hat immerhin eine
Küste am Schwarzen Meer und eine Grenze zur Türkei, Aserbaidshan dagegen ist geografisch von
der NATO gänzlich abgeschnitten. Als Gegengewicht zu tatsächlichen oder vermuteten russischen
Absichten in der Region zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer begrüßt Aserbaidshan die
türkische Initiative zur Schaffung einer Plattform für Stabilität und Zusammenarbeit im Kaukasus. Bei
einem Besuch in Baku konnte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den
aserbaidshanischen Präsidenten Ilham Alijew davon überzeugen, dass man für diese Initiative auch
Armenien braucht. Daneben mag der Gedanke eine Rolle spielen, dass ein Frieden im Konflikt um
Berg-Karabach den russischen Einfluss auf Armenien vermindern und die geografische Zange um
Aserbaidshan öffnen würde. Doch das ist einstweilen Zukunftsmusik.
Über das Gespräch, das Abdullah Gül vor dem Fußballspiel mit seinem Amtskollegen Serge
Sarkisjan führen will, wird er den aserbaidshanischen Präsidenten Alijew kurz darauf in Ankara
informieren.
Angenehm überrascht war man in der Türkei über Signale aus Jerewan. Güls Vorvorgänger
Süleyman Demirel war aus einem Gespräch mit Sarkisjans Vorgänger Robert Kotscharjan mit roten
Ohren herausgestürmt und hatte zu seiner Begleitung so etwas gezischt wie: »Der Mann will Krieg!«
Sarkisjan hingegen lud Gül mehrfach ein und verzichtete auf alle Vorbedingungen. Selbst Armeniens
nationalistische Opposition, die »Daschnaken«, denen man Demonstrationen gegen Gül zutraute,
begrüßen den Besuch. Die armenische Fußballföderation tat ein Übriges und nahm den Berg Ararat
aus ihrem Emblem. Der Berg, der heute in der Türkei liegt, gilt den Armeniern als Nationalsymbol
und war deshalb stets ein Streitobjekt. Gül wird jedoch gewiss nicht mit einem Kranz in Jerewan
anreisen. Zur Anerkennung eines Völkermords an Armeniern zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ist
die Türkei nicht bereit.
* Aus: Neues Deutschland, 6. September 2008
Gül schöpfte in Jerewan Hoffnung
Historisches Treffen Armenien – Türkei **
Beim ersten Besuch eines türkischen Staatschefs im benachbarten
Armenien scheint es zu einer Annäherung beider Staaten gekommen zu sein. Er sei seinem
armenischen Amtskollegen Serge Sarkisjan dankbar, dass er die von der Türkei vorgeschlagene
»Plattform für Stabilität und Sicherheit im Kaukasus« mittrage, sagte Abdullah Gül, Präsident der
Türkei, laut Agentur Interfax am Sonnabend (6. September). Beide Staaten unterhalten bisher keine diplomatischen
Beziehungen zueinander. Sarkisjan hatte Gül zum WM-Qualifikationsspiel beider
Fußballnationalmannschaften eingeladen, das die Türkei 2:0 gewann.
Auf Güls Weg vom Flughafen in die Hauptstadt Jerewan hatten Hunderte Menschen gegen die
Haltung der Türkei zu Massakern an Armeniern im Osmanischen Reich und gegen die fortdauernde
türkische Grenzblockade protestiert. Die türkische Regierung verlangt von Jerewan, die von
Armenien besetzte Kaukasus-Enklave Berg-Karabach zu räumen, die völkerrechtlich zu
Aserbaidshan gehört. Seit 1993 blockieren die Türkei im Westen sowie Aserbaidshan im Osten die
Grenzen Armeniens. Vor der Präsidentenloge im Rasdan-Stadion waren eigens schussfeste
Glasscheiben zum Schutz des türkischen Präsidenten angebracht worden.
Beide Seiten hätten die Hoffnung, dass sie die bilateralen Probleme lösen könnten, um sie nicht
künftigen Generationen überlassen zu müssen, sagte Sarkisjan nach dem Gespräch mit Gül. »Ich
sehe die Bereitschaft, den Wunsch, für Stabilität in der Region zu sorgen«, betonte der armenische
Präsident. »Abdullah Gül hat mich zum Rückspiel in die Türkei eingeladen. Ich halte das für einen
guten Anfang.«
Der armenische Präsident hatte Ende August in einem Interview mit der türkischen Zeitung
»Radikal« erklärt, die türkische Anerkennung eines Völkermordes an den Armeniern sei keine
Voraussetzung für die Verbesserung der Beziehungen. Bei den Massakern im Osmanischen Reich
sollen nach Schätzungen bis zu 1,8 Millionen Armenier ums Leben gekommen sein. Die Türkei geht
dagegen von etwa 200 000 Toten aus.
Gül sagte nach seiner Rückkehr in die Türkei: »Ich glaube, dass mein Besuch erfolgreich war und
Hoffnung für die Zukunft verspricht.«
** Aus: Neues Deutschland, 8. September 2008
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