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Ressourcen im Polarmeer

Etwas Euphorie für die Seele

Von Lennart Laberenz, Murmansk *

Die wiederbelebte russische Hafenstadt Murmansk könnte einer der wichtigsten Knotenpunkte für die russische Gas- und Ölwirtschaft werden. Russland rüstet sich zur Ausbeutung der Arktis – und kommt dabei kaum voran.

«Jedes Gespräch, das mit dem Wetter beginnt, endet beim Geld.»
Sprichwort aus dem russischen Norden

Seit 35 Jahren blickt der «Aljoscha» von einer Anhöhe nördlich der russischen Hafenstadt Murmansk. Zögerlich versinkt hinter der riesigen Soldatenfigur die Aprilsonne. Gelb, Rot und Violett legen sich in breiten Schichten um den Horizont und verlaufen zum tiefen Blau. Es hat wieder geschneit in den vergangenen Tagen, die Temperatur ist unter minus zehn Grad gerutscht. Zu Füssen des Kriegermahnmals breitet sich eine karge Landschaft aus, einer gewaltigen Abraumhalde gleich, nur spärlich mit struppigen Birken bewachsen. Weit unter dem «Aljoscha» hat die Barentssee einen tiefen Fjord ins Land gegraben. Eine Laune der Natur hält den Fjord eisfrei: Der warme Golfstrom läuft nach langer Reise durch den Atlantik und entlang der norwegischen Küste hier aus.

Im Hafen von Murmansk ist es ruhig, nur ein paar Kohlenzüge werden entladen, einige Fischtrawler dümpeln am Quai. Murmansk ist mit Abstand die grösste Stadt nördlich des Polarkreises. 1916 gegründet, liegt sie am Ende der Murmanbahn, fast 1500 Kilometer fährt man von St. Petersburg. Der eisfreie Hafen sollte das Zarenreich das ganze Jahr mit Rüstungsgütern seiner Alliierten versorgen können. Später tummelten sich hier Engländer und US-Amerikaner, Lenins revolutionäre Garden vertrieben 1920 die Weissgardisten und verhinderten die Eroberung der weiter südlich gelegene Stadt Archangelsk. Zwischen 1941 und 1944 zerstörten Adolf Hitlers Gebirgsdivisionen im Verbund mit der Luftwaffe dann alles, was irgendwie kaputt zu machen war.

Für den Wiederaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Kriegsgefangene eingesetzt. Die Partei schickte junge Kader, Facharbeiter und Spezialistinnen für Fischerei, Marine, Hafenwirtschaft hierher. Lächelnde junge Familien sollten hier leben, so die Propaganda. Später wurde Murmansk die Heimat von atombetriebenen Eisbrechern und manchen der rund 250 sowjetischen Atom-U-Boote. Und auch wenn die Nordmeerflotte heute zusammengeschrumpft ist und viele Siedlungen auf der Kola-Halbinsel geräumt sind, ist vielerorts noch immer der sowjetische Fortschrittsglaube spürbar.

Und selbst der Kalte Krieg wirkt nach: Das wenige Kilometer nördlich gelegene Seweromorsk ist noch immer militärisches Sperrgebiet; die Küste der Barentssee ist nur mit Spezialvisa zugänglich. Murmansk hingegen ist offen. Seit 1991 dürfen sich auch TouristInnen «Aljoscha» ansehen, das zweitgrösste Mahnmal Russlands. Doch bald soll es mit der beschaulichen Ruhe zu seinen Füssen zu Ende sein.

Das ewige Versprechen

Einer, der für Murmansk grosse Pläne hat, ist der Bergbauingenieur Alexander Selin, Direktor von Sevmorneftegaz, einer Tochtergesellschaft des russischen Erdgaskonzerns Gazprom. Sevmorneftegaz gehört die Lizenz zur Erschliessung und Ausbeutung des russischen – und grössten – Teils des Shtokman-Gasfelds, das knapp 600 Kilometer nordöstlich von Murmansk in der Barentssee liegt. Es ist das weltweit grösste Unterwassergasfeld, das bislang gefunden wurde: Hier werden 3,9 Billionen Kubikmeter Erdgas und über 56 Millionen Tonnen Gaskondensat vermutet. Zum Vergleich: Die Schweiz verbraucht jährlich rund 2,4 Milliarden Kubikmeter Erdgas.

Selins geräumiges, aber schmuckloses Büro liegt in einem Büroneubau an der Karl-Marx-Strasse. Der ehemalige Politfunktionär trägt einen dunklen Anzug. Doch so mancher Wirtschaftsmanager aus Murmansk hebt wortlos die Hand zum militärischen Gruss, wenn die Rede auf Alexander Selin kommt: Selin war lange erster stellvertretender Gouverneur für Industriefragen. Inzwischen ist der Sevmorneftegaz-Chef vor allem ein Botschafter der Energiesicherheit. «Shtokman ist genauso wichtig für Russland wie für Europa», sagt Selin gegenüber der WOZ. «Über die Anbindung an die Nord-Stream-Pipeline werden wir von hier Erdgas auch nach Deutschland exportieren.» Fragen zu den harten Auseinandersetzungen um die Erschliessung des Gasfelds oder die politischen Ränkespiele der russischen Konkurrenz lässt er unbeantwortet.

Denn trotz Selins Optimismus ist das grosse Geschäft mit dem Shtokman-Feld seit Jahren vor allem ein Versprechen. Die Ausgangslage für das kostspielige und komplexe Projekt verändert sich mit den Preisschwankungen am Weltmarkt und mit der technologischen Entwicklung: So extrahieren die USA trotz massiver Umweltbedenken inzwischen fast die Hälfte ihres Gases aus Schiefergestein, und auch in Europa wittern Konzerne Milliardengeschäfte mit sogenannten nichtkonventionellen Gasquellen. Für Shtokman spricht die Furcht vor dem Ende der sibirischen Gasvorkommen. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima meldete der «Barents Observer», dass Japan bereits Interesse an Shtokman zeige.

Patriotischer Optimismus

Mit dem Versprechen aus dem Norden könnte sich Gazprom in Zukunft von Transitländern wie Weissrussland, der Ukraine oder Turkmenistan unabhängig machen, mit denen Russland in den vergangenen Jahren immer wieder Konflikte wegen seiner Energiepreispolitik austragen musste. Denn die Nord-Stream-Pipeline – die sich derzeit noch im Bau befindet – wird das Gas durch die Ostsee direkt nach Deutschland, in die Niederlande und nach Frankreich führen. Und wenn das Polareis weiterschmilzt, ginge es in den Sommermonaten vielleicht bald per Schiff auch nach Japan. Shtokman soll künftig rund zwanzig Prozent der russischen Gasförderung ausmachen.

Lange war unklar, ob es technisch überhaupt möglich ist, das 1988 entdeckte Shtokman-Feld auszubeuten. Doch steigende Temperaturen und die drastische Abnahme des Polareises, neue technische Entwicklungen, ein ursprünglich hoher Gaspreis sowie politischer Wille sorgten schliesslich dafür, dass vor rund sechs Jahren das Projekt überhaupt angegangen wurde. Zunächst wollte Gazprom Shtokman alleine ausbeuten, bei einer zweiten Verhandlungsrunde änderte sich das Blatt allerdings: Die Shtokman Development AG mit Sitz im zugerischen Baar wurde gegründet. An Shtokman sind neben Gazprom jetzt auch das französische Mineralölunternehmen Total und der norwegische Erdölkonzern Statoil Hydro mit zusammen 49 Prozent beteiligt.

«Etwas anderes wäre schon überraschend gewesen», sagt der Gasmanager Benedikt Henriksen von StatoilHydro. Wäre Gazprom das Projekt alleine angegangen, hätte das immer noch halbstaatliche Unternehmen einen Präzedenzfall geschaffen. Henriksen steuert für sein Unternehmen die Koordination von Zulieferern und hat viel Erfahrung bei solchen Grossprojekten. Die Arbeit in der Barentssee schätzt er als kompliziert ein. Viel mehr sagt er nicht. Eine genaue Einschätzung der Entwicklung des Shtokman-Felds will auch sonst niemand abgeben: Die Manager werden bei dieser Frage stets still, vieles darf nicht zitiert, Namen dürfen nicht genannt werden. Die speziellen Beziehungen zwischen russischen Öl- und Gaskonzernen und dem Kreml beflügelt die Redebereitschaft nicht.

Selins Stimme wird nach der Frage zum wiederholt verschobenen Förderbeginn dann auch eine Spur lauter als nötig. Gazprom plant vorerst eine Jahresförderung von rund 70 Milliarden Kubikmetern Gas. Ab 2030 sollen es 200 Milliarden Kubikmeter werden. Insgesamt soll das Gas für fünfzig Jahre reichen. «Für 2016» – und hier strafft sich der Ingenieur Selin, seine Stimme nimmt einen feierlichen Ton an – «für 2016 planen wir das erste Gas für Europa.»

Inzwischen wurde der Termin wegen Unklarheiten in Besteuerungsfragen und dem kürzlich stark gefallenen Gaspreis noch einmal verschoben. Erste Exporte von verflüssigtem Gas aus dem Shtokman-Feld werden nicht vor 2017 erwartet. Manche ExpertInnen halten auch diesen Termin für zu optimistisch. Gazprom hat bis 2020 rund vierzig Milliarden US-Dollar zur Entwicklung von Shtokman kalkuliert – doch schon jetzt vermutet die Moskauer Finam Investment Bank etwa fünfzig Prozent höhere Kosten.

Auf einer Autofahrt mit norwegischen Gasmanagern fragt der Reporter eher beiläufig, ob sie zusammenfassen könnten, was in Murmansk bislang im Zusammenhang mit Shtokman geschehen ist. Die Herren lächeln kurz und blicken aus dem Fenster. Dann fährt der Wagen etwas ruppig über das nächste Schlagloch.

Vor allem Gerede

«Seit zwanzig Jahren höre ich Shtokman, Shtokman, Shtokman», sagt Andrei Privalikhin, Chefredaktor des Murmansker Privatsenders Blitz TV. «Seit zwanzig Jahren erzählt man uns hier, dass wir eine goldene Zukunft haben.» Privalikhin rudert ein wenig mit den Armen und blickt dann wieder still auf seinen Kaffee. Vor 48 Jahren wurde er in Murmansk geboren. Den Niedergang der Stadt in den neunziger Jahren hat er nicht vergessen.

Einst brachten Fischer über zehn Prozent der sowjetischen Fischproduktion in Murmansk an Land. Zu Sowjetzeiten verdoppelten hier «Polarzuschläge» die Löhne. Wohnung und Verpflegung, Kindergärten und Schulen waren in strategisch wichtigen Orten wie Murmansk gesichert. «Dann brach 1991 die Sowjetunion zusammen, und der neue russische Präsident Boris Jelzin setzte seine radikalen Wirtschaftsreformen um. Infolgedessen verloren etwa vier Fünftel der Arbeiter ihre Jobs.» Der Niedergang traf die Stadt hart: Knapp 200 000 BewohnerInnen verliessen Murmansk. Allerdings hat sich die Lage wieder geändert, die Abwanderung ist gestoppt. Und noch immer gehen ArbeiterInnen hier fünf Jahre früher in Rente als anderswo in Russland, ein staatliches Programm subventioniert den RentnerInnen bis heute einen Rückzug in günstigen Wohnraum im Süden des Landes. Doch die meisten bleiben. Die Bevölkerungszahl hat sich bei 321 000 stabilisiert. Warum, wird nicht sofort klar. Hoffen sie auf den neuen Hafen? Auf neue Arbeitsplätze? Privalikhin zuckt mit den Schultern: «Business in Russland funktioniert träge», sagt er, «vor allem in Städten, die weit von Moskau oder Sankt Petersburg entfernt sind.»

Shtokman sei das beste Beispiel für diese Trägheit. «Wir haben das Gas etwa zur gleichen Zeit wie die Norweger gefunden – und sieh mal, was bislang passiert ist. Geredet wird, sonst sehe ich nicht viel.» (Vgl. «Die norwegische Variante» nach diesem Text.) Prognosen, nach denen in der Region der Durchschnittslohn von derzeit 16900 Rubel – umgerechnet rund 530 Franken – bald auf das 3,5-Fache steigen wird, wischt Privalikhin vom Tisch. «Propaganda der Regierung», sagt er knapp, und: «Je nachdem, ob gerade Wahlkampf herrscht.» Auch die versprochenen 10000 Arbeitsplätze beim Ausbau der Infrastruktur sieht er noch nicht, und zum Einwand, dass Gazprom mit französischer und norwegischer Unterstützung doch vielleicht besser arbeiten würde, meint er nur: «Ich sehe nicht ein einziges neues Gebäude und keine Einrichtung, die hier seriöse Anstrengungen unternimmt.»

Das Leben kehrt zurück

Eine jener Rentnerinnen, die nicht daran denken, umzuziehen, ist Nadja Babkina. Mit 53 Jahren arbeitet sie auch als Pensionärin weiter in der Schulverwaltung. Jetzt will sie dem Gast auf einer Rundfahrt die Stadt zeigen. Im April sind die meisten Strassen von der dicken Eisschicht befreit, Räumfahrzeuge arbeiten daran, die Reste des zähen Winters auch auf Nebenstrassen aufzubrechen und zu grossen Haufen zusammenzuschieben. Unter dem Eis ist der Asphalt zerrissen oder zusammengedrückt. Städtische Angestellte reparieren die tiefsten Löcher der vergangenen Monate.

Murmansk ist eine romantikfreie Arbeiter-Innen- und Hafenstadt, eigentlich eine grosse Plattenbausiedlung mit Boutiquen und Imbissbuden, Theatersälen, Kegelbahnen und Diskotheken. In den Supermärkten rollen Tomaten aus dem Regal und stapeln sich – etwas blass vielleicht – Bananen, Äpfel und steinharte Kiwis. Die Plattenbauten sehen genauso aus wie in Moskau, Warschau oder Berlin. Allerdings wurde auf bessere Isolierung geachtet – zudem sind Schulen und Kindergärten in die Höfe der Plattenbauviertel verteilt: Die Kinder sollten kurze Wege haben und vor der beissenden Kälte geschützt sein.

Gerne erzählt Babkina, dass es wieder bergauf gehe. Bis vor sechs Jahren war die Stadt heruntergekommen und fast tot. Nun werden die Probleme wieder profaner. Es gehe nicht mehr um fehlende Lebensmittel, sondern um die kaputten Bürgersteige. Bei manchen Fragen zögert sie allerdings eine Weile und legt sich die Worte genau zurecht. «Ich arbeite in der Verwaltung», sagte sie beim ersten Treffen. «Da werde ich nicht schlecht über die Stadt reden.»

Während der Fahrt zeigt Babkina auf neue Cafés und Läden, auf der Lenina-Hauptstrasse fahren geländegängige Luxuslimousinen. An den Hügeln der Stadt baut ein lokaler Investor teure Einfamilienhäuser. Es gibt ein neues Einkaufszentrum. Die Cocktailbars verstecken sich nicht mehr im Keller oder hinter verdunkelten Scheiben – man will gesehen werden. Die kreischende Tupolew-Maschine, die zweimal täglich aus Moskau anfliegt, ist meistens voll mit Geschäftsleuten. «Die Menschen hier lachen wieder», sagt Nadja Babkina. Und: «Wir brauchen einen starken Staat, eine starke Regierung.» Sie ist froh, dass die Jugend nun wieder Ziele formuliere, so etwas wie Stolz empfinde.

Jagd auf einen Leckerbissen

Alexej Fadejew wird sogar euphorisch, wenn es um die wirtschaftlichen Aussichten geht: «Murmansk hat eine glänzende Zukunft als Transportknotenpunkt für Gas, Öl und Handelswaren», sagt er bestimmt. Fadejew ist Vizepräsident des Unternehmer-Dachverbands Murmanshelf, einem Zusammenschluss von 248 Zulieferfirmen aus der Öl- und Gasindustrie. Fadejews Vater war Militär, als Kind ist er viel herumgekommen. Als er vierzehn Jahre alt war, liess sich die Familie in Murmansk nieder. Nun ist er 32, hat die technische Universität als Marineingenieur verlassen, danach noch Wirtschaft studiert und schreibt jetzt gerade seine Doktorarbeit.

Dass im Murmansker Hafen bisher nur ein paar Holzhäuser, Lagerschuppen und ältere Piers stehen, tut Fadejews Optimismus keinen Abbruch. «Für die Olympischen Spiele 2014 in Sotchi werden 312 Milliarden Rubel ausgegeben», sagt er. «Für den Murmansker Hafen werden es 309 Milliarden sein.» In seinem Büro hat er Grafiken aufgehängt, die gegenüber der «Aljoscha»-Statue raumgreifende Gebäude und einen neuen Hafen zeigen. «Murmansk könnte ein geostrategisches Zentrum für die Rohstoffausbeutung der gesamten Arktis werden», sagt Fadejew. Und er geht noch einen Schritt weiter: Murmansk sei «genetisch verbunden» mit dem Nordpol. «Das ist unser Territorium, und Shtokman ist nur der Anfang.»

Tatsächlich schimmert im Kampf um die Hoheitsrechte in der Arktis und die Ausbeutung der Ressourcen auch eine klassische Eroberungshaltung durch. Der Niedergang der Sowjetunion ist für viele bis heute eine Schmach. Auch deshalb sei die russische Fahne am Pol «etwas für die Seele», wie es der deutsche Seerechtsprofessor Uwe Jenisch bezeichnet. Und für den Blitz-TV-Mann Privalikhin ist die Auseinandersetzung um den Nordpol «die Jagd auf einen Leckerbissen», dessen Fülle und Reichtum alle anlocke.

Sich selbst beweisen

«Wir müssen immer gewinnen, das ist Teil unserer Kultur», sagt der Fischer Wassili Galujew. Der 36-Jährige ist Anfang der neunziger Jahre nach Murmansk gekommen und fährt auf einem Fischtrawler durch die Barentssee. Er und sein Bruder, der ein eigenes Boot besitzt, haben den Niedergang der Fischindustrie überlebt. Heute leben sie wieder ganz gut. Es gibt genügend Fisch vor Murmansk, vor Nowaja Semlja oder noch weiter nördlich. Das Rennen um den Nordpol sieht Galujew als «new business», eine Aufgabe, an der sich Russland beweisen könne. Nach dem Weltkrieg, dem Mond und den Sternen nun eben die Ressourcen des Pols. Auf hoher See hörten er und sein Bruder im Radio von der Titankapsel mit der russischen Fahne, die 2007 von zwei U-Booten in 4261 Meter Tiefe am Nordpol gesetzt wurde. Darauf hätten sie einen Schnaps getrunken. Natürlich war jene Expedition von Murmansk aus gestartet und am steinernen Gleichmut des «Aljoscha» vorbeigekommen. Gelacht hatten sie damals und weitere Schnäpse folgen lassen.

Umstrittene Forderungen

In einer Studie im Jahr 2000 schätzte die wissenschaftliche Behörde des United States Geological Survey, dass sich unter dem Polarmeer rund ein Viertel der globalen Reserven an fossilen Brennstoffen befindet. Konservativere Schätzungen sprechen von zehn Prozent. ExpertInnen glauben, dass in den nächsten Jahren die Territorialansprüche am Nordpol eskalieren könnten – besonders seit die wirtschaftliche Ausbeutung der Ressourcen durch den dramatischen Rückgang des Arktiseises immer einfacher wird.

So stellte die russische Föderation 2001 bei der zuständigen Uno-Kommission einen Antrag auf Zuerkennung grosser Gebiete der Barents- und der Beringsee. Das beanspruchte Gebiet umfasst eine Fläche von rund 1,2 Millionen Quadratkilometern, beinhaltet den geografischen Nordpol – und schätzungsweise zehn Milliarden Tonnen fossiler Brennstoffe. Etliche Arktis-Anrainerstaaten protestierten: Auch Norwegen, Kanada, die USA und Dänemark bemühen sich seit Jahren um die Ausweitung ihrer Einflusszone.

Gasförderung: Die norwegische Variante

Das russische Erdgasvorkommen Shtokman und das norwegische Erdgasfeld Snöhvit (Schneewittchen) befinden sich in der gleichen, durch das verstärkte Abschmelzen des Polareises zugänglicher gewordenen Region der Barentssee – doch damit enden die Gemeinsamkeiten schon.

So ist der Umfang der geschätzten Ressourcen von Snöhvit nicht einmal halb so gross wie derjenige von Shtokman. Die Gasfelder von Snöhvit, 1984 entdeckt, wurden 2001 erschlossen, seit 2007 wird gefördert, die Anlagen wurden seitdem noch ausgebaut. Shtokman wurde 1988 entdeckt. Laut der Betreiberfirma Gazprom wird der Beginn der Förderung auf frühestens 2016 geschätzt.

Snöhvit liegt 140 Kilometer nordwestlich von Hammerfest. Der norwegische Erdölkonzern Statoil fördert dort Erdgas und Gaskonzentrat mit Unterwasserplattformen und transportiert es durch eine Pipeline zur kleinen Insel Melköya vor der Küste von Hammerfest. Dort wird es in der ersten europäischen Gasverflüssigungsanlage weiterverarbeitet.

Seit der Inbetriebnahme 2007 musste die Produktion wegen technischer Probleme mehrfach unterbrochen werden. Zudem kam das Projekt in die Kritik, da zu Beginn überflüssiges Gas, das nur mit grossem Aufwand aufgefangen werden kann, abgefackelt wurde. Das setzte eine Million Tonnen Kohlendioxid, Stickoxide und Russ frei. Seit April 2008 wird das Kohlendioxid nun unterirdisch gelagert.

Das Snöhvit-Projekt gilt heute als ein Musterbeispiel der Offshore-Gasförderung: Ein Muster sowohl für Probleme als auch für Lösungen. So fanden fünf Jahre vor Baubeginn in der Gemeinde Hammerfest Informationsveranstaltungen und Anhörungen zum Snöhvit-Projekt statt. Die Bevölkerung wurde dabei auch zu ihren Wünschen befragt und ihre Anregungen von der Politik und der Betreiberfirma aufgenommen.



* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 26. Mai 2011


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