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Eisfreier Nordpol in Sicht

Wasserflächen des Polarmeers nehmen mehr Wärme auf - Tauprozess verstärkt sich

Von Wolfgang Pomrehn *

Jedes Jahr um Mitte September wird in der Nordpolregion der sommerliche Tiefstand beim Eis erreicht. Nirgendwo sonst auf dem Planeten ist derzeit der Klimawandel so offensichtlich wie in der Arktis. Das Polarmeer ist inzwischen über weite Strecken eisfrei, südlich des 80. Breitengrades sind kaum noch Eisfelder auf dem Meer anzutreffen.

Noch in den 1990er Jahren taute das Eis selbst auf dem Höhepunkt des Sommers nur in einigen Küstengewässern Sibiriens und Alaskas. Doch derzeit kann man sogar mit einem Segelboot ohne besonderen Eisschutz vom Atlantik bis in den Pazifik fahren, wie kürzlich erstmalig ein schwedisches Team vorführte. Im Durchschnitt der Jahre 1979 bis 2008 war das Nordmeer Anfang September mit 4,766 Millionen Quadratkilometern Eis bedeckt, derzeit sind es nur noch 2,377 Millionen. Weniger als die Hälfte des Üblichen und mehrere 100 000 Quadratkilometer unter dem bisherigen Minusrekord. Und das, obwohl die Sommersaison noch nicht zu Ende ist. Das Eis wird voraussichtlich noch bis Mitte September weiter tauen. Erst kurz vor Herbstanfang, wenn die Sonne immer tiefer steht und die Nacht an den Pol zurückkehrt, beginnt für gewöhnlich die Eisfläche wieder zu wachsen.

Viele Wissenschaftler sind besorgt. Peter Wadhams, der an der Universität Cambridge im Vereinten Königreich Physik der Ozeane lehrt und einer der Veteranen der Arktisforschung ist, beschrieb kürzlich gegenüber dem britischen Sender BBC die Situation: »Das Eisvolumen ist in diesem Sommer nur noch ein Viertel dessen, was es vor 30 Jahren zu sein pflegte. Das ist das Vorspiel zu seinem endgültigen Zusammenbruch.« In den 1970er Jahren war das Eis auch im Sommer auf weiten Teilen des arktischen Ozeans im Schnitt fünf Meter dick. Diese Stärke verhinderte, dass es sich im Sommer trotz der rund um die Uhr scheinenden Sonne gänzlich auflösen konnte. Heute findet man derart mächtige Eisflächen nur noch in einem sehr kleinen Gebiet nördlich Grönlands und der benachbarten kanadischen Inseln.

Wadhams hatte bereits Mitte der 1990er Messungen der Eisdicke per Echolot von einem britischen U-Boot aus angestellt und diese mit ähnlichen Daten aus den 1970ern verglichen. Das Ergebnis: Die Mächtigkeit der Eisdecke war da bereits um 40 Prozent zurückgegangen. Alles spricht inzwischen dafür, dass schon zu Beginn des nächsten Jahrzehnts, vielleicht sogar früher, das Meereis im Sommer vollständig verschwinden wird.

Was wären die Folgen? Sicher ist, dass die globale Erwärmung erheblich verstärkt wird. Wadhams rechnet gegenüber der BBC vor, dass der unmittelbare Effekt den globalen Treibhausgasemissionen von 20 Jahren entsprechen wird. Bisher hat das Eis im Sommer rund 60 Prozent der Sonneneinstrahlung direkt in den Weltraum zurückgeworfen. Das offene Meer nimmt hingegen 97 Prozent der Energie auf. Das fehlende Eis sorgt also dafür, dass mehr Wärmeenergie im Ozean gespeichert und später an die Atmosphäre und damit auch an die umliegenden Regionen abgegeben werden kann. Dort taut dann der seit zum Teil über eine Millionen Jahre gefrorene Boden auf, wodurch weitere Treibhausgase entweichen und eine unheilvolle Kettenreaktion angestoßen wird. (Siehe Randspalte.) Fatalerweise scheint das Eis inzwischen an einem Punkt, wo sich der Tauprozess selbst verstärkt. Die Sonne kann bereits seit Ende Juli immer größere Wasserflächen erwärmen, die ihrerseits das Eis zusätzlich angreifen. Hinzu kommt, dass über dem offenen Wasser, wie Anfang August geschehen, Stürme das Meer aufwühlen und wärmeres Wasser aus der Tiefe an die Oberfläche befördern können, was das Tauen zusätzlich befördert. Im Polarmeer gibt es nämlich die ungewöhnliche Situation, dass sich kaltes Wasser über warmes legen kann, weil es vergleichsweise wenig Salz enthält. Nur ein kräftiger Sturm kann diese stabile Schichtung durchbrechen.

Inzwischen werden auch erste Auswirkungen auf das Wetter in den gemäßigten Breiten vermutet. (Siehe Interview) Die wetterbestimmende westliche Strömung hat sich dort bereits nachweisbar abgeschwächt. Eine erste Auswirkung davon könnte die extreme Hitze 2010 in Russland gewesen sein, die mit verheerenden Waldbränden einher ging.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 07. September 2012


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