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Raus aus der Pleite

Von Argentinien lernen: 2002 endete die neoliberale Wirtschaftspolitik im Staatsbankrott. Der Weg aus dem sozialen Chaos war steinig

Von Gaby Weber *

Anfang 2002 geschieht, was passieren musste: die argentinische Regierung erklärt ihre Zahlungsunfähigkeit (»Default«) und hebt die Parität des Pesos zum US-Dollar auf. Die Landeswährung wird abgewertet, die Inflation galoppiert, und Importe werden gestoppt, Medikamente, Rohstoffe und Maschinen werden nicht mehr eingeführt. Der Handel weiß nicht mehr, zu welchem Preis er seine Waren verkaufen soll, die Wirtschaft steht praktisch still. Die Banken verbarrikadieren sich hinter dicken Stahlplatten, draußen hämmern Bürger gegen ihre Scheiben und fordern die Rückgabe ihrer Dollar-Ersparnisse. Nur die letzten beiden Banken, die in den Vorjahren nicht privatisiert worden sind, Banco de la Nación und Banco de la provincia de Buenos Aires, operieren hinter Panzerglas. Der Internationale Währungsfonds (IWF) fordert ihren Verkauf – als Bedingung für frische Kredite. Anderenfalls drohe das Chaos. Doch die Regierung bleibt hart. Sie fürchtet, dass die neuen Eigentümer die Bürgschaften der zahlungsunfähigen Landwirte zwangsversteigern, dann würde die Pampa in ausländischen Besitz fallen. Viele Menschen verlieren erst ihren Job und dann ihre Wohnung. Um Essbares aufzutreiben, durchwühlen sie Mülltonnen. Die Mittelschicht tauscht Wertgegenstände auf improvisierten Märkten gegen Lebensmittel ein.

Lavagna lenkte um

Das Drama hat für die krisengeschüttelten Argentinier eine neue Qualität. Mitten im Default kommen und gehen Regierungen, die Macht haben die Straße und die Basiskomitees. Es ist der 2002 berufene Wirtschaftsminister Roberto Lavagna, der die Krise innerhalb weniger Jahre meistern wird. Er handelte mit den Gläubigern einen Schuldenschnitt aus und gab die eingefrorenen Sparguthaben frei. Unter Lavagna wuchs das Bruttoinlandsprodukt um jährlich acht Prozent.

Bis zur Zahlungsunfähigkeit galt die Regierung in Buenos Aires als Darling des IWF. 1989 war der Peronist Carlos Menem an die Regierung gelangt und hatte die Wohltaten des Neoliberalismus verkündet. Um die Inflation zu bändigen, koppelte er den Peso an die US-Währung und privatisierte die Staatsbetriebe, die Energie, die Telekommunikation, das Wasser, die Fluggesellschaft und das Rentensystem. Viel Geld floss damals an den Rio de la Plata, was Menem half, die vom IWF verordnete Kürzungspolitik durchzuhalten und seine Klientel bei Laune zu halten. Viele verdienten an den Privatisierungen, Anwälte, Notare, Banken und die Politiker. Auch der Peronist Néstor Kirchner, in den 90er Jahren Gouverneur in Santa Cruz, unterstützte die Politik Menems, der bis Dezember 1999 das Land führte. Der IWF lobte das Modell in den höchsten Tönen und übersah, dass die Industrie nach der Senkung der Einfuhrzölle nicht mehr konkurrenzfähig war und ihre Pforten schloss. Er übersah auch, dass Menems restriktive Geldpolitik nur durchzuhalten war, weil die Landesfürsten eigenes Geld ausgaben, die »Patacones«, und das noch vor dem Staatsbankrott.

Ersatzgeld eingeführt

Als »Abu Taka« (Vater des Fensters) bezeichnete man im Mittelalter auf arabisch bestimmte spanische Münzen mit einem fensterartigen Wappen auf der Rückseite. Möglicherweise wurde daraus portugiesisch-spanisch »Pataca«, wie »Peso«, für ein Geldstück von geringem Wert. Argentinien gab zum ersten Mal 1881 Patacones aus, nur noch Münzen aus Silber, nicht mehr aus Gold. Numismatiker in aller Welt schwärmen noch heute von ihnen. Im August 2001 gab sogar die reiche Provinz Buenos Aires Patacones aus, die »Letras de Tesorería para Cancelación de Obligaciones«, eine Art von Schatzbriefen. Nur so konnte sie ihre Beamten und Lieferanten bezahlen. Diese Parallelwährung galt als »kleineres Übel« und sollte mit sieben Prozent des Nominalwertes verzinst werden. Die Behörden ließen Patacones im Wert von umgerechnet knapp drei Milliarden Dollar drucken. »Wer sein Gehalt nicht in Patacones kassieren will, kann ja die Gerichte bemühen«, erklärte der Gouverneur, »aber ich habe keine Pesos, um ihn damit zu bezahlen«. Zähneknirschend nahmen seine Angestellten, Richter und Direktoren dieses Ersatzgeld entgegen, das nur in der Provinz galt. Beim Anfassen machte man sich wegen der schlechten Druckerschwärze die Finger schmutzig. Aber mit ihm konnten Steuern und Mieten gezahlt werden, Supermärkte und Handwerker akzeptierten es notgedrungen als Zahlungsmittel, es zirkulierte in Restaurants und beim Friseur. Ohne diese Liquiditätsspritzen wäre die Wirtschaft gelähmt worden. Nur Benzin und importierte Waren konnte man damit nicht bezahlen, ebensowenig die Telefonrechnung, da Telecom und Telefónica bei den Privatisierungen feste Gewinnrückführungen in Dollars ausgehandelt hatten.

Nach dem offiziellen Beginn der Staatspleite Anfang 2002 gaben zusätzlich die Tauschmärkte eigene Wechsel aus, die wie die Patacones den Handel, der sonst komplett zusammengebrochen wäre, am Leben halten sollten. Die Regierung warf die Geldpresse an und führte auch für die Produkte der privatisierten Unternehmen Preiskontrollen ein. Viele wurden wieder verstaatlicht, die private Rentenkasse brach von selbst zusammen. Der Nahverkehr und die Grundnahrungsmittel wurden subventioniert und sorgen bis heute für bezahlbare Preise. Bereits ab 2003 tauschten die Banken diese Schuldscheine wieder in »richtige« Pesos um, ab 2006 sogar ohne Abschlag und mit den ausgewiesenen Zinsen. Heute zirkuliert in Argentinien kein Ersatzgeld mehr.

2005 folgte der im Mai 2003 zum Präsidenten gewählte Néstor Kirchner dem brasilianischen Beispiel, zahlte dem IWF 9,5 Milliarden Dollar Restschulden zurück und verbat sich jede weitere Einmischung in die Angelegenheiten des Landes.

Natürlich leidet die argentinische Volkswirtschaft unter zahlreichen Problemen, eines davon sind die Hedgefonds (»Geierfonds«), die den Schuldenschnitt seinerzeit nicht akzeptiert haben. Mit Hilfe des Urteils eines New Yorker Richters versuchen sie, argentinisches Staatseigentum im Ausland beschlagnahmen zu lassen. Die Regierung hätte genügend Finanzmittel, um diese Spekulanten auszuzahlen. Sie hat dies bislang verweigert, nicht zuletzt, um künftige Erpresser nicht zu ermuntern.

* Aus: junge Welt, Montag, 13. Juli 2015


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