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Bouteflikas Machtdemonstration

Algeriens Machthaber fürchten das Wiederaufbrechen des ungelösten Konflikts im eigenen Land

Von Roland Etzel *

Spätestens seit der Geiselnahme vom Donnerstag ist Algerien voll in den »Mali-Konflikt« involviert. Angesichts der Geschehnisse im größten Land Afrikas in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten durfte das niemanden überrascht haben.

Der französische Kriegseinsatz in Mali könne bei einem Scheitern »eine Kaskade von Explosionen in der ganzen muslimischen Welt auslösen«, hatte François Asensi, der Sprecher der Linksfront, am Mittwoch in der französischen Nationalversammlung erklärt. Nur Stunden später bestätigte sich die Richtigkeit seiner düsteren Prophezeiung - in Malis Nachbarland Algerien überfielen islamistische Kämpfer ein Gasfördergebiet. Trotz rücksichtslosen Vorgehens der algerischen Armee gegenüber Geiseln wie Geiselnehmern schien es den hochgerüsteten regulären Streitkräften aber auch am Freitag noch nicht gelungen zu sein, die Situation zu beherrschen.

Die Geiselnehmer - mögen sie nun im Einvernehmen mit den Anti-Regierungs-Kombattanten in Mali handeln, was letztere bestreiten, oder auch nicht - haben mit dem Gasfeld in In Amenas eine Achillesferse des algerischen Staates getroffen (siehe Beitrag rechts). Deshalb war schon Militär dort stationiert, und deshalb auch zog die Regierung wohl nicht einen Augenblick lang Verhandlungen in Erwägung.

Ein anderes Vorgehen war allerdings kaum zu erwarten. Seit der Unabhängigkeit 1962 führt die zur Staatspartei gewordene Nationale Befreiungsfront (FLN) Algeriens einen gnadenlosen Krieg gegen jegliche, in ihren Augen nicht hinnehmbare Bestrebungen zur Islamisierung der Gesellschaft. 1991 war der Islamischen Heilsfront (FIS) nach der ersten Runde der Parlamentswahlen ein deutlicher Wahlsieg dennoch nicht mehr zu nehmen. Doch die FLN und ihre Armee verübten praktisch einen Putsch von oben, indem sie die Wahl annullierten und die FIS verboten. Die revanchierte sich mit blutigen Attentaten. In den folgenden zehn Jahren starben in diesem verdeckten Bürgerkrieg mindestens 120 000 Menschen.

Zwar herrscht derzeit eine Art Waffenstillstand - die Islamisten stellten ihre Attentate ein, und die FLN akzeptierte eine (Minderheits)-Partei im Parlament, aber ausgestanden ist der Konflikt damit gewiss nicht, zumal in den Nachbarstaaten Libyen und Tunesien gerade konservativ-islamisch orientierte, der FIS also ähnliche Parteien die Macht übernommen haben. Das bedeutet eine erhebliche Schwächung der FLN; vorerst potenziell. Denn noch ist die Fassade der FLN-Herrschaft intakt, und die Algerier sind zwar der Partei und deren Herrschaftsanspruch gewiss überdrüssig, fürchten aber wohl noch mehr eine Rückkehr der blutigen 90er.

Andererseits erleben sie täglich, dass die einst auf Grund ihrer Opfer im Unabhängigkeitskampf von der Mehrheit des Volkes getragene Befreiungsfront nur noch ihren glorreichen Namen spazieren trägt, spätestens seit Ende der 80er Jahre aber zu einem reinen Privilegien-Sicherungsverein verkommen ist. Der Konflikt mag derzeit verschüttet sein, ausgeräumt ist er nicht. Deshalb sollte es wohl ein Zeichen von Stärke sein, In Amenas sofort zu bombardieren. Präsident Abdelaziz Bouteflika wollte demonstrieren, dass er - ganz anders als sein Amtskollege im benachbarten Mali - über einen funktionierenden militärischen Machtapparat verfügt. Es war auch eine Retourkutsche gegen die Franzosen. Erst vor wenigen Wochen hatte deren Präsident François Hollande seinem Kollegen Bouteflika Abstimmung im Vorgehen in Mali zugesichert.

Das geschah bei der jüngsten Invasion erkennbar nicht. Nun zeigte Bouteflika, dass er sich stark genug fühlt, die vermeintlichen Partner in Westeuropa brüskieren zu können, die USA eingeschlossen. Auch sie erhielten keine Vorwarnung (für ihre Bürger in Algerien), geschweige denn die Chance, etwas koordinieren zu können.

Bouteflika hat wohl richtig spekuliert. Das Grummeln ob der vielen toten westlichen Geiseln war zwar vernehmlich, blieb aber unterhalb der offiziellen Schwelle. Man weiß: Stellt man Bouteflika in Frage, wackelt eine wichtige Säule der Energiezufuhr. Fiele sie aus, wäre das - nachdem man sich beim Lieferanten Iran selbst aus dem Rennen genommen hat - kaum zu kompensieren. Was immer Hollande als Grund für die Intervention angibt: Es geht nicht zuletzt um Gas, Öl, auch um Uran in Algerien, Mali, Niger, ganz Nordafrika.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Januar 2013


Ein Auge für den "Heiligen Krieg"

Mokthar Belmokhtar kämpfte als Teenager in Afghanistan und zieht nun bei der "Brigade der Vermummten" die Fäden

Von Martin Ling **


Der 40-jährige Algerier Mokthar Belmokhtar schaut bereits auf eine lange Laufbahn als »Heiliger Kämpfer« zurück. Sie begann in den 90er Jahren in Afghanistan. Nun gilt er als der Drahtzieher der Entführung auf dem Gasfeld in Algerien.

Ein direkt mit Blut unterschriebenes Bekennerschreiben gibt es nicht: Doch die Gruppe, die sich zu der Kommandoaktion auf dem Gasfeld im algerischen In Amenas bekannte, »Muwaqijun bi al Dam«, heißt zu Deutsch eben so: »Die mit dem Blut unterschreiben.«

Die Gruppe gehört zur »Brigade der Vermummten« von Mokhtar Belmokhtar, einem 1971 im ostalgerischen Ghardaia Geborenen, der sich schon früh dem »Heiligen Krieg« verschrieben hat. Im Wendejahr 1989 aufgestachelt von der Ermordung des pakistanischen islamistischen Ideologen Abdullah Yusuf Azzam, der den defensiven und offensiven Dschihad (Heiliger Krieg) gepredigt hat, zog es Belmokhtar nach Afghanistan. Dort soll er bei einer Al-Qaida-Truppe das Kriegs- und Terrorhandwerk gelernt haben und bei Auseinandersetzungen mit Regierungssoldaten ein Auge verloren haben.

Seine in Afghanistan erworbenen »Fähigkeiten« bringt er seit seiner Rückkehr nach Algerien 1993 ausgiebig zur Anwendung. Dort stieg er schnell in der Hierarchie der Terroristen auf und schloss sich 1998 der Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC) an, die sich später mit anderen salafistischen Gruppierungen zur Al-Qaida im Maghreb (AQMI) zusammenschloss, um konzertiert den »Heiligen Krieg« voranzutreiben.

Belmokhtar machte schon öfter Schlagzeilen. Er soll unter anderem für den Tod von vier Franzosen am Heiligen Abend 2007 in Marokko verantwortlich sein, der zur Absage der Rallye Paris-Dakar führte. Geld - auch für Waffenkäufe - machte er unter anderem mit dem Zigarettenschmuggel, der ihm den Beinamen Mr. Marlboro einbrachte. 2008 meldete »Le Soir d'Algérie«, Belmokhtar habe sich durch Heirat mit vier Frauen verschiedener Stämme im Norden Malis eine weite Einflusszone geschaffen. Ein Jahr später nahm Belmokhtars Brigade in Mali vier europäische Geiseln. Die Erstürmung in In Amenas ist der vorläufige Höhepunkt seiner Terrorkarriere, so es ihm gelungen sein sollte, wieder zu entkommen. Sein weiterer Spitzname »Der Unfassbare« lässt es vermuten.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Januar 2013


Geiseln bei "Befreiungsaktion" getötet

Kritik an algerischem Kommandounternehmen. Dritte Bundeswehr-»Transall« für Mali-Krieg ***

Eine Woche nach ihrer Eroberung durch Islamisten hat die malische Armee die Stadt Konna komplett zurückerobert. Die Armee habe seit Donnerstag die »vollständige Kontrolle« über die zentralmalische Stadt, teilten die Armee am Freitag mit; Sicherheitskräfte und Einwohner bestätigten die Angaben. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) kündigte an, die Entsendung ihrer Eingreiftruppe für Mali zu beschleunigen.

Deutschland hat für den Mali-Einsatz eine dritte »Transall«-Transportmaschine auf den Weg geschickt. Wie ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Freitag in Berlin mittelte, werden mit dem Flugzeug aus Süddeutschland »bestimmte Ersatzteile« nach Frankreich gebracht, wo bereits zwei weitere Maschinen der Bundeswehr eingetroffen sind. Sie sollen den Militäreinsatz in dem westafrikanischen Land logistisch unterstützen.

Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen rechnet in den kommenden Monaten mit 700000 weiteren Flüchtlingen aus dem Norden Malis. Die Organisation stelle sich darauf ein, daß durch die anhaltenden Kämpfe 300000 Menschen in andere Regionen des Landes und mehr als 400000 in die Nachbarländer flüchten werden, sagte die Sprecherin, Melissa Fleming, am Freitag in Genf.

Dem algerischen Kommandounternehmen zur Befreiung Hunderter Geiseln in der Sahara ist eine schnelle Beendigung des Wüstendramas nicht gelungen: Auch mehr als 24 Stunden nach dem gewaltsamen Befreiungsversuch am Erdgasfeld In Amenas seien am Freitag rund 60 Ausländer noch immer in der weitläufigen Anlage festgehalten worden oder würden vermißt, berichtete ein Einheimischer. Die islamistischen Attentäter drohten mit neuen Angriffen auf ausländische Einrichtungen in dem Land. Die algerische Führung erntete international scharfe Kritik für die tödliche Befreiungsaktion. Bei der Erstürmung des Erdgasfeldes sollen 30 Geiseln getötet worden sein, darunter mindestens sieben Ausländer.

*** Aus: junge Welt, Samstag, 19. Januar 2013


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