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Schreiben gegen die bleierne Stummheit der algerischen Frauen

Assia Djebars Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

Die Rede der Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels 2000 dokumentieren wir im Folgenden in Ausschnitten. Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von Beate Thill. Die vollständige Fassung ist beim Börsenverein des deutschen Buchhandels erhältlich.

I.

Wenn ich heute vor Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für das Jahr 2000 entgegennehme, kommen mir plötzliche Zweifel: Ich fürchte, unter dem symbolischen Gewicht einer so ehrenvollen Auszeichnung ins Wanken zu geraten! Ich würde Ihnen gern als einfache Schriftstellerin gegenübertreten, die aus Algerien kommt, einem Land des Aufruhrs und der Zerrissenheit bis heute. Ich wurde in einem muslimischen Glauben erzogen, der seit Generationen der Glaube meiner Vorfahren war, der mich emotional und geistig geprägt hat und gegen den ich mich, eingestandenermaßen, auflehne wegen seiner Verbote, aus denen ich mich bisher nicht völlig lösen konnte. Ich schreibe also, doch auf Französisch, in der Sprache des ehemaligen Kolonisators, die jedoch, und zwar unverrückbar, zur Sprache meines Denkens geworden ist, während meine Sprache der Liebe, des Leidens und auch des Gebets (manchmal bete ich) das Arabische, meine Muttersprache, ist. Und da ist noch die berberische Sprache meiner Heimatregion, die im ganzen Maghreb gesprochen wird, die Sprache Antineas, der Königin der Tuareg, bei denen lange das Matriarchat herrschte, die Sprache Jugurthas, der den Widerstandsgeist gegen den römischen Imperialismus zum Äußersten führte, eine Sprache, die ich nicht vergessen kann, deren Rhythmus mir stets gegenwärtig ist, in der ich, ohne es zu wollen, in meinem Innern "nein" sage; als Frau und vor allem in meinem andauernden Bemühen als Schriftstellerin.

Das Berberische, so scheint mir, ist die Sprache der Unbeugsamkeit. Man könnte dahinter den Wunsch nach Verwurzelung oder Wiederverwurzelung - sozusagen den Wunsch nach einer Genealogie - vermuten,aber mir ist klar geworden: Wäre ich Keltin, Baskin oder Kurdin, es wäre für mich nicht anders. An gewissen wichtigen Stationen seines Lebenswegs "Nein" sagen? Etwa, wenn die erste Sprache sich aufbäumt und im Innern vibriert, weil die Übermacht des Staates, der Religion oder offener Unterdrückung alles daransetzt, diese erste Sprache auszulöschen. Dieses "Nein" könnte halsstarrig scheinen, als ein Rückzug oder auch als Verweigerung gegenüber einem verführerischen kollektiven Trend oder einer Mode. Ein instinktives "Nein" zum Schutz des eigenen Selbst, das fast sinnlos wirkt, wie ein Ausdruck eines Stolzes, der im Abseits bleiben möchte. Im Grunde geht es aber um mehr: um die Integrität des kulturellen und moralischen Ich, um einen Vorbehalt, der weder bedacht noch rational ist, kurz, um ein "Nein" des Widerstands, das manchmal in einem aufkommt, bevor der Verstand eine Rechtfertigung dafür gefunden hat. Ja, dieses dauerhafte innerliche "Nein", ich höre es in mir, in berberischer Form und berberischem Klang? Und es erscheint mir als Fundament meiner Persönlichkeit und meiner literarischen Dauerhaftigkeit....

II.

... Im Maghreb der Kolonialzeit - er war konservativer als die städtischen Gesellschaften Ägyptens und des Nahen Ostens - mussten meine Kusinen und nahen weiblichen Verwandten von der Heiratsfähigkeit an bis zum beginnenden Alter in Klausur leben. Es ging darum, die Frauen vor dem Auge, dem Kontakt, dem Zugriff des Fremden (Nicht-Muslimen) zu verstecken. Was im Algerien des 19. Jahrhunderts als eine Strategie scheinen konnte, um die Identität zu bewahren, war zu einer fast lückenlosen Unterdrückung des weiblichen Geschlechts geworden. Der Drang nach Worten, die ich schreibe, den anderen oder einfach dem Himmel zuwerfen möchte, entsteht bei mir also in den Füßen, den Beinen, und in meinem freien Blick, der auf die anderen gerichtet ist. ... Zweifelsohne ist das die Rache einer ganzen Ahnenreihe, die hinter mir steht, all die Vorfahrinnen, die mit zwölf Jahren eingeschlossen, dann verheiratet wurden und vor Sehnsucht und Groll im Schatten der Balkone erstickten, bis sie das respektable Alter von fünfzig oder sechzig Jahren erreicht hatten! Auf meinem Weg als Schriftstellerin erfasste mich einmal ein Schwanken, ein tiefgreifender Selbstzweifel, der mich lange Zeit schweigen ließ. Zehn Jahre publizierte ich nichts, aber ich konnte mein Land durchstreifen - für Reportagen, Befragungen, schließlich für Filmaufnahmen. Ich war erfüllt von dem Wunsch, mit den Bäuerinnen zu sprechen, mit Dorfbewohnerinnen aus Regionen mit unterschiedlicher Tradition, wie auch von dem Bedürfnis, zum Stamm meiner Mutter zurückzukehren, zwölf Jahre nach der Unabhängigkeit.

"Im Staub sitzen, am Straßenrand", so habe ich in meinem Essay "Ces voix qui m'assičgent" jenen Abschnitt meines Lebens überschrieben, in dem ich über die visuelle Chronik eines Alltags, der sich deutlich wandelte, einen Film im Rhythmus der weiblichen Erinnerung drehte - mit Rückblenden, wenn meine Großmutter vom Widerstand der kriegerischen Vorfahren erzählte oder von frischen Erinnerungen an die Kämpfe von gestern. ...

III.

Walter Benjamin, der Paris so gut kannte, er hatte die Stadt schon 1913 bereist und verbrachte dann die 30er Jahre in ihr als politischer Flüchtling, hat gesagt, in Paris fühle sich ein Fremder immer zu Hause, weil man diese Stadt bewohnen könne, wie man seine vier Wände bewohnt. Er, der "Flaneur" schechthin, der als erster über die Pariser Passagen schrieb, hatte nur seltene und oberflächliche Kontakte mit Franzosen, das bezeugt Hannah Arendt, seine Freundin bis zum Schluss. Auch ich, die nun im Herzen des ehemaligen "Empire" lebte, hielt mich in einem gewissen Abstand von der französischen Gesellschaft, von der ich nur die Sprache übernahm. Diese Sprache des Schreibens war zu meinem einzigen Territorium geworden, auch wenn ich mich eher an ihren Rändern aufhielt. Als wenn ich nackt von meiner Heimat aufgebrochen wäre und nur sie hätte, um mich zu umhüllen! Sie als mein einziger Mantel. Bis dahin war die französische Sprache für mich eher eine Art Schleier gewesen, zumindest in meinen frühen Romanen, Fiktionen, die unter Meidung alles Autobiografischen um die Orte der Kindheit herumschlichen, von ihrer Sonne geblendet wurden und sich dann dem Halbschatten der traditionellen Häuser näherten.

Ich hatte beschlossen, "im Angesicht" und "im Innern" meiner Heimat zu schreiben, gleichsam aus einer nahen Ferne. Dazu brauchte ich wie der Fotograf, der zurücktreten muss, um seine Motiv nicht zu zerstören, eine sehr weite Perspektive. Mit oder trotz der sogenannt "fremden" Sprache musste ich an mein Land alle Fragen stellen, so war meine Überzeugung, Fragen zu seiner Geschichte, seiner Identität, zu seinen Wunden, seinen Tabus, zu seinen verborgenen Schätzen und zur kolonialen Enteignung während eines ganzen Jahrhunderts. Dabei ging es nicht um Protest, nicht um Anschuldigungen. Wir hatten ja die Unabhängigkeit errungen, zu einem hohen Preis! Es ging lediglich um die Erinnerung, um diese Tätowierungen durch Revolte und Kampf. Was in unsere Herzen, ja, in den Glanz unseres Blicks unauslöschlich eingegraben war, galt es festzuhalten, zu bewahren, und sei es in der französischen Literatur und in lateinischer Schrift.

Anfang der 80er Jahre nach Paris zurückzukehren und aus diesem Drang nach Erinnerung heraus zu schreiben, das schien ganz und gar nicht brandaktuell - zumindest wenn man sich am letzten Schrei der Pariser literarischen Zirkel orientierte. Was bewegte mich damals eigentlich, angesichts der französischen Kritik, die, wie ich meine, traditionell war und in den Texten der Autoren "aus den ehemaligen Kolonien" nur nach Schlüsseln für eine unmittelbar soziologische Interpretation suchte? Bewegte mich ein verspäteter Nationalismus? Gewiß nicht, es war nur die Sprache. Nur die französische Sprache, in die ich bei Tag und Nacht eintauchte. Doch um in ihr meine Besonderheit als Algerierin besser auszudrücken (im Autobiografischen, an das ich mich nun endlich herantraute). Ich musste diese Sprache, in der ich schrieb, in gewisser Weise um das erleichtern, was an Unheil auf ihr lastete, um ihre zwiespältige, dunkle Vergangenheit in Algerien. Wegen dieser Sprache waren früher schließlich das Arabische und Berberische aus den Schulen und der Öffentlichkeit verbannt worden. Mein Ziel war, die bleierne Stummheit der algerischen Frauen spürbar zu machen, die Unsichtbarkeit ihrer Körper, denn auch sie kehrte zurück, zusammen mit einer rückschrittlichen, nach außen abgeschottetenTradition. Dazu musste ich zunächst als Schriftstellerin (die Aufgabe eines jeden Schriftstellers liegt in der Sprache) die französische Sprache, die mit den Besatzern 1830 nach Algerien eingedrungen war, packen und auswringen, verzeihen Sie mir diese Metapher, und all ihren schädlichen Staub herausschütteln. ... Während der gewälttätigen vierzig Jahre der Eroberung - die ich den "Ersten Algerienkrieg" nenne - war diese Sprache auf Wegen vorgedrungen, die mit Blut, Massakern und Vergewaltigungen befleckt waren. Sie musste mit ihren eigenen Worten gewissermaßen von innen nach außen gekehrt werden. In der auf die Eroberung folgenden scheinbaren Unterwerfung, im sogenannten "befriedeten Algerien" zwischen 1920 und 1930, begannen die Wörter, die Figuren und Mythen sowie das in allen Farben Schillernde dieser Sprache in den Schulen Einzug zu halten - die glasklare Sprache von Descartes, die reine und scharfe Sprache von Racine, die Volten Diderots und die Pracht Victor Hugos - all diese Juwelen begannen sachte zu glänzen. Einige wenige dieser Schulen waren den Kindern vorbehalten, die man "Eingeborene" nannte, dazu gehörte auch die Klasse meines Vaters, der Lehrer in einem Dorf in Mitidja war. ...

"Fantasia" ist daher eine doppelte Autobiographie, in der die französische Sprache zur Hauptfigur wird, in einer unerwarteten Personifikation, die mir erst später bewusst wurde. Ich rief die vergessenen Szenen der Kämpfe zwischen Algeriern und Franzosen wieder wach, legte daneben Splitter aus meiner Kindheit, in denen die französischen Wörter bis in die Harems schlüpfen, wie Strahlen des Lichts und der Revolte. ... Hätte ich das gegenwärtige Ersticken der Frauen spürbar gemacht, das noch langsamer, noch unheilbringender war als das buchstäbliche Ausräuchern der rebellierenden Stämme in ihren Zufluchtshöhlen in den Bergen rund um meine Stadt, das einst von den Eroberern verfügt wurde? "Ich muss auf alle Fragen antworten!" wiederholte ich mir. Oder wenigstens ihr Bedrängendes zum Ausdruck bringen: für mich, für die Frauen, die wie ich hatten fortgehen müssen, um Sauerstoff zum Leben zu haben - aber auch für die anderen Frauen, die Schweigenden, die Gedemütigten, die mit verglühtem Herzen gestorben waren, da sie um die Erniedrigung wussten. In diesem Ringen mit der Geschichte schrieb ich "Fantasia", danach "Schattenkönigin" und die übrigen Bände der Tetralogie über Algier. Als ich mich wie eine Immigrantin in einer Vorstadt von Paris niederließ, hatte ich mir nicht vorgestellt, dass ich mich in den folgenden Jahren mit den Wechselfällen, den Entladungen, dem Wahnsinn und dann ... mit der Gewalt und den tagtäglichen Morden befassen würde, wie wir sie in den Spalten der Tageszeitungen lesen konnten und die das Gesicht meines Landes verzerrten! Eine einsame, ohnmächtige Suche in meinen Büchern, meine Fragen wurden immer fassungsloser.

IV.

In der Sprache des Anderen schreiben, sie atmen, dennoch mit dem Ohr stets außerhalb ihres Raums bleiben, außerhalb der Schrift. Wie hätte ich anders die französische Sprache, ihren ursprünglichen Rhythmus, ihren Atem beugen können, wenn ich nicht, auch in einem Exil ohne Ende, die Verankerung in den mir nahen Stimmen bewahrt hätte - Stimmen des Zorns und der Sanftmut, barbarische und kehlige Stimmen, die vertrauten Stimmen aus meiner Kindheit an den Orten der Frauen, laut schallende Improvisationen der Besucherinnen von Heiligtümern, Stimmen der Sängerinnen und der Verzweifelten. ... Unaußerhalb des Französischen, daher ungezähmt wirkend, rebellisch: "Analphabetinnen" nannte man die Unbekannten um mich herum, als ich klein war, denn sie kannten nicht einmal das arabische Alphabet, außer auf den Amuletten die sie mir unter Bluse um den Hals hängten, während sie mich streichelten. "Sie sollen dich in der Schule beschützen." Gemeint war natürlich die Schule der Franzosen. Daher glaubte ich lange, dass die Reise durch die Nacht der Frauen mir die Kraft, die Energie, das zähe Vertrauen meiner Vorfahrinnen erschließen würde. Ich träumte davon, dass sie mir ihr Geheimnis des Überlebens weitergeben würden, wenn ich nur versuchte, den Lauf des Flusses zurückzuverfolgen, die zurückfließenden Wasser oder, anders ausgedrückt, das Aufgehen im Strom der mündlichen Überlieferung.

...



V.

Oktober 88 in Algerien. Eine Woche der Wirren in der Hauptstadt, ausgelöst von einer Jugend, die schon viel zu lange ohne Arbeit ist, zum Teil unter der Führung der Islamisten oder unter ihrem Einfluss steht. Nach einigen Tagen des Aufruhrs lässt der geschwächte algerische Präsident die Armee auf die unbewaffneten Demonstranten schießen. Es gibt mehrere hundert Tote! Eine Tragödie, die eine düstere Zukunft ankündigt. Gleich in den ersten Tagen war ich nach Algier geeilt, um meiner Tochter zur Seite zu stehen, die eben ihr Studium begann. Ich saß in einer Wohnung hoch über der Stadt fest und beobachtete mehrere schlaflose Nächte lang, wie die Panzer während der Ausgangssperre durch die Straßen der Hauptstadt fuhren! Ohne Kassandra sein zu wollen, konnte ich vorhersehen, dass die Fundamentalisten im folgenden Jahr ins Zentrum des politischen Geschehens zurückkehren würden. Sie würden sich gewiss mit diesen unschuldigen Toten schmücken, aber auch entschlossen ihre Karikatur eines ursprünglichen Islam durchsetzen wollen. ... Zunächst war die erste Folge des schrecklichen Dramas das Ende der Einparteienherrschaft - einer "Befreiungsfront", die seit 26 Jahren nichts mehr befreite - aber auch die Legalisierung einer religiösen politischen Partei, eine Maßnahme, die im Widerspruch zur Verfassung stand, denn in ihr war eine Trennung von Kirche und Staat zumindest formal garantiert! Ich kehrte nach Paris zurück, und, um nicht zu zerbrechen, beschloss ich, mich mit diesem ursprünglichen Islam zu befassen, nur mit Hilfe meiner Erfahrung als Historikerin. ... Über Nacht begann ich, im Jahr 632 nach Christi Geburt zu leben, in Medina, in dem Augenblick, als der Prophet Mohammed im Sterben liegt; die Probleme der politischen Nachfolge, schon der Reim der Spaltung; die Rolle der Ehefrauen und Töchter, des Sendboten, seiner Gefährten, der ersten Kalifen. Vor allen anderen, ganz vorne an die Bühne tretend, Fatima, die Tochter des Propheten, wie eine echte Antigone, mit ihrer Stimme des Leids, des klarsichtigen, bitteren Zorns, mit ihrem Protest. Der heftige Protest aller Frauen, der durch sie spricht! Ich tauchte ein in die Entzifferung der arabischen Chronisten Ibn Saad und Tabari, Wort für Wort, Kapitel für Kapitel. So wollte ich meine Muttersprache hören, in dieser Tönung, diesem Rhythmus, dieser Nüchternheit ... auch mit ihren Lücken. Wie der große Michelet in seiner Vision von der Geschichte Frankreichs schrieb: "Da war ein seltsames Zwiegespräch zwischen der alten Zeit und mir, zwischen mir, der sie wiedererweckte, und ihr, die wiedererstand." Ich schrieb "Fern von Medina", um mich der alten Zeit anzunähern, die wieder erstand, aber auch den Leidenschaften, dem freien und vielfältigen Sprechen der Frauen von Medina, ob sie nun unbedeutend waren oder bekannt, die aber diese islamische Geschichte überlieferten und in ihr handelten. Ich erinnere mich, ich hatte fast zwei Jahre an dem Buch geschrieben. Als ich Mitte Juni 90 im Haus meines Vaters das Wort "Ende" unter mein Manuskript setzte, erwachte ich mit einem Schlag wieder zur Gegenwart in Algier: drei Tage später siegten die Fundamentalisten des FIS tatsächlich bei den Kommunalwahlen! Mein Traum von einem offenen, egalitären Islam, so schien es mir jetzt, war aus meinen Worten erstanden wie eine Sandburg! ... Mein Buch wurde gleichzeitig in Algier und Paris veröffentlicht (auch das Verlagswesen begann, sich aus der Bevormundung durch den Staat zu befreien). In mehreren algerischen Städten und Universitäten habe ich es in Diskussionen verteidigt.

VI.

Wie soll ich von den acht Jahren des algerischen Wahnzustands sprechen, die folgten und auch in meinen Büchern Widerhall fanden? Wie von meinem Leben sprechen, das fortan dem Exil geweiht ist? Auch wenn es ein Exil in Bewegung ist! Vielleicht kann ich diesen Teil meines Lebenswegs in dem Titel zusammenfassen, den ich meinem Nachwort zu "Oran, langue morte" gegegeben habe - einer Chronik von Attentaten, von Angst und Schrecken, wie sie mir von Verwandten, von verlorenen oder wiedergefundenen Freunden berichtet wurden. Ich hatte in dem Nachwort die kurzen Sätze jener Menschen festgehalten? oder verwandelt? - die ich in jenem Frühjahr und Sommer 96 oft zufällig auf den Straßen von Paris antraf, es waren kurzatmig gesprochene Berichte von gewaltsamem Tod, von der Angst, von den Gräueln (eine Lehrerin wurde etwa vor ihren Schulkindern enthauptet) ... und wenn ich selbst diese Episoden schreibend nacherlebte, seufzte ich vor Ohnmacht, vielleicht auch vor Staunen über die Verbissenheit, dies alles festzuhalten, die Spur aufzuzeichnen. Denn tatsächlich wurde ich ungeduldig. Warum immer nur Tod? Warum über den Tod schreiben? "Das Blut", das hielt ich dort fest, "trocknet nicht in der Sprache!" Und ich drehte und wendete diese Metapher, vielleicht vergeblich. Um auf meine Weise aus der Falle herauszukommen. Denn die Schrift, damit meine ich das Geschriebene in jeder Literatur ebenso wie jede Form von erleuchtendem Sprechen, teilt die Trauer oder das Verbrechen nicht einfach mit.

Das Geschriebene ist ja keine wortreiche Inschrift auf einer Grabplatte, keine Projektion in den leeren Raum, damit einige tausend Exemplare mit schwarzen Ameisenspuren auf Papier in Umlauf sind, dem Tod wie ein Geschenkpaket zugeworfen. Nein, das Schreiben, dem ich mich in dem algerischen Unglück widme, ist ein Alarmsignal, ein Hilferuf (zur Hilfe für mich selbst?). Es ist die schwebende Zwiesprache mit dem Freund, auf den die Hacke niederging, in dessen Kopf die Kugel einschlug, während du weiterlebst, während du dich nach der kleinsten Einzelheit fragst, kurz bevor er oder sie, die du gekannt hast, zum Opfer, zur Leiche erstarrt sind, verstummt! Schreiben ist also ein Tanz mit Phantomen, und solange man selbst lebt, durchströmt einen das Bedürfnis zu erzählen als einziger Antrieb - es ist nicht einmal mehr die Sprache, sie könnte formlos werden, oder, warum nicht, eine Zeichensprache für Taubstumme: der roten Faden der Erzählung hält einen aufrecht, der Wille, etwas zu sagen oder der ungebärdige Wunsch, nicht zu vergessen. ...

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