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Nairobi ruft zum Hungergipfel

Konferenz soll Geld für Ostafrika organisieren / Jean Ziegler veröffentlicht unerwünschte Rede

Von Martin Ling *

Von Rom nach Kenia: Nach der Geberkonferenz am Sitz der Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) am Montag wird heute in Nairobi von der FAO ein erneuter Versuch unternommen, Geld für den akuten Kampf gegen den Hunger am Horn von Afrika zu mobilisieren. Dort sind rund zwölf Millionen Menschen vom Tod bedroht.

Der Gastgeber geht mit gutem Beispiel voran: Kenia, wo laut Welthungerhilfe neun Millionen Menschen auf sofortige Hilfe angewiesen sind, hat 34 Millionen Euro für die Bekämpfung der Hungersnot zugesagt. Damit liegt das bettelarme Land noch vor Deutschland, das seine Zusagen Zug um Zug erhöhte und das erste kümmerliche Versprechen über eine Million Euro von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrem Afrika-Trip inzwischen auf das Dreißigfache gesteigert hat. Der Afrika-Beauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke (CDU), hält eine weitere Aufstockung der deutschen Hungerhilfe für Ostafrika für denkbar. Die Bundesregierung werde es »nicht zulassen, dass dort Menschen sterben, wenn es wirklich nur am Geld liegt«, sagte er dem SWR. Sowohl im Auswärtigen Amt wie auch im Entwicklungsministerium gebe es noch »Töpfe« für weitere humanitäre Hilfe.

Niema Movassat hält die Zusagen der Bundesregierung angesichts der Dimension der Hungersnot für unzureichend: »Das ist menschenunwürdig und hat mit verantwortungsvoller Politik nichts mehr zu tun«, so das Mitglied im Bundestagsausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für die Fraktion DIE LINKE. Movassat fordert mindestens eine Verdopplung auf 60 Millionen Euro.

Der Bedarf ist immens. Die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen will bei der internationalen Geberkonferenz in Nairobi 1,1 Milliarden Euro einsammeln. Die Einberufung der Nairobi-Konferenz war erst am Montag während einer Dringlichkeitssitzung der FAO in Rom veranlasst worden.

Unterdessen wollen die Vereinten Nationen sobald wie möglich dringend benötigte Nahrungsmittel per Luftbrücke in die somalische Hauptstadt Mogadischu bringen. Die ersten Hilfslieferungen sollten entweder noch am Dienstag oder spätestens an diesem Mittwoch vom kenianischen Nairobi aus in das Nachbarland geflogen werden, sagte eine Mitarbeiterin des Welternährungsprogramms (WFP) der Nachrichtenagentur dpa in Addis Abeba. Dort sollen die Lebensmittel von vor Ort tätigen Nichtregierungsorganisationen und örtlichen Ausschüssen an die hungernde Bevölkerung verteilt werden

Passend zur bitteren Situation ein Vorfall, der die heute beginnenden Salzburger Festspiele überschattet. Jean Ziegler, Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates, sollte die Eröffnungsrede des europäisch bedeutsamen Festivals halten. Er ist jedoch vor Monaten ausgeladen worden. Seine geplante Rede (die er heute trotzdem, vor Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, in Salzburg hält) bezeichnet den kapitalistisch verursachten Hunger in Afrika und anderen Teilen der Welt als »tägliches Massaker, das in eisiger Normalität vor sich geht«.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Juli 2011


Die Hoffnung demokratischer Gegengewalt

Jean Zieglers Rede für Salzburg. Er durfte sie nicht vor denen halten, die von seinen Worten angeklagt und bloßgestellt werden **

Nach seiner Ausladung als Eröffnungsredner der Salzburger Festspiele veröffentlichte Jean Ziegler, Schweizer Soziologe und langjähriger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und derzeit Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats, seine Rede über die dramatische Lage der Hungernden in der Welt. Dass an seiner Stelle Joachim Gauck zur Eröffnungsrede geladen wurde, mag dem bürgerlichen Festspielpublikum gefallen. Uns dagegen gefällt Jean Ziegler besser.
Wir dokumentieren Zieglers Rede in einer gekürzten Version, wie sie von verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurde.


Jean Ziegler

Sehr verehrte Damen und Herren,

alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37 000 Menschen verhungern jeden Tag, und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe Weltfood-Report, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte.

Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.

Gestorben wird überall gleich. Ob in somalischen Flüchtlingslagern, Elendsvierteln von Karachi oder Slums von Dacca – der Todeskampf folgt immer denselben Etappen.

Bei unternährten Kindern setzt der Zerfall nach wenigen Tagen ein. Der Körper braucht erst die Zucker-, dann die Fettreserven auf. Die Kinder werden lethargisch, dann immer dünner. Das Immunsystem bricht zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und Infektionen der Atemwege verursachen schreckliche Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ihre Gesichter gleichen Greisen. Dann folgt der Tod. Die Umstände jedoch, die zu dieser tausendfachen Agonie führen, sind vielfältig und oft kompliziert.

Ein Beispiel: die Tragödie, die sich gegenwärtig, im Juli 2011, in Ostafrika abspielt. In den Savannen, Wüsten, Bergen von Äthiopien, Djibouti, Somalia und Tarkana (Nordkenia) sind zwölf Millionen Menschen auf der Flucht. Der Boden ist hart wie Beton. Neben den trockenen Wasserlöchern liegen die verdursteten Zebu-Rinder, Ziegen, Esel und Kamele. Wer von den Frauen, Kindern, Männern noch Kraft hat, macht sich auf den Weg, in eines der vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge und vertriebene Personen eingerichteten Lager.

Zum Beispiel nach Dadaad, auf kenianischem Boden. Dort drängen sich seit drei Monaten über 400 000 Hungerflüchtlinge. Die meistens stammen aus dem benachbarten Südsomalia, wo die mit Al-Quaida verbundenen fürchterlichen Shaabab-Milizen wüten. Platz im Lager gibt es schon lange nicht mehr. Das Tor im Stacheldrahtzaun ist geschlossen. Vor dem Tor machen die UNO-Beamten die Selektion: nur noch ganz wenige – die eine Lebenschance haben – kommen herein.

Das Geld für die intravenöse therapeutische Sondernahrung – die ein Kleinkind, wenn es nicht zu sehr beschädigt ist, in zwölf Tagen zum Leben zurück bringt – fehlt.Das Geld fehlt. Das Welternährungsprogramm, das die humanitäre Soforthilfe leisten sollte, verlangte am 1. Juli für diesen Monat einen Sonderbeitrag seiner Mitgliedstaaten von 180 Millionen Euros. Nur 62 Millionen kamen herein. Das WPF (World-Food-Programm)-Budget lag 2008 bei 6 Milliarden Dollars. 2011 ist das reguläre Jahresbudget noch 2,8 Milliarden. Warum? Weil die reichen Geberländer – insbesondere die EU-Staaten, die USA, Kanada und Australien – viele Tausend Milliarden Euro und Dollar ihren einheimischen Bankhalunken bezahlen mussten: zur Wiederbelegung des Interbanken-Kredits, zur Rettung der Spekulations-Banditen. Für humanitäre Soforthilfe (und reguläre Entwicklungshilfe) blieb und bleibt praktisch kein Geld.

Die Tonne Getreide kostet heute auf dem Weltmarkt 270 Euro. Ihr Preis war genau die Hälfte im Jahr zuvor. Reis ist um 110 Prozent gestiegen. Mais um 63 Prozent. Die Folge? Weder Äthiopien noch Somalia, Djibouti oder Kenia konnten Nahrungsmittelvorräte anlegen – obschon die Katastrophe seit fünf Jahren voraussehbar war. Dazu kommt: Die Länder des Horns von Afrika sind von ihren Auslandsschulden erdrückt. Für Infrastrukturinvestitionen fehlt das Geld.

Viele der Schönen und der Reichen, der Großbankiers und Konzern-Mogule dieser Welt kommen in Salzburg zusammen. Sie sind Verursacher und Herren dieser kannibalischen Weltordnung.

Was ist mein Traum? Die Musik, das Theater, die Poesie – kurz: die Kunst – transportieren die Menschen jenseits ihrer selbst. Die Kunst hat Waffen, welche der analytische Verstand nicht besitzt: Sie wühlt den Zuhörer, Zuschauer in seinem Innersten auf, durchdringt auch die dickste Betondecke des Egoismus und der Entfremdung und der Entfernung. Sie trifft den Menschen in seinem Innersten, bewegt in ihm ungeahnte Emotionen. Und plötzlich bricht die Defensiv-Mauer seiner Selbstgerechtigkeit zusammen. Ins Bewusstsein dringt die Realität. Dringen die sterbenden Kinder.

Wunder könnten in Salzburg geschehen: Das Erwachen der Herren der Welt. Der Aufstand des Gewissens! Aber keine Angst, dies Wunder wird in Salzburg nicht geschehen.

Ich erwache. Mein Traum könnte wirklichkeitsfremder nicht sein! Kapital ist immer und überall stärker als Kunst. »Unsterbliche gigantische Personen« nennt Noam Chomsky die Konzerne. Die total entfesselte, sozial völlig unkontrollierte Profitmaximierung ist ihre Strategie. Es ist gleichgültig, welcher Mensch an der Spitze des Konzerns steht. Es geht nicht um seine Emotionen, sein Wissen, seine Gefühle. Es geht um die strukturelle Gewalt des Kapitals. Gegen das eherne Gesetz der Kapitalakkumulation sind selbst Beethoven und Hofmannsthal machtlos.

»L'art pour l'art« hat Théophile Gautier Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Die These von der autonomen, von jeder sozialen Realität losgelösten Kunst schützt die Mächtigen vor ihren eigenen Emotionen und dem eventuell drohenden Sinneswandel.

Die Hoffnung liegt im Kampf der Völker der südlichen Hemisphäre, von Ägypten und Syrien bis Bolivien, und im geduldigen, mühsamen Aufbau der Radikal-Opposition in den westlichen Herrschaftsländern. Kurz: in der aktiven, unermüdlichen, solidarischen, demokratischen Organisation der revolutionären Gegengewalt. Es gibt ein Leben vor dem Tod.

Der Tag wird kommen, wo Menschen in Frieden, Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit, befreit von der Angst vor materieller Not, zusammen leben werden.

Ich danke Ihnen.

* Diese Version der Rede Zieglers erschien leicht gekürzt in: Neues Deutschland, 27. Juli 2011

Die ganze Rede Zieglers (»Der Aufstand des Gewissens«) erschien im Salzburger Ecowin-Verlag (2,50 Euro)


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