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Gestrandet in Tanger

Der subsaharische Traum, dem Elend zu entkommen und Europa zu erreichen, endet häufig an der Maghreb-Küste. Das Risiko, die Flucht nicht zu überleben, wächst

Von Guillermo Ruiz Torres *

Der heruntergekommene Hafen von Tanger erinnert noch etwas an alte Zeiten. An jene Stadt nämlich, die Intellektuelle aus der westlichen Welt scharenweise angezogen hat auf der Suche nach Freiheit – unter anderem auf der Flucht vor den deutschen Faschisten oder später den Verfolgungen der McCarthy-Ära in den USA. Heute sind es nicht mehr Literaten und Künstler, gierig auf neue Erfahrungen, die in die marokkanische Hafenstadt kommen, sondern Migranten aus den Ländern südlich der Sahara. Sie stammen aus Nigeria, dem Kongo, Senegal, Somalia, sogar aus Südafrika und haben einen beschwerlichen, langen Weg hinter sich. Sie wollen vom »Fluchtpunkt Tanger« aus, dem äußersten Nordwesten Afrikas, irgendwie das gegenüberliegende europäische Festland erreichen. Dazwischen liegt die »Straße von Gibraltar«.

Patrick und Destiny kamen vor acht Jahren aus dem nigerianischen Lagos. »Nichts erwartet mich da, und ich werde nicht zurückgehen, ganz egal, was passiert«, sagt Destiny mit lauter Stimme. Patrick, der sich einst als Bettler in den Straßen der Millionenmetropole am Golf von Guinea durchschlug, begab sich auf die Spuren seines Vaters, der nach Italien emigriert ist. Der junge Mann konnte die Schule nicht beenden; eine Arbeit zu finden war unmöglich – ein typisches Schicksal auf dem Kontinent, dessen Geschichte von Kolonialismus und Plünderung geprägt ist.

Die Landwirtschaft dort dient nicht in erster Linie dem Ziel, die Bauern zu ernähren und die grassierende Armut zu mildern. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden alleine in den vergangenen beiden Jahren 20 Millionen Hektar Grund und Boden in Afrika verkauft oder verpachtet; meistens an transnationale Konzerne. Allein der Sudan hat Tausende Quadratkilometer Ackerland auf lange Zeit in fremde Hände gegeben, zugleich sind fünf Millionen Menschen auf Lebensmittel aus dem Ausland angewiesen. Außerdem versucht unter anderem Brüssel, den afrikanischen Staaten Handelsabkommen aufzuzwingen, um deren Märkte für subventionierte Produkte der Europäischen Union zu öffnen – eine Gefahr für Afrikas Bauern.

Hunger und Hitze

Patricks Beschreibung seiner »Reise« nach Tanger könnte aus einem Abenteuerroman stammen. Wie Tausende anderer Männer, Frauen und Kinder wurde auch er von der Hitze, von Hunger, Durst und Verzweiflung beim Durchqueren der Sahara gepeinigt. »Wir waren etwa 60 Leute, wurden in Autos transportiert; mußten aber auch über weite Strecken zu Fuß laufen. Brot und Wasser reichten nicht. Außerdem versagte ich mir zu essen, weil ich mein Geld, eingepackt in einer kleinen Plastikfolie, im Anus versteckt hatte. Wenn du nicht ißt, hast du keine Notdurft.«

Für die Reise zahlen die Flüchtlinge aus der Subsahara zwischen 3000 und 4000 Euro – das garantiert aber nicht, daß sie diese überleben. Viele verdursten, von ihren Führern verlassen oder von Räuberbanden überfallen. Es gibt Berichte, nach denen es häufig Einheiten der Grenzpolizei der Transitländer sind, die Reisende angreifen, ausrauben und foltern oder Frauen vergewaltigen. Diese Informationen reflektieren die Politik der Transitländer, die auf EU-Druck hin versuchen, die Migrationsströme nach Norden zu verhindern. Patrick und Destiny hatten Glück – sie lernten sich auf dem Weg kennen und haben überlebt. Heute sind sie ein Paar und haben zwei Kinder. Und ihre Kinder fragen, wann die Reise denn weitergeht.

Im Abschiebelager

Anne, eine junge Frau, die ebenfalls aus Nigeria gekommen ist, erzählt mir, ihr Baby im Arm, wie glücklich sie war, als sie am Ende der Reise die Lichter der ersten Stadt sah. Von dem Leben, das sie in Marokko erwartete, hatte sie keine Vorstellung. Dann und wann werden illegale Migranten festgenommen und in das Abschiebelager von Oujda nahe der Grenze zu Algerien transportiert. Meist kommen sie nach einigen Tagen frei und werden aufgefordert, das Land zu verlassen. Eine absurdes Vorgehen, denn die Grenze zum Nachbarn ist seit 1997 geschlossen. Anne erzählt uns, daß sie bereits zwei Mal in das Lager gebracht wurde. »Es war ihnen egal, daß ich mein zwei Wochen altes Baby bei mir hatte; sie hielten mich drei Tage fest, gaben mir nur Wasser und etwas Brot, nichts für mein Kind oder zu waschen. Danach ließen sie mich frei. Ich schlug mich zurück nach Tanger durch, wo ich heute vom Betteln lebe.«

Marokkos Ausländerpolitik wird vor allem durch die Beziehungen des Landes zur EU, insbesondere zu Spanien, bestimmt. Aber es gibt Ausnahmen. Exemplarisch hierfür steht ein diplomatischer Zwischenfall vom August, als marokkanische Bürger Mißhandlungen von Flüchtlingen durch die Grenzpolizei in Madrids nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla anzeigten. In der Folge protestierte die marokkanische Regierung – ein ungewöhnlicher Schritt. Normalerweise haben illegale Migranten keine Rechte. Sie dürfen weder die öffentlichen Verkehrsmittel noch Taxen benutzen. Arbeit für sie ist rar und verboten. Überwachung und Kontrolle sind allgegenwärtig. Kaum ein Unternehmer geht das Risiko ein, Migranten aus der Subsahara irregulär zu beschäftigen, die Geldstrafen sind zu hoch.

Am Rand der Stadt

Die meisten Flüchtlinge wohnen weitgehend ungeschützt in den Armenvierteln am Rand der Stadt. Meist leben acht oder zehn von ihnen zusammen in kleinen Einzimmerwohnungen. Trotzdem können sie mit dem, was sie durch Betteln und kleine Geschäfte verdienen, kaum die Miete bezahlen. Viele der Fremden kommen sich näher. Ehen werden geschlossen. Ihre Kinder wachsen ohne Papiere auf, ohne Grundrechte, ohne Anspruch auf Gesundheitsversorgung oder Schulbildung. Viele von ihnen gehen mit ihren Müttern betteln. Daß sie in einem Land wie Marokko – mit einer Armuts- und Analphabetenrate von 60 Prozent – so überleben, gleicht einem Wunder. »Es ist wirklich erstaunlich«, sagt Patrick, »daß die Menschen trotz der großen Armut überall noch etwas für uns übrig haben. Vielleicht ist es ihre Religion, vielleicht«.

Die Migranten aus der Subsahara bleiben unter sich. Oft bilden sie Gemeinschaften nach dem jeweiligen Herkunftsland. Die meisten sprechen kein Arabisch und haben kaum Kontakt zu Marokkanern. Auch wenn sie seit Jahren in dem Königreich leben, betrachten sie sich als Reisende. Marokko ist für sie eine Zwischenstation. Ihre Gedanken drehen sich darum, wie sie »auf die andere Seite wechseln« können, egal wie, egal wann, egal um welchen Preis. Dafür haben sie ihr Leben riskiert, ihre gewohnte Umgebung verlassen, ihr Geld investiert. Sie schlagen die Zeit tot, indem sie über das Leben sprechen, das sie hinter sich gelassen haben. Und indem sie über das reden, was sie vielleicht erwartet. Sie versuchen, ein normales Leben zu führen, Geburtstage zu feiern und Hochzeiten. Doch irgendwann bietet sich eine Gelegenheit.

Bootspassage

Denis hat ein Schiffsunglück im Oktober 2009 an der spanischen Küste überlebt. 14 Menschen starben, darunter fast alle Frauen und Kinder. Nur die Allerstärksten konnten dem vom Sturm aufgewühlten Meer trotzen, festgeklammert an die Trümmer des Bootes. Die Geretteten wurden von der Polizei erst auf das spanische Festland gebracht und dann umgehend nach Marokko ausgewiesen. Wie schon so oft kümmerte sich der spanische Staat nicht um die Genfer Flüchtlingskonvention. Diese verbietet kollektive Abschiebungen von Flüchtlingen ohne vorherige Prüfung des Rechts auf Asyl. Eine typische Praxis Spaniens, Italiens, Griechenlands und Maltas, deren Küsten die Ziele sind für die Afrikaner, die die gefährliche Fahrt in meist kleinen Booten über das Mittelmeer wagen.

Diese Verletzung internationaler Abkommen wird häufig von Frontex unterstützt und gefördert: der europäischen Agentur für die »Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union«. So leitet sie beispielsweise Informationen an nationale Grenzpolizisten weiter, die wiederum die Boote auf hoher See abfangen und die Migranten umgehend ausweisen. Frontex hat Kooperationsabkommen mit Marokko, Mauretanien, dem Senegal und den Kapverdischen Inseln abgeschlossen, die es ermöglichen, an deren Küsten zu patrouillieren und den Migranten den Seeweg abzuschneiden.

Im Keim ersticken

Währenddessen versucht die EU, ihren Druck sowohl auf Marokko als auch auf die Herkunftsländer des überwiegenden Teils der Migranten zu erhöhen. Brüssel fordert: Die Staaten sollen ihre Grenzkontrollen verstärken; und sie sollen die Migration nach Europa im Keim ersticken. Ein Beweis hierfür ist das Abkommen zwischen der EU und Rabat vom 13.Oktober 2008, in dem das Königreich eine politische und ökonomische Vorzugsbehandlung durch Brüssel garantiert wird. Zugleich sieht es auch eine Fülle von Maßnahmen gegen Flüchtlinge vor, die Marokko umsetzen muß. Der westafrikanische Staat wird so zu Brüssels »Maghreb-Gendarm«. Dessen Wirken bleibt nicht folgenlos: Die Zahl der Versuche afrikanischer Migranten, an europäische Küsten zu gelangen, ist stark zurückgegangen. Sie verringerte sich, so das Innenministerium in Rabat, von jährlich zwischen 31000 und 36000 zu Beginn des neuen Jahrtausends auf der etwa 13000 bis 14000.

Trotzdem bewahren sich viele Menschen in den subsaharouischen Staaten den Traum von Europa: Er handelt vor allem von Arbeit, Bildung, Wohnen und ausreichender Nahrung und hat häufig nicht viel mit dem zu tun, was die Menschen dann tatsächlich in Europa erwartet.

So oder so wird der Weg aufwendiger, seit die Kontrollen an den leichter zugänglichen Küstenstreifen verschärft wurden. Die Reiserouten werden länger und die Überfahrten in den kleinen Booten mit jedem Mal gefährlicher. Die Afrikaner wissen darum aus erster Hand. Sie kennen die Erzählungen von Überlebenden. Trotzdem bleibt der Wunsch, die Mittel für die Flucht aus dem Elend aufzutreiben und das Meer zu überqueren. Laut Recherchen des Vereins »Pro Derechos Humanos de Andalucía« sind im Jahr 2009 beim Versuch, die Straße von Gibraltar zu überqueren und das spanische Festland zu erreichen, 101 Menschen gestorben und 105 verschollen. Dabei handelt es sich um Schätzungen, andere Experten setzen die Dunkelziffer höher an. Dazu kommen die Menschen, die beim Versuch starben, griechische, italienische und maltesische Gefilde zu erreichen.

Zur Umkehr gezwungen

Vielleicht kann Denis sich glücklich schätzen, daß sein Boot vor der spanischen Küste gekentert ist. Manche Überlebende gaben an, daß ihnen die nationalen Grenzpatrouillen verweigerten, an Land zu gehen. Sie wurden teilweise mit Waffengewalt gezwungen, umzudrehen und an ihren Ausgangsort zurückzukehren. Manches Boot kenterte während der einer solchen Rückkehr. Allerdings konnten die Schiffbrüchigen nicht genügend Beweismittel beschaffen, um Verantwortliche vor Gericht zu bringen.

Sichtlich bewegt und mit den Armen in der Luft fuchtelnd sagt Patrick: »Es macht keinen Sinn, die Überfahrt im Boot mit meiner Frau und meinen Kindern zu versuchen. Aber wir haben doch keine andere Möglichkeit... Wir werden es tun.« Er wirkt verzweifelt: »Wohin sollten wir denn zurückkehren? Nach Nigeria? Unmöglich, dort haben wir niemanden, und vielleicht sterben wir, oder sie töten uns in der Wüste. Wir können nur weitermachen.« Und warten und hoffen.

Die im Text erwähnten Interviewten bleiben wegen ihres illegalen Status anonym. Sie sind dem Autoren bekannt.

* Aus: junge Welt, 31. Dezember 2010


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