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Westen bleibt beim "Weiter so"

Abzug der Besatzungstruppen aus Afghanistan wird nicht beschleunigt

Von Knut Mellenthin *

Die westlichen Regierungen wollen trotz wachsenden Widerstands in Afghanistan und zunehmender Ablehnung des Krieges durch ihre eigene Bevölkerung den Abzug ihrer Besatzungstruppen nicht beschleunigen. Das war am Montag und Dienstag (12./13. März) der Grundtenor ihrer Reaktionen auf die Ermordung von 16 Afghanen durch einen oder mehrere US-Soldaten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel deutete bei einem Kurzbesuch im nord­afghanischen Masar-i-Scharif am Montag sogar die Absicht an, das deutsche Militärkontingent über den für Ende 2014 vereinbarten Abzugstermin hinaus im Lande zu lassen. Indessen gab US-Präsident Barack Obama den in der NATO derzeit vorherrschenden Ton an, indem er in einem Radiointerview vor einem »Wettlauf zu den Ausgängen« warnte. Der Rückzug der westlichen Allianz aus Afghanistan solle nach dem 2010 in Lissabon beschlossenen Zeitplan, zugleich aber »in verantwortungsvoller Weise« vor sich gehen. Diese Formel wird normalerweise so gebraucht und verstanden, daß sie Verzögerungen einschließt.

Bislang steht nur fest, daß im September 22000 bis 30000 amerikanische Soldaten abgezogen werden sollen. Das entspricht lediglich der von vornherein zeitlich befristeten Verstärkung, die Obama im November 2009 angeordnet hatte. Danach werden immer noch 68000 Angehörige der US-Streitkräfte in Afghanistan bleiben. Es gibt bisher keinen öffentlich bekannten Zeitplan für weitere Reduzierungen. Festzustehen scheint lediglich, daß bis Ende 2014 alle Kampftruppen der NATO Afghanistan verlassen sollen. Aber auch danach sollen Tausende von US-amerikanischen Soldaten und Offizieren als »Ausbilder« und »Berater« im Lande bleiben. Die britische Regierung will sich dieser Taktik anschließen.

Ungewiß ist die Zukunft der afghanischen Sicherheitskräfte. Als Ausdruck ihrer angeblich erfolgreichen »Afghanisierungsstrategie« hat die NATO in den vergangenen Jahren, besonders nach Obamas Amtsantritt 2009, deren Aufblähung auf demnächst 350000 Mann erzwungen. Die notleidende Volkswirtschaft des Landes ist aber nicht einmal entfernt in der Lage, die Kosten dieses stehenden Heeres zu tragen. Auf der anderen Seite ist ungewiß, wie viele Jahre die NATO-Staaten die afghanische Armee noch finanzieren wollen. Es wird damit gerechnet, daß die Personalstärke nach 2014 drastisch heruntergefahren werden könnte – was allerdings große soziale Probleme zur Folge haben würde.

Unterdessen gab es am Dienstag (13. März) in einigen Teilen Afghanistans Proteste gegen den Massenmord vom Sonntag. In der ostafghanischen Stadt Dschalalabad demonstrierten mehrere hundert Studenten unter Parolen gegen die USA und Obama. Am Ort der Bluttat, nahe der Stadt Kandahar, beschossen unbekannte Scharfschützen eine Regierungsdelegation, die an der Trauerfeier teilnehmen wollte.

* Aus: junge Welt, 14. März 2012


Opfer klagen an

Afghanistan: Dorfbewohner sahen mindestens zwei Täter beim Massaker vom Sonntag **

Bei einer Bombenexplosion im Süden Afghanistans sind am Mittwoch (14. März) acht Zivilisten getötet worden. Wie ein örtlicher Behördensprecher am Mittwoch mitteilte, ereignete sich der Anschlag auf einer Straße in der Provinz Helmand in der Nähe des US-Militärlagers Camp Bastion, wo US-Verteidigungsminister Leon Panetta am Morgen zu einem unangekündigten Besuch eingetroffen war. Demnach explodierte der Sprengsatz, als ein Kleinbus die Straße passierte. Bei einem weiteren Anschlag mit einer an einem Motorrad befestigten Bombe in der Stadt Kandahar starb mindestens ein Mensch, zwei weitere wurden verletzt.

Bei einem Besuch in Kabul hat Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) den Plan für den Abzug aus Afghanistan-Abzug bis Ende 2014 bekräftigt. Das »deutsche Engagement« bleibe »zuverlässig«, sagte de Maizière am Mittwoch nach einem Treffen mit seinem afghanischen Kollegen Abdul Rahim Wardak. Deutschland werde jedoch über das Jahr 2014 hinaus »an der Seite des afghanischen Volkes« stehen, unterstrich de Maizière. Das bedeute einen Beitrag der Bundeswehr für die weitere Ausbildung der afghanischen Armee wie auch ein »finanzielles Engagement für die nachhaltige Finanzierung afghanischer Sicherheitskräfte«.

In der Union verschärft sich derweil die Diskussion um den Afghanistan-Krieg. »Ein Abzug ist auch vor dem Jahr 2014 möglich«, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Börnsen der taz. (Donnerstagausgabe): Der CDU-Politiker bezeichnete die Bundeswehrbeteiligung als »Fehler«. »Die NATO-Partner haben nicht aus der Geschichte des Landes Afghanistan gelernt. Das Land ist wegen seiner besonderen geographischen und kulturellen Gegebenheiten nicht von außen zu befrieden.«

Unterdessen stellen Angehörige der Opfer des Massenmords vom Sonntag die Einzeltäterthese der US-Armee immer nachdrücklicher in frage. In zwei Dörfern waren 16 Menschen, darunter neun Kinder und drei Frauen, im Schlaf überrascht und erschossen worden. Die US-Streitkräfte halten einen 38jährigen Stabsunteroffizier in Haft. Dieser soll sich von seinem Stützpunkt entfernt haben, zu den Dörfern marschiert sowie in die Häuser eingedrungen sein und das Feuer eröffnet haben soll. Laut Aussagen der Angehörigen waren jedoch mindestens zwei Soldaten an den Überfällen beteiligt. Dies machten sie gegenüber einer Regierungsdelegation aus Kabul deutlich, die am Dienstag den Ort des Massakers aufsuchte.

Dorfbewohner berichteten zudem, sie hätten in der fraglichen Nacht Hubschrauber über Balandi, der Ortschaft, in der das Blutbad begann, kreisen sehen. Sie übergaben Delegationsmitgliedern leere Leuchtkörper, die die Hubschrauberabgeworfen hätten, um die Gegend zu erhellen. Ein NATO-Sprecher in Kabul behauptete, es habe zur Zeit der Schießerei in den beiden Dörfern keinen Kampfeinsatz oder Luftunterstützung gegeben.

** Aus: junge Welt, 15. März 2012


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