Verwilderte Rosen in Paktia
Was von einem Entwicklungsprojekt in Afghanistan geblieben ist
Von Hans Wallow *
Deutschen Regierungspolitikern ist im Wahljahr kein Trick zu schade, um ihre Machtlosigkeit
gegenüber der USA-Regierung und einer zunehmend politisierenden NATO-Generalität zu
verschleiern.
Zunächst wurde das ISAF-Mandat für die Bundeswehr nicht wie bisher um 12, sondern um 14
Monate verlängert – bis Ende 2009, also nach dem Wahltag. Dann verschob die afghanische
Regierung klammheimlich – so die offizielle deutsche Lesart – die Grenzen der Nordprovinz
(Einsatzgebiet der Bundeswehr) in Richtung der umkämpften östlichen Provinz Paktia (bisher USAZone),
wo weitgehend aufständische Paschtunen herrschen. Undenkbar, dass Berlin dazu nicht
konsultiert wurde. Hoffen die Militärbürokraten etwa, durch mehr Kampfeinsätze den Weichei-Makel,
der den Deutschen anhängt, loszuwerden? Inzwischen hat sich der Bundesverteidigungsminister
dafür ins Zeug gelegt, dass die NATO ihre AWACS-Flugzeuge nach Afghanistan schickt. Was als
Beitrag zur zivilen Luftsicherheit dargestellt wird, dürfte in Wirklichkeit einem intensivierten Bodenund
Luftkrieg dienen. Wie schon vor dem Krieg gegen Jugoslawien werden Parlament und
Stimmvolk durch machtpolitisch motivierte Manipulationen betrogen.
Wiedersehen mit Abdul Ahmud
Für mich ist das alles Anlass, den Paschtunen Abdul Ahmud in Frankfurt am Main zu treffen. Abdul
war in den 70er Jahren der Fahrer von Dr. Lampe, dem Leiter eines landwirtschaftlichen
Großprojekts der deutschen Entwicklungshilfe in Khost. Der schwarzbärtige Hüne stammt aus einer
angesehenen Landbesitzerfamilie in Marsak (Provinz Paktia), die unter Blutrache stand. Sein Bruder
hatte bei einer Schlägerei im Nachbardorf einen Familienvater getötet. Bei »Dr. Napoleon« – so
nannten die Afghanen Lampe – sollte Abdul Ahmud Schutz finden.
»Wilder Abdul« hieß der junge Mann bei zehn Agrarexperten und 300 weiteren Mitarbeitern des
Projekts. Besucher schockierte er mit seinem Gleichmut gegenüber dem Tod. Er lächelte sogar, als
er sagte: »Ich weiß, dass sie mich eines Tages erwischen. Aber vorher nehme ich noch zwei von
denen mit.« Dabei schlug er auf das offene Futteral seiner Beretta, die an seinem Patronengurt
baumelte.
Abdul liebte es, Besucher aus Bonn bei den Fahrten durch das riesige Projektgebiet mit seinen
Weltsichten zu traktieren. »Gitler« (Hitler) wäre ein guter Mann und in Paktia sicher versteckt
gewesen. Widerspruch war fruchtlos. Er grinste nur überlegen. Auf seinem Jeep, mit dem er damals
auf den unbefestigten Straßen vorbei an Obstplantagen, Gärten und neu angelegten Kanälen zum
deutschen Aufforstungsprojekt in 2000 Meter Höhe jagte, prangte überall die schwarz-rot-goldene
Flagge mit der Aufschrift »Afghan-german agriculture centre«. Denn in den dichten Tälern und
Tannenwäldern patrouillierten die Beschützer der Holzschmuggler, die auf Kamelen wertvolle
Zedern in schier endlosen Kolonnen nach Pakistan schmuggelten. Sie schossen schon damals auf
alle Fremden – außer die in Paktia beliebten Deutschen.
Der »wilde Abdul« brachte dann doch niemanden mehr um. Projektleiter »Dr. Napoleon« legte die
Fehde der beiden Familien gegen Zahlung einer Kuh und zweier Schafe bei. Abdul absolvierte einen
Polizeilehrgang bei deutschen Ausbildern in Kabul, floh nach dem Einmarsch der sowjetischen
Truppen nach Pakistan und anschließend nach Frankfurt am Main. Dort fuhr er später Taxi.
Nun steht er vor dem Café im Frankfurter Hauptbahnhof, mit eisgrauem Bart, dunklem Anzug und
der flachen erdbraunen Paschtunenmütze aus Filz auf dem Kopf. Eine stumme Umarmung. Abdul
Ahmud, der aus seinen immer noch wachen dunkelbraunen Augen verlegen durch die tiefen Falten
in seinem Gesicht lächelt, freut sich offenbar.
Was gibt es Neues in Khost? Was macht das Projekt? – »Da ist Krieg. Die haben alles, die Pfirsichund
Feigenbäume und den Gemüseanbau kaputt gemacht. Ein paar verwilderte Rosen stehen noch,
mit denen wir ursprünglich eine Rosenölproduktion als Ersatz für den Opiumanbau aufziehen
wollten«, sagt er mit unverkennbar hessischer Spracheinfärbung und berichtet, dass sich inzwischen
US-Amerikaner in den Häusern und Gästewohnungen der deutschen Entwicklungshelfer eingeigelt
hätten. Von dort aus flögen sie mit ihren Hubschraubern Angriffe in das dicht besiedelte Grenzgebiet
zu Pakistan. Sobald sie auf Widerstand stießen, schickten sie per Funk Bomber los. »Die treffen nie
die Rebellen, sondern immer nur unsere Leute«, sagt er bitter.
Als seine Mutter kürzlich in Frankfurt war, um ihren Sohn noch einmal zu sehen, erzählte sie von
vielen Toten, auch in der Verwandtschaft. Ein Neffe, der für die Amerikaner als Dolmetscher
arbeitete, sei von Aufständischen auf dem Weg nach Kabul aus dem Bus gezerrt und am
Straßenrand erschossen worden. Er hatte nur sein Gehalt von der Bank abheben wollen, das von
den Amerikanern überwiesen worden war. Die fliegen zwar täglich nach Kabul, nehmen aber keine
afghanischen Mitarbeiter an Bord. Sie sind nur an ihrer eigenen Sicherheit interessiert. Daran werde
auch der »kleine Bush«, so nennt er Obama, nichts ändern.
Ob er an Frieden unter Barack Obama glaube? Abdul schüttelt den Kopf und sagt nachdrücklich:
»Erst müssen die Verbrecher aus der Regierung in Kabul raus, dann sollen die Amis sich
zurückziehen.«
Und die Taliban? Er bestreitet, dass es die als geschlossene militärische Formation überhaupt gibt.
Nach seiner Auffassung ist es nie gelungen, die ehemaligen Bürgerkriegsparteien zu entwaffnen. Es
gebe islamistische und nationalistische Paschtunen, lokale Milizen, Drogenhändler, autonome
Antizentralisten und natürlich Al-Qaida-Terroristen und Dschihadisten aus dem Ausland. Er schätzt
die Zahl der bewaffneten illegalen Gruppen auf über 2000. Ehemalige Polizeikollegen, zu denen er
noch Kontakt hat, glauben, dass die Zahl der aktiven Kämpfer sich auf etwa 200 000 beläuft.
Ob die deutsche Bundeswehr durch die Grenzverlegung im Norden in paschtunischem Gebiet
stärker gefährdet sei als vorher? »Das kommt darauf an, was sie machen«, erwidert Abdul mit einem
Stirnrunzeln. »Wenn die wie in Kundus mit den Mullahs reden, genug Bakschisch da lassen und
nach links gucken, wenn rechts an den Straßen der Mohn blüht, und vor allem niemanden töten,
dann tut ihnen niemand was.« Andernfalls? Er holt aus: »Die Dünnbärtigen (Tadshiken) und auch
die Hazaras sind käuflich. Wir Paschtunen haben aber noch eine Ehre.« Aber die halten doch auch
die Hand auf. Er lacht: »Ja sicher, wie die Christen im Frankfurter Bankenviertel; nur nennt man das
hier ›Lohn‹. Wir Paschtunen sind ein altes, stolzes Herrschervolk. Mit uns zu reden ist Ausdruck von
Respekt. Ein Paschtune vergisst keine Beleidigung. Dr. Napoleon wusste das. Nachdem er
jemanden angeschnauzt hatte, trank er stundenlang Tee mit ihm und erklärte seine Wut. Nur
deshalb waren wir in Paktia so erfolgreich. Wir Afghanen haben unendlich viel Zeit. Sie wissen doch
noch: Als wir damals Ihren Teppich kauften, mussten wir den ganzen Tag mit dem Händler Tee
trinken und reden. Fremde Soldaten oder gar Politiker verstehen das nicht. Aber darauf beruht die
Taktik des Abnutzungskriegs.«
Die Paschtunen sind wie die Bayern ein auf Unabhängigkeit bedachtes Bergvolk. »Wir wollen lieber
rückständig, aber frei leben als unter einer NATO-Besatzungsmacht.« Aber Hamid Karsai, der
Präsident, ist doch auch ein Paschtune? »Das ist ein US-Afghane, den sie zu Hause ›Amerikas
Pudel‹ nennen«, sagt Abdul. »Den Stammesbrüdern in Westpakistan stehen die Paschtunen immer
noch näher als den afghanischen Ta-dshiken, Usbeken und Hazaras. Aber allen gemeinsam ist,
dass sie den Zentralstaat in Kabul als Korruption in Verwaltung, Militär und Polizei erleben. Wenn
die in Bildung, im Gesundheitswesen oder im sozialen Bereich etwas tun müssen, dann überlegen
sie sofort, welches Land das bezahlen soll. Von den Hilfsgeldern stecken sie sich dann 60 bis 90
Prozent in die eigene Tasche.« Ist das belegbar? »Natürlich nicht, aber jeder weiß doch, wer die
schönsten Villen in Kabul bewohnt, die dicksten Autos fährt, Auslandskonten unterhält, die Kinder in
teure Schweizer Internate schickt. Das spricht sich doch in jeden Winkel des Landes, von den
Entwicklungshelfern bis zu den Auslandsafghanen in Europa herum. Vor jedem Frieden müssen die
Parasiten und Verbrecher in der Regierung von Kabul verschwinden.« In Abduls Augen funkelt
Hass.
Mit dem Rücken zur Zukunft
Abduls Einschätzung deckt sich weitgehend mit der Realität in Afghanistan. Die Gewalt steigert sich
jede Woche. Mehrheitlich kommen durch die Luftangriffe der US Air Force Zivilisten ums Leben. Im
umkämpften Land herrscht eine hoffnungslose bis explosive Stimmung. Und NATO-Generalsekretär
Jaap de Hoop Scheffer kündigt lauthals an: »Wir werden mehr Opfer auf allen Seiten sehen.«
Ein junger USA-Präsident setzt auf alte Methoden. Er will Al Qaida auch in Pakistan und Afghanistan
»zerreißen, zerstören und besiegen«. Das Zielgebiet der Generäle heißt denn auch »AfPak«, also
das Siedlungsgebiet der Paschtunen beiderseits der Staatsgrenzen. Genauer: die Schmugglerpfade
im Grenzgebiet von Paktia und Pakistan, wo noch vor wenigen Jahren deutsche Förster und deren
afghanische Mitarbeiter verkarstete Hänge aufforsteten. Die amerikanische Regierung hat aus den
Niederlagen in Vietnam, Somalia und Irak offenbar nichts gelernt. So steht Barack Obama in der
Afghanistan-Frage mit dem Rücken zur Zukunft.
* Aus: Neues Deutschland, 16. Juni 2009
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