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Stichwahl wird zur Solonummer

Nach Rückzug Abdullahs will Afghanistans Präsident allein kandidieren

Nach dem Rückzug seines Herausforderers Abdullah Abdullah aus der Stichwahl will sich der afghanische Präsident Hamid Karsai als einziger Kandidat der Abstimmung stellen. Derweil wurde berichtet, die Bundesregierung habe die NATO zu einer zurückhaltenden Beurteilung des Luftangriffs auf zwei Tanklaster in Afghanistan gedrängt.

»Die Umsetzung der Verfassung ist ein Muss«, sagte Karsai am Sonntag. »Deswegen müssen wir die Wahl wie von der Verfassung vorgeschrieben abhalten.« Abdullah hatte zuvor unter Verweis auf erneut drohende Manipulationen bei der zweiten Wahlrunde seinen Boykott angekündigt. »Ich werde an der Wahl am 7. November nicht teilnehmen«, sagte er. Eine »transparente Wahl« sei nicht möglich.

Karsai erklärte, er werde alle Entscheidungen der Wahlkommission (IEC) über den weiteren Verlauf akzeptieren. Die IEC gilt als parteilich für Karsai. IEC-Sprecher Nur Mohammad Nur sagte, die IEC gehe weiter von einer Stichwahl aus, bei der nur noch der Amtsinhaber kandidieren würde. Die sechs Kommissionsmitglieder kämen aber an diesem Montag zu Beratungen zusammen. Die USRegierung, die zurzeit über eine neue Afghanistanstrategie samt einer Truppenaufstockung berät, spielte die Bedeutung von Abdullahs Schritt herunter. Sie glaube nicht, dass ein Rückzug in irgendeiner Weise die Legitimität der Wahl beeinträchtige, sagte Außenministerin Hillary Clinton.

Beachten Sie auch die Meldungen vom 30. Okt. bis 2. Nov. in unserer tagesaktuellen Afghanistan-Chronik



Abdullah hatte erfolglos gefordert, dass Karsai den IEC-Chef und drei Minister wegen Wahlbetrugs ablöst. Der Ex-Außenminister befürchtete bei der Stichwahl eine Wiederholung der Manipulationen, zu denen es bei der ersten Runde am 20. August gekommen war und von denen vor allem Karsai profitiert hatte. Dem Herausforderer waren bei der Stichwahl wenig Chancen eingeräumt worden. Die Bundesregierung hat nach Informationen des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« die NATO zu einer zurückhaltenden Beurteilung des Luftangriffs auf zwei Tanklaster in Afghanistan gedrängt.

Trotz Fehlern des deutschen Kommandeurs Oberst Georg Klein habe Berlin sich gegen eine deutliche Verurteilung gewandt, berichtet das Blatt. Das Verteidigungsministerium in Berlin wollte die Vorwürfe nicht kommentieren.

Laut »Spiegel« machten sich Vertreter der Bundesregierung bei der NATO für eine zurückhaltende Beurteilung Kleins in dem Untersuchungsbericht zur Bombardierung der Tanklaster in Kundus stark. Sie gaben dem NATO-Oberkommandierenden in Europa, Admiral James G. Stavridis, demnach Mitte Oktober bei seinem Besuch in Berlin zu verstehen, dass eine deutliche Verurteilung von Klein in Deutschland zu juristischen Problemen führen könnte. Klein hatte am 4. September den Einsatz befohlen, bei dem auch zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen sein sollen.

Laut NATO-Untersuchungsbericht habe Klein sich nicht an das sogenannte Standard- Einsatzverfahren gehalten, schrieb der »Spiegel«. So habe er die Luftunterstützung mit der Begründung angefordert, seine Truppen hätten »Feindberührung«, obwohl sich keine ISAF-Soldaten in der Nähe der Tanklaster aufhielten.

* Aus: Neues Deutschland, 2. November 2009


Aufs falsche Pferd gesetzt

Von Rainer Rupp **

Nicht nur die US-Militärstrategie am Hindukusch ist ein Scherbenhaufen, auch politisch steht Washington in Afghanistan vor einem Desaster. Der US-Hoffnungsträger, Abdullah Abdullah, hat sich am Wochenende sechs Tage vor der Stichwahl um das Amt des Präsidenten zurückgezogen. Der Grund: Präsident Hamid Karsai sei nicht bereit - wie von Abdullah gefordert - die Hauptverantwortlichen für den massiven Betrug im ersten Wahlgang zugunsten des Amtsinhabers davonzujagen. Mit der Befürchtung, daß es auch am kommenden Wochenende keine saubere Abstimmung gibt, liegt Abdullah sicher richtig. Aber Abdullah hatte ohnehin keine Chance. Auch nach Abzug der gefälschten Stimmen waren für ihn nur 30,5 Prozent (Karsai 49,6 Prozent) abgegeben worden. Abdullah will mit seinem Rückzug offensichtlich Zeit gewinnen und die Verschiebung der Stichwahl auf das Frühjahr erreichen. Aber Karsai will die Stichwahl wie geplant am Wochenende durchziehen. Dabei habe er sich laut einem US-Diplomaten, der bei den Gesprächen dabei war, »höllisch aggressiv« gezeigt.

Weil Karsai in letzter Zeit als Marionette nicht mehr spurte, wie er sollte, war seine Regierung im Westen systematisch demontiert worden. Zwar sind die Vorwürfe von Korruption und Machtmißbrauch begründet, aber diese charakterisierten die Regierung Karsai nicht erst im letzten Jahr, sondern von Anfang an. Von den Präsidentschaftswahlen erhofften sich indes insbesondere die USA nicht nur neuen Schwung im Krieg am Hindukusch, sondern auch eine - wenn auch nur pro forma - demokratisch legitimierte Regierung in Kabul. Zugleich sollte Karsai durch den von Washington betriebenen Aufbau des Gegenkandidaten Abdullah dazu bewogen werden, den Kandidaten der Amerikaner nicht nur in die Regierung aufzunehmen, sondern an ihn auch weitreichende, bisher nur dem Präsidenten zustehende Befugnisse abzutreten, aber Karsai weigerte sich kategorisch.

Die Ereignisse vom Wochenende zeigen jedoch, daß nicht nur Karsai sich quer stellt, sondern auch Abdullah nicht die ihm zugedachte Rolle spielt. Denn wenn dieser jetzt von der Stichwahl zurückgetreten ist, dann bedeutet das, daß Karsai trotz Wahlbetrugs im Amt bleiben und den Amerikanern und der EU mit Blick auf die eigene Öffentlichkeit zu Hause ein glaubwürdiger Partner fehlen wird. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sowohl in den USA als auch in anderen NATO-Ländern wegen der zunehmenden Opfer unter den westlichen Besatzungstruppen verstärkt die Frage nach dem Sinn des Krieges am Hindukusch gestellt wird.

Derweil zitierte der Generalinspekteur der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan am Wochenende aus einem streng geheimen Bericht der NATO, der die deutsche Afghanistan-Mission im Zusammenhang mit dem von einem deutschen Oberst am 4. September angeforderten tödlichen Luftangriff auf zwei Tanklaster angeblich entlastet. Da der Bericht der NATO, die das Vorgehen der Deutschen seinerzeit heftig kritisiert hatte, nicht öffentlich ist, kann niemand kontrollieren, ob Schneiderhan nicht selektiv zitierte. Dem obersten deutschen Militär sollen keine »Unbeteiligten« (ein völkerrechtlich nicht existierender Begriff) getötet worden sein, und die Zahl der Toten soll zwischen 14 und 142 Opfer liegen. Augenzeugen hatten damals berichtet, daß Einwohner eines nahen Dorfes mit Töpfen und anderen Behältnissen massenhaft Benzin aus den liegengebliebenen Tankwagen abzapften, als die NATO-Bomben fielen. Dennoch hielt Schneiderhan das Vorgehen der Bundeswehr für »militärisch angemessen«.

** Aus: junge Welt, 2. November 2009


Traurige Wahl

Von Detlef D. Pries **

Kai Eide hat es schwer. Der Norweger, seines Zeichens UN-Sondergesandter für Afghanistan, hatte sich alle Mühe gegeben, den großflächigen Betrug in der ersten Runde der afghanischen Präsidentenwahl

herunterzuspielen. Sein Stellvertreter Peter Galbraith wurde sogar gefeuert, weil er Eides Taktik der Verharmlosung nicht decken wollte. Half aber nichts: Die »Irregularitäten« waren so zahlreich, dass sich der vermeintliche Wahlsieger Hamid Karsai schließlich mit der Herabsetzung seines Stimmenanteils von 54 auf 49,67 Prozent abfinden und in eine Stichwahl einwilligen musste. Man ahnt, welche Mühe Eide auch dafür aufgewendet hat. Dabei wollte und konnte er nicht einmal garantieren, dass die zweite Stichwahl am 7. November ehrlicher als die Abstimmung am 20. August ablaufen würde. Eben deshalb hat Karsais Rivale Abdullah Abdullah nun auf die Stichwahl verzichtet: Er fürchtet, dass die zweite Runde »noch schlimmer als die erste« wird. Eide findet das verständlicherweise »traurig«. Waren doch alle Mühen vergebens. Der Versuch der »internationalen Gemeinschaft«, dem Präsidenten Afghanistans durch Wahlen westlichen Stils Legitimität zu verschaffen, ist gescheitert. Das Einmannspektakel, das dennoch am 7.November stattfinden soll, ist sein Geld nicht wert, denn es befreit Karsai nicht vom Makel des Wahlbetrugs. Landeskenner halten eine Loja Dschirga, die traditionelle Stammesversammlung, für die einzige Rettung Afghanistans.

*** Aus: Neues Deutschland, 2. November 2009 (Kommentar)


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